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Autor Elternsprecher Gundorf
Datum 31.01.04, 11:40
Betreff 3 Zeit-Artikel


06/2004


Falsch sortiert

Unser gegliedertes Schulsystem soll die Kinder "begabungsgerecht" fördern. Doch die Auslese geschieht völlig willkürlich

Von Thomas Kerstan

Ein Grundpfeiler des deutschen Schulsystems erweist sich als morsch: die so genannte Übergangsempfehlung am Ende des vierten Schuljahres. Mit ihr stellen die Grundschullehrer die Weichen dafür, ob ihre Schützlinge in die fünfte Klasse des Gymnasiums, der Real- oder der Hauptschule wechseln.

Eigentlich soll dabei die Leistung der Schüler den Ausschlag geben. Doch die Grundschulstudie Iglu (siehe unten) belegt nun erstmals mit bundesweit repräsentativen Daten, dass dies nur in Ansätzen gelingt. Nämlich nur bei den sehr starken und den sehr schwachen Schülern. Das große Mittelfeld, es umfasst 44 Prozent, also fast jeden zweiten Schüler, wird recht willkürlich auf die verschiedenen Schularten verteilt (siehe Grafik). Als Leistungsmaßstab haben die Forscher die Lesefähigkeit und die Mathematikleistungen der Viertklässler gewählt.

Zudem belegt die Studie, dass der Nachwuchs von Arbeitern und Einwanderern systematisch benachteiligt wird. Das Kind eines Managers hat – bei gleicher Leistung! – eine 2,63-mal so große Chance auf eine Gymnasialempfehlung wie das Kind eines Arbeiters; das Kind deutscher Eltern entsprechend eine 1,66-mal so große Chance wie ein Einwandererkind.

„Eher ständestaatlich als wissenschaftlich begründet“

Die Willkür bei der Übergangsempfehlung, das zeigt die Grundschulstudie auf, fällt zusammen mit der Willkür bei der Zensurengebung. Ein Kind, das gut, aber – im Urteil der Autoren von Iglu – nicht sehr gut lesen kann, wird an der einen Schule mit einer Eins im Fach Deutsch belohnt, an der anderen mit einer Vier bestraft. Auch die Mathematikzensuren sind nicht treffsicherer. Dabei sind die Lehrer sehr wohl in der Lage, die starken Schüler ihrer Klasse von den schwächeren zu unterscheiden. Ihnen fehlt aber ein schulübergreifender Maßstab.

Das bringt die Verteidiger des in der Theorie „begabungsgerecht“ gegliederten Schulsystems erneut in Erklärungsnot. Denn statt sauber nach Leistung sortierter Eleven sitzt in den fünften Klassen aller Schularten ein Mix unterschiedlich leistungsstarker Schüler. Schon die Theorie selbst ist wissenschaftlich kaum haltbar. Ihr zufolge werden Kinder je nach „Begabungstyp“ getrennt unterrichtet: die schwachen in der praktisch orientierten Hauptschule, die leistungsstarken im theoretisch orientierten Gymnasium und die Mittelstarken in der Realschule. „Gefährliche Folklore“ nennt das der deutsche Entwicklungspsychologe Kai S. Cortina, der an der University of Michigan, USA, lehrt. Der Glaube an diese Art von Begabungsunterschieden sei „durch keine Studie auf der ganzen Welt“ belegt. Die Autoren der Iglu-Studie kritisieren das Begabungskonzept höflicher: Es sei „eher ständestaatlich als wissenschaftlich“ begründet.

Auch gemessen an seinen Früchten, kann das mit großem Aufwand verbundene gegliederte System nicht überzeugen. Bei der internationalen Schulvergleichsstudie Pisa fiel Deutschland durch einen großen Anteil leistungsschwacher 15-Jähriger auf, konnte aber auch nicht mit einer bedeutenden Leistungsspitze glänzen. Weder stützt also die Hauptschule die Schwachen, noch bringt das Gymnasium eine meritokratische Elite hervor.

