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Autor Jens Rehde
Datum 16.11.03, 16:12
Betreff Sollen schon Vierjährige zur Schule?


Quelle: http://www.lvz.de/lvz-heute/81346.html



© Leipziger Volkszeitung vom Samstag, 15. November 2003

Sollen schon Vierjährige zur Schule?


Leipzig. Ab wann sollen und können Kinder eingeschult werden? Bereits ab vier, meint Katherina Reiche, bildungspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Schon im Alter zwischen vier und sechs Jahren, so die zweifache Mutter, würden Kinder besonders schnell und leicht lernen. Das Vorschulalter sei eine Zeit verstärkter Wissbegierde. Demgegenüber vertritt Josef Kraus, Oberstudiendirektor und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, die Ansicht, dass eine Einschulung in diesem Alter einer Entmündigung der Eltern sowie einer nicht vertretbaren Belastung der Kinder gleichkommt.

PRO:
Kinder sind keine Fässer, die gefüllt werden, sondern Feuer, die entfacht werden wollen." (Montaigne). Dieser Maxime folgen wir im deutschen Bildungssystem zu wenig. Ein wesentliches Manko ist die späte Einschulung unserer Kinder. Im Durchschnitt sind sie am ersten Schultag 6,7 Jahre alt. Das ist zu spät. Hirnforscher fanden heraus, dass Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren besonders schnell und leicht lernen. Viele Eltern erleben die Wissbegierde ihrer Kinder im Vorschulalter. Die Kleinen können es kaum erwarten, erste Wörter zu lesen und ihren Namen zu schreiben. Diese Begeisterung für Neues muss früher genutzt und entwickelt werden. Sonst nehmen wir den Kindern die Freude am Lernen und treiben ihnen die Neugier aus.

Durch die späte Einschulung in Deutschland werden auch Sprachdefizite von Kindern oft zu spät entdeckt. Migrantenkindern würde eine frühe Einschulung das Erlernen der deutschen Sprache deutlich erleichtern.

Die starre Stichtagsregelung, nach der heute eingeschult wird, gehört abgeschafft. Durch diese Regelung werden Kinder nur mit Blick auf ihr Geburtsdatum eingeschult. Ihre Reife und ihre individuellen Kenntnisse bleiben völlig außer Acht. Aus der Verschiedenheit der Herkunft und der Fähigkeiten der Kinder erwächst die Einsicht, dass Schulfähigkeit schwerlich eine Eigenschaft ist, die sich an einem bestimmten Stichtag feststellen lässt.

Deshalb muss die Einschulung vorgezogen und flexibilisiert werden. Kein Kind soll mit vier in die Schule müssen, aber es soll die Chance dazu haben. Die französische Ecole Maternelle oder die englische Preschool beweisen erfolgreich die Verbindung von Lernen und Spiel.

Die Bedeutung des Spiels muss nicht angetastet werden, da eine altersgerechte und spielerische Weise des Lernens möglich ist. Dazu gehören zum Beispiel die Sprach-, die Bewegungs- sowie die musische Entwicklung.

Um der Herausforderung der Verkürzung der Ausbildungswege zu begegnen, brauchen wir schon jetzt eine stärkere Verzahnung zwischen Kindergarten und Grundschule und eine Weiterentwicklung der Kindergärten zu Bildungsstätten, um im Sinne Montaignes "die Feuer zu entfachen".

Katharina Reiche

CONTRA:
Die von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft beim Baseler Prognos-Institut in Auftrag gegebene Bildungsstudie hat sich, auch wenn sie ein paar nachdenkenswerte Impulse enthält, mit einer einzigen Kernforderung selbst diskreditiert, nämlich mit der Forderung nach einer Einschulung der Kinder mit vier Jahren.

Eine solche Einschulung ist politisch-staatsbürgerlich, verfassungsrechtlich und pädagogisch höchst bedenklich. Erstens würde damit die Erziehung kleiner Kinder weitgehend verstaatlicht; mit einem so massiven Zugriff des Staates auf die Kindheit ist in der Geschichte noch kein Staatssystem gut gefahren.

Zweitens ist ein solcher Zugriff verfassungsrechtlich höchst bedenklich, denn er entmündigt de facto die Eltern; schließlich ist die Erziehung der Kinder laut Grundgesetz das vornehmste Recht der Eltern. Schule kann zudem gar nicht leisten, was häusliche Erziehung leisten kann.

Drittens sind die Kinder mit vier Jahren nicht schulfähig: Es fehlt ihnen an physischer und psychischer Belastbarkeit, an Konzentrationsvermögen und an der sozialen Reife für einen Schulbesuch.

Mit der Forderung nach einer Einschulung mit vier Jahren bleibt die Pädagogik endgültig auf der Strecke. Der humane Grundsatz, dass Bildung und Erziehung kindgerecht zu sein haben, wird damit auf dem Altar eines blanken Ökonomismus geopfert. Wenn aber beispielsweise die Rentenpolitik versagt hat, dann kann man das nicht auf dem Rücken von Vierjährigen austragen. Aufgabe von Erziehung und Bildung ist es schließlich nicht, Heranwachsende möglichst rasch auf ihre volkswirtschaftliche Verwertung abzurichten. Völlig hanebüchen wird es, wenn man dieses Konzept hochrechnet, denn dann müssen die Dreizehn- und Vierzehnjährigen in den Beruf und die Sechzehnjährigen an die Universität. Kindheit und Jugend werden damit abgeschafft, für Bildung im weiteren Sinn bleibt dann keine Zeit mehr.

Insgesamt ist diese so genannte Bildungsstudie von Prognos erneut ein Beleg dafür, dass in Sachen Bildung in Deutschland derzeit die blanke Panik und die Profilierungssucht eines Experten-Unwesens regieren.

Josef Kraus






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