Glauben Sie noch an die Nation, Herr Kadare?
Paris, Boulevard Saint Michel, ein mondänes Gebäude im Stil des Barons Haussmann. Ismail Kadare blickt aus dem Fenster, hinaus auf den Jardin du Luxembourg, in den er jeden Morgen flieht, um nachzudenken.
Die Heimat beherbergt Patrioten - und Patrioten gibt es, bevor eine Nation geboren wird. Die Patrioten eint Kultur und Sprache, es gibt Einverständnis darüber, was die Nation einmal sein könnte und sollte. Die albanischen Patrioten hatten sich, bevor es Albanien gab, die Marseillaise als Hymne ausgesucht. Sie war das Symbol für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Als Modell für ein Staatswesen galt die Schweiz. Warum? Weil sich dort Leute zusammengetan hatten, die in drei unterschiedlichen Sprachen redeten. Das hat die Albaner beeindruckt. Die Nation ist ein Gebilde mit Grenzen. Die Heimat kennt keine Grenzen, sie reist mit, wenn der Patriot das Land verlassen muss.
Hat Heimat demnach eher mit Gefühl als mit Geographie zu tun?
Sie hat etwas mit Patrioten und Patriotismus zu tun . . .
In der deutschen Sprache wird das bisweilen mit „Vaterlandsliebe“ übersetzt.
Also mit Emotionen. Ihr deutscher Begriff „Heimat“ weist aber, glaube ich, auch auf Kultur hin und auf die von ihr getragenen Traditionen. Sie hat nichts zu tun mit Chauvinismus oder gar Rassismus, mit dem die Faschisten sie der Zerstörung preisgaben. Die Begriffe „Patriotismus“ und „Heimat“ sind zu unterscheiden von dem des „Nationalismus“.
Der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll sagte sinngemäß: „Meine Sprache ist meine Heimat.“ Wenn in Bölls Bekenntnis das Wort „Heimat“ durch den Begriff „Nation“ ersetzt würde, ergäbe das noch einen Sinn?
Ich kann Bölls Aussage nur unterstreichen. Aber was er gesagt hat, ist für einen Schriftsteller normal. Zumal, wenn er - wie ich - in einer Diktatur leben musste. Ich war ein normaler Schriftsteller in einem anomalen Land. In der Diktatur bleibt dem Dichter als Heimat tatsächlich nur die Sprache. Das hat dazu geführt, dass wir viel gelesen haben. Zu viel. Die Realität verschwand hinter den Büchern.
Was ist nun die Nation für einen Mann vom Balkan? Beherbergt die Nation die Heimat?
Normalerweise sollte niemand mit einem Mann vom Balkan über den Begriff der Nation reden. Das führt automatisch zu Missverständnissen. Wir alle auf dem Balkan - Kroaten, Serben, Bosnier, Albaner - hatten immer eine Heimat, eine Nation hatten wir nicht. Das Osmanische Imperium sah den Status „Nation“ für uns nicht vor. Das war verboten. Das Konzept des Osmanischen Reiches war die Vorherrschaft des Islam, es war sozusagen ein internationalistisches Konzept auf Religionsbasis. Als die Türken abziehen mussten, kamen die Kommunisten. Auch der Kommunismus ist kein nationales Konzept, sondern ein internationales. Unter Enver Hodscha sprachen wir nicht von der albanischen Nation, sondern wir waren Teil der kommunistischen Internationalen. Was die Leute nach dem Fall Hodschas verwechselten, waren die Begriffe „Freiheit“ und „Nation“. Die gewonnene Freiheit hat sich nach Befreiung und Nationwerdung zum Teil in üblen Formen ausgedrückt. Uns ging es wie einem Menschen mit schlimmer Kindheit: In dem Moment, in dem er erwachsen, also frei wird, hat er sich vielleicht zu einer bösartigen Kreatur verformt. Bei uns in Albanien überlagern sich im Moment immer noch Gutes und Schlechtes.
Was die Albaner unter anderem bis heute eint, ist die Vernachlässigung der Religionszugehörigkeit. Nicht nur, weil Hodschas Albanien dreißig Jahre lang der einzige absolut religionsfreihe Staat der Welt war, sondern weil die Frage schon vorher, auch unter der Türkenherrschaft, keine Rolle gespielt hatte für die albanische Identität. Gilt das heute noch?