Könnte eine bessere Sortierung nach der Grundschule das Problem lösen? „Nein“, sagt Jürgen Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Jede Übergangsempfehlung gehe notwendig mit Fehlentscheidungen einher. Der Forscher, der als Leiter der deutschen Pisa-Studie bekannt wurde, nimmt die Grundschullehrer in Schutz: „Sie kennen ihre Schüler. Ihre Empfehlungen sind das Beste, was wir haben können.“ Besser etwa als Aufnahmeprüfungen oder IQ-Tests.

Die Leidtragenden falscher Übergangsempfehlungen sind beispielsweise jene Schüler, die auf der Realschule statt auf dem Gymnasium landen. Bei gleicher Ausgangsleistung ist ihre Chance, das Abitur zu machen, wesentlich geringer als die jener Mitschüler, die in der anregenderen Lernumgebung des Gymnasiums gelandet sind. Fatal kann es werden, wenn in einer Großstadt ein Schüler auf der problembeladenen Hauptschule landet statt auf der Realschule. Entgangene Entwicklungschancen sind der Preis. „Der einzige Vorteil, den ein unterforderter Schüler kurzzeitig hat“, sagt Kai S. Cortina, „ist die Entlastung seines Selbstbildes.“ Auf Deutsch: Das Kind sieht sich durch bessere Schüler nicht so unter Druck gesetzt, fühlt sich besser – was der Leistung förderlich ist. „Doch dieser billige Effekt verpufft nach einem halben Jahr“, sagt Cortina.

Um die Folgen der frühen Auslese abzumildern, empfehlen die Autoren der Iglu-Studie, das Bildungssystem nach oben durchlässiger zu machen. Ein Vorbild dabei könnte Baden-Württemberg sein. Dort wird schon jedes dritte Abitur an einem beruflichen Gymnasium abgelegt, das auf Klasse 10 der Realschule aufbaut. Erst kürzlich hat eine Untersuchung gezeigt, dass der auf diesem Weg erworbene Hochschulabschluss den Vergleich mit dem auf einem traditionellen Gymnasium erworbenen nicht scheuen muss. Derart kann der Schulabschluss von der Schulform entkoppelt werden; Fehler in der Übergangsentscheidung können korrigiert werden.

Um der Wirklichkeit in der Schule Rechnung zu tragen, so empfehlen die Bildungsforscher weiter, müssen die Sekundarstufenlehrer in der Aus- und Weiterbildung lernen, was für Grundschullehrer selbstverständlich ist: Schüler unterschiedlicher Leistungsstärke zu unterrichten. Ein weiterer besorgniserregender Befund der Studie spricht dafür: Deutschlandweit fast jeder Dritte Fünftklässler kann nicht gut genug lesen, um selbstständig aus Texten zu lernen. Damit gehört die Leseförderung, die man eigentlich als Aufgabe der Grundschule sah, auf die Tagesordnung der weiterführenden Schulen.

Besserer Unterricht ist wichtiger als die Gesamtschule

Von einem raten die Autoren der Studie jedoch ab: das gegliederte Schulsystem einfach durch Gesamtschulen zu ersetzen, wie sie in Nordeuropa üblich sind. Viel wichtiger als eine Systemveränderung sei eine Wende in der Pädagogik. Nicht mehr die Belehrung durch den Lehrer müsse im Mittelpunkt des Unterrichts stehen, sondern die Entfaltung der individuellen Leistungsfähigkeit der Schüler.

