Anleger unter Strom
Erstmals in Deutschland: 160 000 Haushalte an der Westküste können sich an der Hochspannungsleitung beteiligen und mitverdienen
Heide
Schon um 5.30 Uhr ist Peter Altmaier in Berlin aufgestanden, um
rechtzeitig um 10 Uhr in Heide zu sein. Doch nicht mal die kurze Nacht
konnte ihm die Laune verderben. „Fast die gleiche Frisur haben wir
schon“, witzelt der Bundesumweltminister beim Anblick auf die ebenfalls
kahlen Schädeldecken von Ministerpräsident Torsten Albig und Tennet-Geschäftsführer
Lex Hartmann. „Wenn die beiden anderen noch ein bisschen mehr essen
würden, könnten wir uns gegenseitig vertreten“, macht der
schwergewichtige Politiker heiter weiter. Und ist beim Thema: „Um
Gemeinsamkeit – darum geht es heute.“
Eine neue Form der Partnerschaft zwischen Bürgern und Energiewende:
Die wollen die drei Offiziellen mit dem Startschuss im
Veranstaltungssaal „Tivoli“ einläuten. Ab sofort bietet der
Netzbetreiber Tennet den Anwohnern der künftigen 380KV-Freileitung
zwischen Niebüll und Brunsbüttel die Chance, an der Trasse zu
verdienen. Alle 160 000 Haushalte in Nordfriesland und Dithmarschen
bekommen dazu heute Post. Bis zum 30. August haben sie die Möglichkeit,
Bürgeranleihen an der 150 Kilometer langen Höchstspannungsleitung zu
zeichnen. Die Mindesteinlage beträgt 1000 Euro.
Zum ersten Mal in Deutschland ist so etwas möglich. „Schleswig-Holstein
schreibt Geschichte“, rühmt Altmaier dieses Modell, für das sowohl er
selbst als auch Tennet die Urheberschaft beanspruchen. Beide versprechen
sich dadurch eine erhöhte Akzeptanz der die Landschaft verändernden
Stromautobahn. Der Umweltminister bildet das Beispiel der Oma, die für
ihre Enkelin einen Anteilsschein erwirbt – und dem Mädchen nach 20
Jahren einen Grundstock für den Start ins Studium mitgibt.
Um zu zeigen, dass es nicht in erster Linie um Kapitalbeschaffung,
sondern um Bürgerbeteiligung geht, soll die Anleihe nicht mehr als 15
Prozent der Investitionssumme einsammeln. Angesichts von schätzungsweise
210 Millionen Euro Gesamtkosten geht es um eine Summe von rund 31,5
Millionen Euro.
Für Ministerpräsident Torsten Albig geht es „keineswegs darum, die
Menschen zu kaufen“. Manchen Einwand, der gegen die Freileitung auf
vielen Diskussionsveranstaltungen formuliert worden sei, wolle er gar
nicht wegdiskutieren. Aber: Die Bürgeranleihe solle zeigen, „dass der
Leitungsausbau nicht nur individuelle Nachteile, sondern ebenso
individuelle Vorteile bieten kann“. Bundesweit plant Tennet 500
Kilometer Höchstspannungsleitungen. Dass es die finanzielle Beteiligung
zunächst nur für die 150 Kilometer in Schleswig-Holstein
anbietet, erklärt Geschäftsführer Lex Hartmann damit, dass die
Diskussionen an der Westküste „realitätsnäher“ als anderswo verlaufen
seien.
Gleichwohl erhofft sich Altmaier, dass ein Erfolg des Modells auch
bei Bürgern anderenorts eine entsprechende Nachfrage hervorbringt.
Selbst aus Japan und anderen fernen Ländern sei er schon auf das Modell
angesprochen worden.
Am frühen Abend haben sich 100 erste Interessenten auf der Internetseite der Bürgerleitung registriert.
Frank Jung