Endlich die Kurve kriegen
Vortrag "Kohle oder erneuerbare Energien“ im Rathaus
Wolfhagens Stadtwerke-Chef Martin Rühl (Zweiter von rechts) und Greenpeace-Experte Karsten Smid (Mitte) mit Falk Lutosch (rechts) und Dr. Christoph Dembowski (links), beide vom Klimabündnis, sowie Grünen-Fraktionschef Manfred Radtke
Kohlekraftwerke sind Investitionsruinen. Karsten Smid, anerkannter Klimaexperte der Umweltorganisation Greenpeace, lässt keinen Zweifel daran, was er von den in Deutschland neu geplanten KKWs hält. Und nicht nur aus betriebswirtschaftlicher Sicht seien die Kraftwerke zweifelhaft, sondern erst recht in klimapolitischer. Bei einem Info-Abend im Rathaus redete Smid Klartext zum Thema Kohle. Zweiter nicht weniger interessanter Redner des Abends war Martin Rühl, Geschäftsführer der Stadtwerke Wolfhagen (Nordhessen), die sich zum Ziel gesetzt haben, bis 2015 zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umzusteigen.
Auf die Beine gestellt wurde der Abend gemeinsam vom Klimabündnis Rotenburg sowie von den Grünen. Anlass ist die Beteiligung der Stadtwerke Rotenburg am geplanten Kohlekraftwerk Brunsbüttel. Ein Vorhaben, das weder beim Klimabündnis noch bei den Grünen auf Gegenliebe stoßt.
Dass es auch ohne Kohle geht, machte Martin Rühl in seinen Ausführungen deutlich. Wolfhagen ist mit seinen 15.000 Einwohnern in der Größenordnung immerhin grob vergleichbar mit der Wümmestadt. 100 Prozent erneuerbare Energien (EEG) für Wolfhagen, das Ganze außerdem vor Ort erzeugt – wie kann das klappen? Windkraft ist dabei ein ganz wesentlicher Faktor. "Sie ist eine der zukunftsträchtigen Energiequellen – sowohl volks- als auch betriebswirtschaftlich“, so der Stadtwerke-Chef, der mit Zahlen zur Entwicklung der Windenergie aufwartete. Hatte eine Anlage vor 15 Jahren noch eine 250-Kilowatt-Leistung und entsprach einem Äquivalent von 90 versorgten Haushalten, seien es bei heutigen 2.000 Kilowatt 1.000 Haushalte. Pilotanlagen, berichtete Rühl, hätten gar eine Leistung von 5.000 Kilowatt.
Und wie sieht es mit der Amortisation aus? Erstaunlich: "An Standorten mit gutem Windangebot beträgt die energetische Amortisationszeit nur sechs Monate“, erklärte der Referent.
Klar, dass bei den erneuerbaren Energien auch ein weiterer wesentlicher Punkt von Bedeutung ist – und zwar der Klimaschutz. Der geplante Nettoertrag der Stadt Wolfhagen liegt bei 18 Millionen Kilowattstunden (verbrauchte Strommenge von etwa 4.500 Vier-Personen-Haushalten). Mit ihrem Komplettumstieg auf EEG würde die Stadt eine CO2-Vermeidung von 10.548 Tonnen pro Jahr erreichen. Zur besseren Einordnung: Diese Zahl entspricht einer Laufleistung von 78 Millionen Kilometern eines Mittelklassewagens. "Definitv keine Peanuts“, so Rühl.
Doch seinen Energiebedarf will Wolfhagen nicht nur mit Windenergie decken. Die erwartete Entwicklung bis 2015 zeigt eine Aufteilung zwischen Windkraft (68 Prozent), Photovoltaik (14 Prozent) sowie Biomasse (18 Prozent). Und Wolfhagen will noch mehr. Neben dem Umstieg ist die Reduzierung des Strombedarfs angestrebt. "Eigentlich müsste ich als Stadtwerke-Chef ein Interesse daran haben, dass die Bürger möglichst viel verbrauchen“, meinte Rühl. So sei es aber eben nicht. Rühl definiert die Rolle von Stadtwerken nicht nur als Versorger. Auch der Klimaschutz müsse für sie ein klares Ziel sein.