Mit Ratschlägen zu Schulformen halten sich die Bildungsforscher auch deshalb zurück, weil sie der Macht der Gewohnheit und der Gewohnheit der Mächtigen Tribut zollen müssen. Das Ausländern schwer zu erklärende Unikum eines gegliederten Schulsystems verfügt über eine erstaunliche Überlebenskraft. Geboren in Preußen, hat es die Weimarer Republik ebenso überlebt wie die Nazizeit. Es hat die DDR-Einheitsschule geschluckt und den Reformstürmen der siebziger Jahre getrotzt. Zudem privilegiert es jene, die hierzulande das Sagen haben. In der Sprache der Wissenschaftler liest sich das so: „Eine mehr als 120-jährige Bildungstradition, bei der insbesondere die Eliten und Entscheidungsträger in ihrer bildungsbiografischen Reproduktion begünstigt sind, hat eine hohe Beharrungskraft.“

04/2004


innovation


„Potenzial im Kopf“

Nur mehr Bildung kann mehr Wachstum erzeugen, sagt McKinsey Deutschland-Chef Jürgen Kluge

DIE ZEIT: Der Bundeskanzler will mehr Innovation. Was fällt überhaupt unter diesen Begriff?

Jürgen KLUGE: Zuerst wird immer an neue Produkte gedacht. Aber Herstellungsverfahren können ebenfalls innovativ sein. Und Geschäftsmodelle, die ganze Branchen revolutionieren – wie etwa die McDonald’s-Idee, überall gleiche Schnellrestaurants zu eröffnen. Was man nie vergessen sollte: Innovation kommt durch Wissen in die Welt, und das sitzt in den Köpfen. Eigentlich reden wir also darüber, wie wir dem Neuen gegenüber eingestellt sind.

ZEIT: Haben die Sozialdemokraten den richtigen Innovationsbegriff?

KLUGE: Ich freue mich darüber, dass die SPD sich für mehr Leistung und Innovation aufgeschlossen zeigt.

ZEIT: Früher machten gerade Sozialdemokraten Industriepolitik, heute heißt das „Innovationspolitik“. Was ist der Unterschied?

KLUGE: Industriepolitiker wollten die Wirtschaft lenken. Heute ist klar: Die Erneuerung lässt sich nur steuern über Spielregeln und Visionen.

ZEIT: Nennen Sie bitte Beispiele.

KLUGE: Gute Spielregeln fördern den Ideenwettbewerb und sorgen dafür, dass die vorhandenen Stärken gestärkt werden, statt alle Unterschiede zu nivellieren. Eine Vision war Kennedys Rede vom Man to the Moon. Das Projekt führte zu vielen weitreichenden Innovationen. Auch die Gründung der Stanford-Universität mitsamt des Silicon Valley ist ein Beispiel. Eine ganze Region bewegt sich nach vorne.

ZEIT: In Deutschland gab es durchaus Visionen, zum Beispiel vom modernsten Schnellzug der Welt, dem Transrapid, oder vom ambitioniertesten Mautsystem des Planeten, Toll Collect. An beiden Projekten arbeitete die Creme der deutschen Wirtschaft – mit desaströsem Ergebnis.

KLUGE: Fügen Sie den Schnellen Brüter hinzu. Das Problem: Sie müssen raten, was die Zukunft bringt. Das kann manchmal gut gehen. Das japanische Industrieministerium Miti etwa hat jahrelang relativ treffsicher geraten, welche Produktinnovationen wichtig werden. Aber man sollte heute nicht mehr sagen: Wir wissen, was die Zukunft bringt, die Lösung in der Energiefrage ist der Schnelle Brüter oder die Windkraft. Die Lösung heute lautet, Querschnittstechnologien herauszusuchen wie Bio-Tech oder die Nanotechnologie und die konkreten Anwendungen dem darwinistischen Spiel des Marktes zu überlassen.

ZEIT: Das Herausstellen der Nanotechnologie ist schon wieder eine staatliche Festlegung.

KLUGE: Die Deutschen geben, relativ zu Japan oder den USA, weniger Geld für Forschung und Entwicklung aus. Es kommt aber auf die absolute Summe an, die Sie hinter eine neue Technologie bringen. Ein mittelgroßes Land wie unseres muss sich für Schwerpunkte entscheiden.

ZEIT: Warum dann nicht ein Europa der Innovationen?