Ja. Das ist etwas, auf das wir wirklich stolz sein können. Es ist in der Tat ein Modell, an dem sich andere Nationen ein Beispiel nehmen könnten. Wir haben Muslime, Orthodoxe und Katholiken. Wir hatten bis vor einigen Jahrzehnten auch noch Juden - die wir übrigens, im Gegensatz zu vielen anderen Völkern Europas, beschützt und in Sicherheit gebracht haben vor den nationalsozialistischen Häschern. Für unser Zusammenleben haben diese Religionszugehörigkeiten absolut keine Rolle gespielt. Ich selbst entstamme einer Familie die sich dem Derwisch-Orden der Bektaschi zurechnete - für mein soziales und kulturelles Leben ist das immer unwichtig gewesen.
Gibt es Versuche, dieses wertvolle Kulturgut des von Religionszugehörigkeit unbelasteten Miteinander, die religiöse Toleranz also, zu stören oder sogar zu zerstören?
Es gibt Fundamentalisten, die uns in diese Richtung lenken wollen. Von islamischer und von christlicher Seite. Auch aus dem Ausland kommen zerstörerische Impulse. Bisher sind sie ohne Folgen geblieben. Die Albaner haben andere Probleme. Sie wollen Geld verdienen, und zwar möglichst schnell. Sie sind zu pragmatisch, um sich für den sogenannten Kampf der Kulturen missbrauchen zu lassen.
Die Serben lassen immer wieder wissen, dass sie als orthodoxe Christen ganz allein gegen die osmanische Herrschaft und später auch gegen die deutschen Besatzer gekämpft hätten.
Was Sie da beschreiben, ist ein gefährlicher Mythos, ein Dämon. Wir dürfen diesem Revisionismus nicht die Tür öffnen. Alle Balkanvölker haben gemeinsam gegen die Türken gekämpft. Diese Tatsache ist wichtig für unser nachbarschaftliches Zusammenleben.
Dennoch ist es geschichtliche Tatsache, dass albanische Aristokraten den Türken als Gouverneure auf dem Balkan gedient haben. Das bekannteste Beispiel ist Ali Pascha, der den gesamten Epiros - das heutige Südalbanien und der westliche Teil Nordgriechenlands - für die Türken verwaltet und unterdrückt hat. Und viele Bosnier sind zum Islam übergetreten.
Wir müssen anerkennen, dass es Flecken auf unserer historischen Weste gibt. Einige haben mit dem Imperium geflirtet, Opportunisten gab es viele. Aber all das reicht nicht für einen Revisionismus, der das friedliche Zusammenleben auf dem Balkan vergiften würde. Unsere Kultur basiert auf einem gemeinsamen Substrat. Sie wird von der europäischen Renaissance und der Aufklärung dominiert - die Muslime waren in unserem Land ebenso aufgeklärt, wie es die Christen waren.
Nach Enver Hodschas Tod 1985 füllte von 1990 bis 1992 zunächst eine sogenannte demokratische Revolution und 1997 sogar ein Bürgerkrieg das von den jeweiligen Machthabern hinterlassene Machtvakuum. Danach beruhigte sich das Land und fand zu einer echten, wenn auch von Europa aus gesehen zerbrechlichen, weil in weiten Bereichen von Korruption bedrohten parlamentarisch-demokratischen Staatsform. Dennoch verließen vor allem junge Menschen und ein großer Teil der Intelligenz ihre Heimat. Sehen Sie Parallelen zu dem, was jetzt in den arabischen, den nordafrikanischen Ländern passiert?
So wie es in Albanien ein Fehler war, das Land zu verlassen, so ist es jetzt auch in Ägypten, Tunesien oder Algerien ein Fehler, das Land zu verlassen, wenn die Chance zur Veränderung besteht. Die jungen Frauen und Männer wurden bei uns gebraucht, und sie werden jetzt in ihrer nordafrikanischen Heimat gebraucht, um beim Wiederaufbau ihres Landes zu helfen.
Warum haben so viele Albaner das Land verlassen, als Hodscha starb und noch danach, als sich nach der Revolution doch alles zum Besseren zu wenden schien? Sie selbst sind auch im Oktober 1990 mit Ihrer Familie nach Paris geflohen und haben dort nicht nur Asyl gefunden, sondern sind sogar Mitglied der Académie Française geworden.
Ich musste meine Heimat für einige Jahre verlassen, weil mein Leben bedroht war - und damit auch das Leben meiner Familie. Ich hatte unter einem der Hodscha-Nachfolger, Ramiz Alia, die schleunige Demokratisierung Albaniens gefordert. Das hat jenen, die daran nicht interessiert waren, nicht gefallen. Meine Flucht diente dem nackten Überleben. Die große Mehrheit jener jungen Männer, die dem Land in den neunziger Jahren und später den Rücken kehrten, wollte nur so schnell wie möglich Geld verdienen, viel Geld. Deshalb gingen sie zunächst in jene Nachbarländer, wo das einfach schien: nach Griechenland beispielsweise. Aber wie ich schon gesagt habe: Es war ein Fehler, aus Albanien zu fliehen und den Aufbau jenen zu überlassen, die ihre Heimat mehr als Beute denn als zu schützendes Gut betrachten.