Kritiker werfen den erneuerbaren Energien Unzuverlässigkeit vor. Was ist, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint? Schließlich ist Energie – zumindest in der Größenordnung des volkswirtschaftlichen Rahmens – nicht speicherbar. Rühl ist sich bewusst, dass die komplette Energiewende lange noch nicht geschafft ist. "Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut“, erklärte er. Doch es gebe genügend Ideen, an denen gearbeitet werden könne. Eine sei die Vernetzung von Regionen. Eine andere setze beim Verbraucher an. Klar sei, dass es über den Tag gesehen Spitzenzeiten gebe, an denen der Verbrauch das Angebot an aus EEG-Anlagen erzeugtem Strom übertreffe. Daher haben die Stadtwerke Wolfhagen zeitvariable Tarife im Programm. Muss die Waschmaschine gerade in der Engpassphase laufen? Wer das meint, legt für den Strom mehr auf den Tisch. Wer sparen will, hat die Möglichkeit, seinen Bedarf im Haushalt anders zu steuern.
Die Bürger, so Rühl, stehen hinter dem EEG-Umstieg. Das komme daher, dass nicht an ihnen vorbei geplant wurde, sondern sie auf dem Weg zum Projekt quasi mitgenommen wurden. Die Einwohner haben die Möglichkeit, sich als Kommanditisten an den Anlagen zu beteiligen und in guten Windjahren von einer Ausschüttung zu profitieren. Wolfhagen erhofft sich, zur Vorzeigestadt bezüglich der erneuerbaren Energien zu werden. Wichtig ist für sie auch, dass man mit der Eigenversorgung vor Ort unabhängig von den Versorgungsstrukturen der vier Großerzeuger ist, die in Deutschland den Markt beherrschen.
Windenergie – zu diesem Thema hatte auch der zweite Referent des Abend Interessantes zu sagen. Wie der Neubau von Kohlekraftwerken das Klima zerstört – so lautet die Überschrift des Vortrags von Greenpeace-Experte Karsten Smid. Bereits jetzt seien die Auswirkungen des Klimawandels deutlich spürbar. Sollen die Probleme nicht noch größer werden, müsse schnellstens gehandelt werden. "Wir müssen endlich die Kurve kriegen“, so Smid. Ziel sei die Halbierung der weltweiten CO2-Treibhausgase bis 2050. Werde mit entsprechenden Maßnahmen nicht jetzt begonnen, könnten diese Reduktionsraten nicht geschafft werden. Klar sei zudem, dass man eine unterschiedliche Einordnung von Industrieländern auf der einen und Schwellen-/Entwicklungsländern auf der anderen Seite habe. Letzteren müsse man auch ihren Fortschritt zugestehen. Heißt: Die Industriestaaten müssen – um weltweit auf die 50-prozentige Treibhausgasreduzierung zu kommen – sogar eine Reduktion von 80 bis 90 Prozent erreichen.
Geht das mit den in Deutschland zurzeit 25 neu geplanten Kohlekraftwerken? Klares Nein des Klimaexperten. Diese Anlagen würden, wenn sie ans Netz gehen, 140 Millionen Tonnen CO2 jährlich in die Luft blasen. Geschätzte Betriebszeit: vier Jahrzehnte. Doch wie will Bundesumweltminister Sigmar Gabriel wie angestrebt den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2020 in Deutschland um 40 Prozent (im Vergleich zu 1990) reduzieren? "Mit den neuen KKWs sind diese Klimaschutzziele nicht machbar“, machte Smid klar.
Wirtschaftlich werden sich die Kohlekraftwerke ebenfalls nicht rechnen, so der Experte. Die Stadtwerke warnte er vor einer Beteiligung. "Denn die kostet richtig Geld“, so Smid. Auch wenn das Investoren in dieser Deutlichkeit sicher nicht gesagt werde.
"Die Zukunft liegt in erneuerbaren Energien. Wir müssen jetzt die Weichen dafür stellen“, appellierte der Experte, der für seinen Vortrag genau wie sein Vorredner Rühl viel Applaus bekam. Im Anschluss entwickelte sich eine Diskussion zwischen den Referenten und dem Publikum. Erstaunlich: Unter den Gästen befand sich gerade mal eine gute Handvoll Ratsvertreter, die große Mehrheit glänzte – wie auch die örtlichen Stadtwerke – durch Abwesenheit. Ein Fakt, der sowohl von den Organisatoren als auch beim Publikum für Verärgerung sorgte.