KLUGE: Mitunter ist das der beste Weg, wie im Fall des Kernforschungszentrums Cern mit seinen riesigen Investitionen. Aber ein solches Projekt braucht viel Zeit. Andere Projekte können Sie im Land angehen. Wieder andere Innovationen erzeugen Sie am besten in einer Region. Das Thema bestimmt die optimale Architektur.

ZEIT: Deutschland soll Prioritäten setzen. Wird der von Gerhard Schröder geplante Innovationsrat diese Aufgabe bewältigen können?

KLUGE: Reden und vor allem zuhören macht nie dümmer. Aber die Ideen müssen dem Wettbewerb ausgesetzt sein. Sehr erfolgreich war beispielsweise der BioRegio-Wettbewerb. Und unter den Experten gibt es keinen riesigen Dissenz darüber, was die künftigen Kerntechnologien sein werden. Dort muss der Staat ähnliche Wettbewerbe ausrufen.

ZEIT: Wer sollte in dem Rat sitzen?

KLUGE: Neben Staat, Wissenschaft und Industrie brauchen Sie Dienstleister. Ziel ist eine Art virtuelles Abbild einer erfolgreichen Innovationsregion. Dort haben Sie immer eine staatliche Stelle, die eine Infrastruktur schafft, mindestens eine Universität, ein Großunternehmen und viele kleine – und Dienstleister. Als Salz in der Suppe wünsche ich mir deutsche Nobelpreisträger, die im Ausland arbeiten, oder Fachleute, die in Japan oder den USA aufgewachsen sind. Vor allem sollten alle Mitglieder ein innovatives Klima schaffen können.

ZEIT: Was, abgesehen von mehr Geld, kann die Politik tun, damit sich dieses Klima bildet?

KLUGE: Sie muss den Zusammenhang verdeutlichen: Bildungsarmut schafft Innovationsarmut, die führt zu einem Mangel an Wachstum und zu weniger Wohlstand, sodass wir die Sozialsysteme nicht mehr aufrechterhalten können. Das Ticket zu künftigem Wohlstand ist nur über Schule, Aus- und Weiterbildung und Spitzenforschung zu haben. Wir müssen das Potenzial in unseren Köpfen ausschöpfen und attrativ werden für die Besten in der Welt. Auf vielen Feldern zählt nur die Spitzenleistung, und schon der Zweite ist der erste Verlierer.

ZEIT: Wie schaffen Sie Hochschulen, die für Spitzenforscher attraktiv sind?

KLUGE: Voraussetzungen sind Selbstauswahl der Studenten, Studiengebühren, Autonomie der Hochschulen. Dann bekommen wir eine Selbstselektion, und die Starken werden stärker werden. Das Problem: Dieser Prozess dauert lange. Wir werden aus Zeitgründen eingreifen und wiederum raten müssen. Die Humboldt-Universität in Berlin, die einen guten Markennamen hat, würde sich zum Ausbau eignen. Ganz fair wäre es zwar nicht, guten Staatsuniversitäten wie auch in Aachen, Heidelberg oder München einen Startvorteil zu verschaffen. Aber anders geht es nicht. Und wir haben wenig Zeit.

ZEIT: Elitehochschulen ja, aber bitte ohne Studiengebühren, heißt es in der SPD.

KLUGE: Das ist Reform mit angezogener Handbremse, die nicht funktionieren wird. Die besten Universitäten messen sich weltweit. Und sie nehmen jeden Studenten, wenn er wirklich gut ist, das Stipendium findet sich dann. Derzeit sind wir in Deutschland noch an dem Punkt: Wir brauchen und wollen Elite, aber bitte in ganzer Breite. Übrigens: Jede Gesellschaft hat ihre Eliten, wie Lenin meinte.

ZEIT: Die deutsche Elite bildet sich vor allem innerhalb sozialer Klassen. Die meisten Führungskräfte stammen aus großbürgerlichen Familien.

