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Autor Andreas von Bergen
Datum 26.11.04, 07:52
Betreff »Humankapital« Bildung


Quelle: junge Welt vom 26.11.2004,
Original: http://www.jungewelt.de/2004/11-26/011.php

Die Studien über den desaströsen Zustand des deutschen Bildungswesens beunruhigen zunehmend das Großkapital

Aus dem periodischen »PISA-Schock« scheint so langsam eine Dauerdepression zu werden. Kaum war die wohlfeile »Betroffenheit« der Fachpolitiker aller Parteien über das erneut katastrophale Abschneiden des deutschen Bildungssystems bei der Vergleichsstudie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) etwas abgeklungen, kam der nächste blaue Brief. Auch im Bereich der frühkindlichen und vorschulischen Betreuung und Ausbildung hinke Deutschland weit hinter anderen Länder hinterher, heißt es der »Kindergarten-PISA» genannten Untersuchung der OECD, über die Die Zeit am Donnerstag berichtete. Das niederschmetternde Urteil betrifft sowohl die pädagogische Forschung als auch die Ausbildung des Fachpersonals, die Qualitätsanforderungen an die betreuenden Einrichtungen und die zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel. Der Beruf des Erziehers sei aufgrund niedriger Bezahlung, fehlender Aufstiegsmöglichkeiten und schlechter Arbeitsbedingungen ausgesprochen unattraktiv, heißt es ferner in der Studie.

Das Beispiel Finnland

In der Tat ist von der kurzen Blüte der frühkindlichen Pädagogik in Deutschland in den 70er Jahren nicht viel mehr als jede Menge bedrucktes Papier übriggeblieben. Ambitionierte »Kita-Entwicklungspläne« und die Orientierung auf ein ganzheitliches Pädagogikverständnis von der Krippe bis zur Universität sind längst Makulatur. In den meisten Bundesländern blieb die scharfe Abgrenzung zwischen vorschulischer und schulischer Erziehung und Ausbildung bestehen, kam erstere nie über den Status einer »Kinderaufbewahrung« zwecks Ermöglichkeit weiblicher Berufstätigkeit hinaus. Gesellschaftliche Entwicklungen, wie die Entstehung einer Generation von Kindern mit Migrationshintergrund wurden fast völlig ignoriert. Bei der Abwertung und Einschränkung frühkindlicher und vorschulischer Betreuung spielen sich seit vielen Jahren neoliberale »Haushaltskonsolidierer« und reaktionäre Familienideologen die Bälle zu. Die Erkenntnis, daß sich Defizite in diesem pädagogischen Primärbereich in den folgenden Bildungssegmenten nicht mehr so ohne weiteres ausbügeln lassen, wurde in Deutschland konsequent verdrängt. Fazit: Das Krippen- Kita- und Vorschuldesaster in Deutschland ist keine Begleiterscheinung der deutschen Bildungskrise, sondern ihr Fundament.

Dies wird auch deutlich, wenn man den vorschulischen Bereich beim »PISA-Champion« Finnland betrachtet. Im Unterschied zu Deutschland, wo ein Kind erst ab dem dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt einen – zumindest theoretischen – Rechtsanspruch auf einen Kindergartenbesuch hat, gilt dieser Anspruch in Finnland für alle Kinder bis zum Schuleintrittsalter. Die Betreuung ist kostenlos. Die Öffnungszeiten der Einrichtungen betragen mindestens 10 Stunden am Tag. Tätig sind dort Erzieher, die ein dreijähriges Universitätsstudium mit starker Praxisorientierung absolviert haben. Der Betreuungsschlüssel liegt bei Kindern unter vier Jahren bei einem Erzieher für für vier Kinder, die Kooperation mit Psychologen, Logopäden und Therapeuthen gehört ebenso zum Standard, wie bedarfsgerechte Einzelförderung, beispielsweise Sprachunterricht für Migrantenkinder. Durch enge Zusammenarbeit mit den Schulen wird ein gleitender Übergang in die nächste Bildungsphase ermöglicht.

Vernichtendes Urteil

Daß diese staatliche Fokussierung auf den elementarpädagischen Bereich keine »Verschwendung« darstellt, scheint so langsam auch dem deutschen Kapital klar zu werden. In ihrem jüngst veröffentlichten Jahresgutachten widmeten die »fünf Wirtschaftsweisen« der Bildungsmisere erstmals ein umfangreiches Kapitel, unter auffälliger Aussparung der gängigen Eliten-Propaganda. Rohstoffknappheit und demografischer Wandel machten breit gestreute Bildung zum »wichtigsten Humankapital« heißt es dort. Der Ausschluß von Bildung aufgrund »starker sozialer Segregation« sei »Ressourcenverschwendung« und daher »unverantwortlich«. Gefordert wird unter anderem eine Umverteilung beträchtlicher Mittel in den Vor- und Elementarschulbereich und die Abschaffung von Kitagebühren.

Sogar der neoliberale Think-Tank »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) mahnt inzwischen eine »Qualitätsoffensive« im Elementarbereich an, da angesichts der absehbar dramatisch schrumpfenden Erwerbsbevölkerung das »Humankapital Bildung« nicht mehr verschwendet werden dürfe. Selbst die bundesdeutschen PISA-Spitzenreiter Bayern und Baden-Württemberg könnten mit Ländern wie Finnland und Kanada »nur noch bedingt« mithalten, während Länder wie Bremen, Berlin und Sachsen-Anhalt sogar »in der Versenkung zu verschwinden« drohten, heißt es in einer am Donnerstag veröffentlichten Studie der INSM zur Bildungsqualität in den einzelnen Bundesländern.

Die offizielle Politik schaltet derweil die Phrasendreschmaschinen an und geht ansonsten auf Tauchstation. Die Veröffentlichung der PISA-Bundesländerstatistik wurde vorsorglich auf den kommenden Herbst verschoben. Denn das der – weltweit einmalige – Bildungsföderalismus eine der Hauptursachen für den desaströsen Zustand des deutschen Bildungswesens ist, darf ein Politiker, der keinen Karriereknick erleiden will, in Deutschland höchstens denken, aber keinesfalls sagen.

Rainer Balcerowiak






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