Rotenburg, Leserbrief - 29.08.2008
Das alles könnte Herr Hagedorn (CDU-Fraktion Rotenburg) wissen...
Zu: Ein Stück weit autark und weniger abhängig
Endlich kommt sie in Gang, die öffentliche Diskussion über die Beteiligung der Stadtwerke an einem Kohlekraftwerk. Während bundesweit Menschen gegen die Gefahren von neuen KKW protestieren, wollte Herr Hagedorn die Rotenburger Beteiligung als geheime Kommandosache laufen lassen. Hätten die Grünen nicht in einer Ratssitzung nach dem Vorgang gefragt, hätten weder Rat noch Öffentlichkeit etwas davon erfahren.
Schade, dass Herr Hagedorn nicht bereit ist, sich über wichtige Sachverhalte zu informieren.
1. Er erweckt den Eindruck, als ob irgendjemand etwas gegen die Eigenerzeugung von Strom durch die Stadtwerke und dadurch etwas mehr Unabhängigkeit hätte. Im Gegenteil, alle politischen Parteien begrüßen das ausdrücklich.
2. Die UN-Klimaberichte, die von einigen Regierungen sogar weichgespült wurden, geben uns nur noch Zeit bis 2015, um unsere Energierzeugung umzustellen. Und wir wollen Millionen in die Technik des vergangenen Jahrhunderts investieren, damit bis etwa 2060 weitere Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre gepustet werden? Wenn der nächste Tornado einige Kilometer weiter östlich und damit über Rotenburg hinwegfegt, hat Herr Hagedorn damit natürlich nichts zu tun.
3. Die angebliche Stromlücke ist schon lange als Stromlüge entlarvt. Herr Hagedorn verschweigt, dass die Studie der Deutschen Energieagentur pikanterweise ausgerechnet von E.on, RWE, Vattenfall und EnBWE beauftragt wurde. Jenen Konzernen, die 80 Prozent des Marktes beherrschen und ein großes Interesse daran haben, dass sich an den Strukturen im Energiebereich nichts ändert. Die Studie ist schon lange durch Bundesumweltministerium, Umweltbundesamt und vor wenigen Tagen dem Bundeswirtschaftsministeriums widerlegt.
4. Herr Hagedorn spielt mit den Ängsten der Menschen, dass eines Tages die Lichter ausgehen. Hätte er sich informiert wüsste er, dass Deutschland jede Menge Strom exportiert. 2006 und 2007 etwa 19 Milliarden Kilowattstunden, in diesem Jahr werden es voraussichtlich 25 Milliarden sein. Und das, obwohl Atomkraftwerke wie Krümmel und Brunsbüttel seit über einem Jahr stillliegen. Etwa sechs Großkraftwerke produzieren ausschließlich für den Export.
5. Er behauptet, dass 2020 ein Restbedarf von 70 Prozent aus fossilen Anlagen und Kernkraftwerken gedeckt werden muss. Auch das ist falsch. Zu dem Zeitpunkt sollen mindestens 30 Prozent aus erneuerbaren Energien und 25 Prozent aus Kraft-Wärme-Kopplung kommen. Unter Berücksichtigung von elf Prozent Einsparungen (Vorgabe der EU und Meseberger Beschlüsse der Bundesregierung) bleibt mithin ein Rest von höchstens 35 Prozent. Nebenbei: Unsere Regierung hat 25.000 MW Offshore-Windenergie genehmigt, alle Atomkraftwerke haben nur 21.000 MW. Und die erneuerbaren Energien wachsen so schnell, dass sie jedes Jahr ein AKW ersetzen.
6. Ach ja, die neue Anlage ist unglaublich umweltfreundlich – 35 Prozent weniger CO2 als alte Anlagen. Leider auch falsch. Bereits Mitte der 80er Jahre betrug der durchschnittliche Wirkungsgrad aller in Betrieb befindlichen Kraftwerke 38 Prozent, mit Bestwerten von 43 Prozent. Wenn eine neue Anlage 47 Prozent erreicht, wird immer noch mehr als die Hälfte der eingesetzten Energie ungenutzt an die Umwelt abgegeben. Mehr als zwei Millionen Tonnen Kohle, um den halben Globus nach Brunsbüttel transportiert, haben nur den Zweck, die Elbe aufzuheizen. Eine gigantische Verschwendung von Rohstoffen. Und welche Altanlage wird von der Südweststrom eigentlich stillgelegt?
7. Die Anlage in Brunsbüttel wird neben Hunderten von Kilo Cadmium, Thallium, Nickel, Blei, Dioxinen und Furanen Tonnen von Feinstaub und neun Zentner Quecksilber austoßen. Jährlich wohlgemerkt. Was haben wir für ein Glück, dass der Dreck aus "unserem“ Kraftwerk auf die Menschen dort fällt!
8. Ich bewundere den Optimismus, dass wir in Zukunft günstigen Strom beziehen werden. Nach einer Wirtschaftlichkeitsberechnung der Fichtner Management Beratung AG kann das geplante Kraftwerk in der Vollkostenrechnung bis mindestens 2017 nicht wirtschaftlich betrieben werden. Und danach auch nur unter der Annahme äußerst optimistischer Strompreis-, Brennstoffkosten und CO2-Zertifikatspreis-Entwicklungen. Das zeigt die enormen finanziellen Risiken dieses Projekts. Nach Angaben der Bundesregierung ist Strom aus erneuerbaren Energien dann sogar günstiger als Kohlestrom.
9. Die Geld gebenden Banken erwarten eine Rendite von 9,7 Prozent. "Das Fremdkapital wird unter anderem durch langfristige Abnahmeverträge zum Erzeugungspreis des Stromes mit den Gesellschaftern abgesichert,“ schreiben die Stadtwerke Konstanz in einer Vorlage an den dortigen Stadtrat. Das heißt: Ganz egal wie teuer der Strom produziert wird und ob er auf dem Markt verkäuflich ist: Rotenburg muss ihn abnehmen! Konstanz ist unter anderem deswegen aus dem Projekt ausgestiegen.
10. Wegen der Unwirtschaftlichkeit von neuen Kohlekraftwerken sind zum Beispiel folgende Stadtwerke und Unternehmen bereits aus der Südweststrom oder eigenen Planungen ausgestiegen: Konstanz, Hammelburg, Ravensburg, Bremen, Kiel, Köln, München, Bielefeld, RWE und STEAG. In Mainz hat die CDU beschlossen, statt eines Kohle- ein Gas- und Dampfkraftwerk zu bauen. In Krefeld weigern sich CDU und Grüne, einen Bebauungsplan zu ändern und damit den Bau eines KKW zu ermöglichen. In Berlin haben alle Fraktionen den Bau eines KKW durch Vattenfall abgelehnt. In Schleswig-Holstein macht die SPD von der Landtagsfraktion bis hinunter zu den Gemeinden Front gegen die Kraftwerkspläne in Brunsbüttel.
Das alles könnte Herr Hagedorn wissen. Er weigert sich aber, das zur Kenntnis zu nehmen. Mehr als neun Millionen Euro städtischen Vermögens, so die neuesten Zahlen des Kieler Wirtschaftsministeriums, will er in ein Projekt stecken, das die hier nur ansatzweise genannten Folgen für Klima und Gesundheit der Menschen haben würde. Und von dem bisher nichts bekannt ist: keine Wirtschaftlichkeitsrechnung, kein Vertragsentwurf, kein Strombezugspreis. Absolut nichts!
Manfred Radtke, Fraktionschef der Rotenburger Grünen