KLUGE: Pisa hat gezeigt, dass wir ein mittelmäßiges Schulsystem haben, das aber die höchste soziale Selektion hat. Damit verschleudern wir Talente, heimische Aufsteiger wie Migranten. Eliten sollten sich nicht nach Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht definieren, sondern nach Leistung.

ZEIT: Ihre Grundannahme lautet: Mehr Innovation bedeutet Wachstum. Neue Ideen wandern aber immer schneller um die Welt. Wie können Sie sicher sein, dass hier geschaffene Innovationen dem Arbeitsmarkt helfen?

KLUGE: Innovationsregionen erhalten sich bemerkenswert lange. Wo einst etwas entwickelt wurde, bleibt das Know-how erhalten. Ein Beispiel ist der Druckmaschinen-Schwerpunkt um Mainz und Heidelberg – den gibt es seit Gutenbergs Zeiten. Und sehen Sie: Wenn ein amerikanischer Dollar an Wertschöpfung ins Ausland wandert, entsteht in den USA eine zusätzliche Wertschöpfung von 1,13 Dollar. Denn wenn dort Jobs verloren gehen, bilden sich die Menschen weiter und nehmen höherwertige Jobs an. Wir dagegen fangen die Menschen mit Sozialleistungen auf, statt sie wirklich weiterzubilden. Der größte Teil der Staatsausgaben fließt in den Konsum statt in Bildung und Forschung.

ZEIT: Die Agenda 2010 reicht Ihnen nicht?

KLUGE: Das sind erste Schritte. Aber Schätzungen zeigen: Um das Arbeitslosenproblem in Deutschland über den Königsweg Innovation zu lösen, brauchen Sie vier Regionen wie das Silicon Valley und ein Dutzend Unternehmen wie SAP.

ZEIT: Sie haben dem Kanzler zur Vision geraten. Was wäre eine deutsche Innovationsvision?

KLUGE: Alzheimer besiegen in zehn Jahren etwa. Oder sichere Autos, die miteinander kommunizieren und deshalb nicht mehr zusammenstoßen. Oder ein Internet-gestützter Verwaltungsapparat.

ZEIT: So weit der Staat. Im Schnitt sind auch deutsche Unternehmer nicht sonderlich innovativ, oder?

KLUGE: Ausgerechnet die mittleren Unternehmen, unsere traditionellen Treiber, waren zuletzt relativ undynamisch. Statistisch wird in der deutschen Industrie genau wie im Staat zu wenig Geld für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Das nächste Jahrzehnt muss eine Innovationsdekade werden. Wir brauchen langfristige Wachstumsraten von mehr als zwei Prozent, um die Arbeitslosigkeit zu senken.


Mit Jürgen Kluge sprach Uwe Jean Heuser

01/2004


erziehung

Unser kleiner Feind zu Haus

Wie bringen Eltern renitente Kinder gewaltlos zur Räson? Nach Gandhis Vorbild

Von Sabine Etzold

Was tun, wenn der eigene Sprössling Schreikrämpfe bekommt, weil er sein Zimmer aufräumen soll, Geschwister und fremde Kinder verprügelt, Eltern und Respektspersonen beschimpft und den Kanarienvogel rupft? Die israelische Psychologin Carmelite Avraham-Krehwinkel rät Eltern in solchen Fällen zu gewaltlosem Widerstand, etwa in Form eines Sit-in im Kinderzimmer.

Das könnte so aussehen: Die Eltern betreten überraschend das Zimmer des Kindes und überreichen ihm eine Deklaration mit ihren Forderungen. „Wir verlangen, dass du aufhörst, uns zu beschimpfen und uns gegenüber vulgäre Bewegungen zu machen.“ Nach der Übergabe erbitten sie eine Stellungnahme und einen Vorschlag zur Veränderung. Danach warten die Eltern schweigend ab – nicht länger als eine Stunde. Folgt ein konstruktives Angebot, verlassen sie das Zimmer entsprechend früher.