Wie erging es den ins Ausland geflohenen jungen Männern, die hierzulande gerne Wirtschaftsflüchtlinge oder - von Wohlwollenden - Armutsflüchtlinge genannt werden?
Wir schätzen, dass allein in Griechenland inzwischen fast eine Million Albaner arbeiten. Sie sind dort - im Gegensatz zu den später aus den osteuropäischen Staaten oder aus Afghanistan und Pakistan, seit einigen Monaten auch aus Nordafrika gekommenen Menschen - meist keine Illegalen mehr. Viele haben sich inzwischen eingerichtet, ein kleines Unternehmen und Familien gegründet, vielleicht sogar ein Haus gebaut. Griechen sind sie deshalb nicht geworden. Sie bleiben Albaner und werden von den Einheimischen auch als solche behandelt. Ich weiß, dass die Griechen meine Bücher lesen, ich bin dort vermutlich ein angesehener Autor. Das hat die Mehrheit der Griechen leider nicht davon abgehalten, sich uns Albanern gegenüber als Rassisten aufzuführen.
Einer Ihrer Schützlinge, der Lyriker und Literaturprofessor Agron Tufa aus Tirana, hat einmal erwähnt, dass sich schon zu Hodschas Zeiten, als man noch in Moskau und nicht in Mailand oder Florenz studierte, ein Minderwertigkeitskomplex breitgemacht hatte. Er sagt, dass die jungen Leute, die heute aus Athen, Rom oder gar den Vereinigten Staaten zurückkommen, um ihre Familie in Tirana zu besuchen, sich offenbar schämen, Albaner zu sein. Er habe mit Studenten zu tun gehabt, die sich scheuten, ihre albanische Muttersprache zu sprechen.
Das kann ich aus eigener Erfahrung nicht bestätigen. Wenn Tufa das sagt, wird aber etwas dran sein.
Sie selbst sind in Paris damals nicht nur freundlich, sondern mit Enthusiasmus aufgenommen worden. Auch dank Ihres brillanten Übersetzers, des mehrsprachigen Diplomaten und Politikers Jusuf Vrioni, wurden Sie von Frankreich aus zu einem Weltstar der Literatur. In Deutschland war es schwieriger, oder?
Ich hatte Probleme, in Deutschland einen Verleger zu finden. Man hat die Albaner bei Ihnen wohl nicht so ernst genommen, wie die Franzosen es taten. Schließlich nahm man mich in der Schweiz auf, bei dem sehr renommierten Ammann Verlag in Zürich. Der hat, wie Sie wissen, vor einiger Zeit aufgegeben, sein Programm wird jetzt vom deutschen Verlag S. Fischer fortgeführt. So bin ich nun doch noch in Deutschland gelandet.
Nach Ihrer Flucht hat es fast ein Jahrzehnt gedauert, bis Sie wieder nach Hause konnten. Sie sind 1999 nach Tirana zurückgekehrt und wohnen nun auch dort. Sie mischen sich in politische Diskussionen ein, treten im Fernsehen auf, schreiben Zeitungsartikel und unterstützen junge Schriftsteller. Haben Sie also Ihre Heimat wiedergefunden? Trotz Korruption und Mafia?
Ich war Albaner, ich bin Albaner, und ich werde es bis zu meinem Tod sein. Ich habe zwar zwei Pässe und wohne gleichermaßen in Paris wie in Tirana. Das ändert aber nichts daran, dass ich nie etwas anderes als ein Albaner war. Sie haben ja meine Bücher gelesen - in der Literatur kann man nicht betrügen. Ich hoffe, dass wir der äußerst aggressiven ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung, die wir in den vergangenen Jahren in unserem Land erlebt haben, etwas entgegensetzen können, das stärker ist als Geld. Das gilt auch für jene arabischen Länder, in denen die Menschen revoltieren.
Sie brauchen die Unterstützung Europas, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Die jungen Leute dort müssen sich aber eins vor Augen halten: Menschen neigen, wenn sie mit bedrohlichen Entwicklungen konfrontiert sind, zu übereilten Entschlüssen und stürzen dann, obwohl sich die Dinge schon zum Besseren zu verändern beginnen, doch noch in den Abgrund.
http://www.faz.net/artikel/C30437/im-gespraech-ismail-kadare-glauben-sie-noch-an-die-nation-herr-kadare-30430661.html
Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen. Oscar Wilde