Schwäbisches Tagblatt - 18.06.2008
Im Clinch um ein Credo grüner Politik
Sind sich zur Zeit gar nicht grün: der grüne Oberbürgermeister und der grüne Abgeordnete.
„Falsch, unfair und ungerechtfertigt“ – mit diesen Worten wies Boris Palmer gestern die Kritik seines Parteifreundes Winfried Hermann am geplanten Kohlekraftwerk in Brunsbüttel harsch zurück.
Es hat schon öfters geknirscht zwischen dem pragmatisch aufs Machbare konzentrierten Oberbürgermeister und dem prinzipientreuen Ökolinken im Bundestag. Aber jetzt haben sie sich auf einen handfesten Zoff eingelassen – noch dazu in der Energiepolitik, einem zentralen Aktionsfeld ihrer Partei. Konkret geht der nun offen ausgetragene Streit, wie gestern berichtet, um die Tübinger Beteiligung an dem geplanten Südweststrom-Kohlekraftwerk in Brunsbüttel.
Hermanns Kritik daran gipfelte in der Aussage: „Es ist pervers, in Brunsbüttel einen großen Schaden anzurichten, um dann mit dem Geld, das man damit verdient, in Tübingen Gutes zu tun.“ Dieser Vorwurf hat Palmer so genervt, dass er gestern prompt zurückfauchte. Die Stadtwerke, so heißt es in dem Brief an den „lieben Winne“, erzeugten ihren Strom „viel umweltfreundlicher als die Konkurrenz“, und die Gewinne kämen dem TüBus, den Bädern und der Kinderbetreuung zugute. „Wäre es für dich weniger pervers“, so fragt er seinen Kritiker, „wenn die Stadtwerke ihre Gewinne wie die EnBW an den größten Atomstromkonzern Europas ablieferten?“
Und schon geht Palmer zum Gegenangriff über: „Warum hast du in zehn Jahren Bundestag, davon sieben in der Regierung, keine Gesetze zustande gebracht, die Kohlekraftwerke wirtschaftlich unattraktiv machen? Unter Umweltminister Jürgen Trittin wurden zahlreiche Braunkohlekraftwerke gebaut. Hast du das auch als pervers gebrandmarkt?“
Die eigentliche Botschaft in Palmers Brief geht weit über den aktuellen Streit hinaus. Für ihn wird es Zeit, dass sich die Grünen von der Wunschvorstellung verabschieden, man könne den Atomausstieg bis 2020 allein mit Energiesparen und erneuerbaren Energien schaffen. Angesichts der energiepolitischen Rahmenbedingungen und der Tatsache, dass die Grünen in nächster Zeit nicht viel daran ändern könnten, müsse man sich darauf einstellen, dass es „noch auf Jahrzehnte einen erheblichen Kohlestromanteil in Deutschland geben“ werde.
In dieser Lage ist es für Palmer allemal besser, den Kohlestrom mit neuen anstatt mit alten Kraftwerken zu erzeugen – gerade auch für den Klimaschutz. Schließlich spare man 38 Prozent Energie und CO 2 ein, wenn eine alte Anlage mit einem Wirkungsgrad von 30 Prozent durch eine neue mit 48 Prozent ersetzt werde. Deshalb gehe das Bundesumweltministerium „auch davon aus, dass die Klimaschutzziele sehr wohl mit einem begrenzten Neubau von Kohlekraftwerken erreicht werden können“.