Dieses Erziehungskonzept orientiert sich an der Idee des gewaltlosen Widerstandes des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi: Wer sich gegen Gewalt, auch gegen kindliche, wehren muss, steckt in einer Falle. Sowohl Gegengewalt wie Kapitulation führen, ob in der Familie oder im britischen Empire, zur Eskalation des Konflikts. Im ersten Fall werden, ob vom König oder Kind, noch stärkere Gewaltaktionen draufgesetzt, im zweiten Forderungen und Repressalien höher geschraubt. Aus dieser Zwickmühle kommt man nur, so ist Avraham überzeugt, auf Gandhis Pfaden. Da es um die eigene Existenz gehe, müssten der Kampf geführt und Widerstand geleistet werden, allerdings unter Verzicht auf Gewalt.

Lieber harte Familientherapie als medikamentöse Ruhe

Der indische Freiheitskampf – eine brauchbare Vorlage für die Lösung von Familienkonflikten? Das eigene Kind als Gegner, als „Feind“ in einer hoch politischen Auseinandersetzung? „Das klingt zwar ziemlich hart“, sagt der Familientherapeut David Aldridge, „aber dieses Modell soll ja auch besonders harte Fälle knacken helfen.“ Aldridge lehrt Qualitative Forschung in der Medizin an der Universität Witten/Herdecke und betreut Avraham als Doktorvater. Der Brite bevorzugt Doktoranden der besonderen Art. Im Moment sind es 26, zwei Drittel davon weiblich und meist „nicht mehr so ganz jung“. Auch Avraham, 51, ist nur fünf Jahre jünger als ihr Betreuer. Aldridge nimmt keine abstrakten Promotionsthemen an, „sondern nur solche, die in der Praxis genutzt werden können“. Am Konzept seiner israelischen Doktorandin, das im nächsten Sommer als Dissertation veröffentlicht werden soll, reizt ihn noch etwas anderes: „Jede Möglichkeit, bei verhaltensgestörten Kindern ohne Medikamente auszukommen, muss verfolgt werden.“

An solchen therapeutischen Möglichkeiten existiert inzwischen eine verwirrende Vielfalt. Ob Gruppen-, Einzel-, Beschäftigungs-, Familien- oder Hypnotherapie, von der Psychoanalyse bis zur radikalen Ernährungsumstellung: Nicht nur verzweifelte Eltern blicken nicht mehr durch. Und da soll Gandhis gewaltloser Kampf der Therapieweisheit letzter Schluss sein? „Alle Therapeuten meinen immer, sie allein hätten das geschnittene Brot erfunden“, sagt Aldridge. Wichtig sei es vor allem, möglichst viele Methoden anzubieten. Aber wird da nicht, gewaltlos hin oder her, einer Eltern-Kind-Konfrontation das Wort geredet? „Das sieht nur aus deutscher Perspektive so aus“, sagt er, „in die israelische Kultur passt das Konzept sehr gut.“

Da kommt es ursprünglich auch her. Carmelite Avraham hat jahrelang in Deutschland als Familientherapeutin gearbeitet, ist aber vor zwei Jahren nach Israel zurückgekehrt. Dort treibt sie ihre Dissertation an der Universität Tel Aviv voran, unterstützt von dem Psychologen Haim Omer, der mit seinem Buch Autorität ohne Gewalt auch in Deutschland bekannt wurde.

Von Omer stammt das Modell von der „elterlichen Präsenz als systemisches Konzept“. Es beruht auf der systemischen Familientherapie und geht davon aus, dass nicht nur das schwierige Kind allein „gestört“ ist, sondern ein ganzes Beziehungssystem, also die gesamte Familie, aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Und das soll wiederhergestellt werden. Keine Therapie für das Kind also, stattdessen eine Art Autoritätstraining, ein Coaching für die Eltern.

Avraham hat dieses Konzept weitergeführt, hat das Instrumentarium verfeinert und über drei Jahre hinweg an 45 israelischen Familien auf seine Wirksamkeit erprobt. Wenn allerdings jemand Gandhis Methode als „passiven“ statt gewaltlosen Widerstand bezeichnet, was in Deutschland häufig synonym gebraucht wird, gerät Avraham in Rage. „Ich will die Leute doch gerade aus ihrer passiven Haltung herausholen!“, schimpft sie dann. Denn die Eltern, die zur Beratung kommen, seien vor allem resigniert. Sie hätten aus Angst „vor dem machtvollen Kind“ kapituliert; würden entweder handgreiflich, oder sie ließen sich alles bieten. „Oft sitzen die Väter dann zusammengesunken in der Beratung. Ihnen muss man das Gefühl vermitteln: Ich unternehme etwas, kann wieder handeln.“ Und es habe sich erwiesen, „dass die Behandlung die erwartete Wirkung zeigt“.

Zum Beispiel bei dem sechsjährigen Dani und seiner Familie. Schon der tägliche Aufbruch zum Kindergarten war ein Albtraum für alle. Der Junge schrie, warf sich zu Boden; der Vater flüchtete zur Arbeit, die Mutter verlor die Nerven und schrie bald auch, worauf Dani nicht selten mit dem Kopf gegen die Wand hämmerte: „Ich will nicht mehr leben! Ich muss sterben! Ich muss bestraft werden!“ Hatte die Mutter ihn endlich gewaltsam in den Kindergarten geschleppt, tobte er dort weiter, griff andere Kinder an und zerstörte ihre Spielsachen. Zwischendurch lief er weg, löste Suchaktionen aus, und abends zu Hause wiederholte sich das Schreidrama. Nicht wenige Therapeuten verschreiben in solchen Fällen Ritalin. Avraham verordnete Deeskalation. Dazu händigt sie den Eltern ein „Führungsheft“ aus, eine Art Handbuch des gewaltlosen Widerstands mit genauen Handlungsanweisungen wie etwa dem eingangs beschriebenen Sit-in. Wann und wie man es anwendet und wie all die and eren Tipps strategisch am besten einzusetzen sind, erfahren die Eltern in Beratungsstunden.

Für Danis Eltern hieß das: auf Provokationen niemals sofort reagieren, sondern einen stressfreien Moment abwarten. Sich dann auf keinerlei Hickhack aus Worten und Widerworten einlassen, stattdessen die eigene Position klar zum Ausdruck bringen; bei Dani zum Beispiel: „Wir in unsrem Haus schlagen, schreien und zerstören nicht, und keiner fasst den anderen an ohne dessen Erlaubnis. Wenn wir dich verletzt haben sollten, bitten wir um Verzeihung. Dennoch werden wir nicht mehr nachgeben, wenn du schreist, zerstörst und Menschen angreifst.“ Statt des Sit-in wurde eine Familiensitzung einberufen, bei der diese Ziele als Deklaration vorgetragen, erläutert und Dani feierlich in einem versiegelten Brief übergeben wurden. Alle Erwachsenen gratulierten ihm zum Neuanfang, und im Kindergarten fand später eine ähnliche Sitzung statt. Im Coaching wurde dem Vater außerdem ans Herz gelegt, sich mehr um seinen Jungen zu kümmern, und die dominante Mutter sollte lernen, etwas zurüc kzustecken. Schon nach drei Wochen, versichert Avraham, hörten Danis Tobsuchtsanfälle auf. „Auch im Kindergarten verliefen die Wutausbrüche milder und kürzer.“

Im Fall des 15-jährigen Uri dagegen mussten Handbuch und Beratung sehr viel öfter in Anspruch genommen werden. Er war von seinen Eltern, gut situierten Akademikern, nach Strich und Faden verwöhnt worden, mit eigenem Telefon, Fernseher, Internet-Anschluss. Zum „Dank“ strafte er seine Erzeuger mit Missachtung, beschimpfte sie als „stinkend“, wenn er überhaupt mit ihnen sprach, verweigerte jede Teilnahme am Familienleben. Tagsüber schloss er sich in seinem Zimmer ein, wo er auch aß, und trieb sich nachts mit Freunden herum. Als die Eltern Alkohol in seinem Zimmer und eine Cannabis-Plantage in ihrem Garten entdeckten, probten auch sie den gewaltlosen Widerstand.

Der aber erwies sich als wesentlich dorniger als im Fall des kleinen Dani. Uri ignorierte die Deklaration und zeigte sich auch bei einem (im Elternführer in hartnäckigen Fällen empfohlenen) wiederholten Sit-in nicht kooperativ. Daraufhin kam die im Handbuch vorgesehene Widerstandsstufe zwei zur Anwendung: die Aufkündigung aller familiären Dienstleistungen. So wurden Telefon- und Internet-Leitung abgeklemmt, Mahlzeiten nicht mehr aufs Zimmer serviert. Der Sohn rächte sich, indem er seinen Eltern die Kreditkarte klaute, sie um eine erhebliche Summe erleichterte und damit verschwand.

Freunde und Fremde helfen den Eltern bei der Erziehungsarbeit

Die mögen in diesem Augenblick zwar an der Wirksamkeit des gewaltlosen Widerstandes gezweifelt haben, aber sie hielten durch und brachten die für solche Situationen vorgesehene „Telefonrunde“ zum Einsatz. Sämtliche Verwandte, Bekannte, Freunde werden angerufen, nicht nur um den Aufenthalt des Ausreißers zu ermitteln, sondern auch um überall im Leben des Kindes Spuren elterlicher Präsenz zu hinterlassen. So soll ein Netz der Unterstützung gesponnen werden, um den Familienkonflikt öffentlich zu machen. Denn das sei oft das Schlimmste, sagt Avraham, dass Eltern aus Scham und falschem Schuldbewusstsein versuchten, mit ihren Problemkindern allein fertig zu werden. Doch sie brauchten Hilfe von Freunden und Verwandten. Zu deren Mobilisierung empfiehlt das Handbuch auch den Sit-down-Streik: eine Art Tag der offenen Tür im eigenen Heim. Verwandte, Freunde, Bekannte, aber auch Fremde, werden per Mundpropaganda eingeladen und sind jederzeit willkommen. Alle Gäste werden a usführlich über die Familiensituation informiert und um Hilfe und Verbesserungsvorschläge gebeten.

Welche dieser Maßnahmen im Fall des renitenten Uri schließlich griffen, ist kaum auszumachen, vermutlich alle miteinander. Aber auch er kapitulierte schließlich. Nach etlichen Monaten signalisierten die Eltern der Therapeutin: „Wir haben unseren Sohn endlich wiedergefunden.“

Ist ein solches Konzept auf Deutschland übertragbar? Funktioniert ein Sit-down-Streik auch in unserem sozial kühleren, erheblich weniger gastfreundlichen Klima? Carmelite Avraham ist da sicher. Sie will ihr Konzept im kommenden Sommer in Deutschland mit ihrer Doktorarbeit in Workshops vorstellen und erproben. Auch ihr Doktorvater Aldridge ist zuversichtlich. Man müsse wie bei jeder importierten kulturellen Form zusehen, wie sie am besten adaptiert werden könne. „Einiges muss man in Deutschland vielleicht anders ausdrücken.“ Zudem sei es nur ein spezielles Konzept für besonders schwere Fälle und keine allein selig machende Allround-Methode. Vor allem aber: „In einem Klima der Gewalt praktiziert es Gewaltlosigkeit. Das ist besonders wichtig.“


Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. H. Englisch
Elternsprecher der Grundschule Gundorf
Burghausener Str. 18
04178 Leipzig
Tel. 0341-4414443
Fax: 0341-55019849
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Erdbeben im Iran: Zehntausende Kinder brauchen Hilfe. UNICEF hilft den
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