Der CEO der Nummer fünf unter den Schweizer Stromversorgern hält die Eingriffe der Politik in den eben erst liberalisierten Strommarkt für überstürzt. Jetzt drohe eine Überregulierung des Strommarktes. Halte die Rechtsunsicherheit an, stoppe die Branche die Kraftwerkinvestitionen.
Der «kleinste unter den grössten Energieversorgern der Schweiz»: So charakterisiert sich Rätia Energie selber. Die derzeitige Nummer fünf im Land legte in den letzten Jahren ein erstaunliches Wachstum hin: 2004 betrug der Umsatz 567 Mio Fr., 2007 lag er bereits bei 1,8 Mrd Fr. Entsprechend ihrem Standort im gebirgigen und grenznahen Puschlav ist die Rätia stark in der Wasserkraft und im Stromhandel mit Italien. In die Schlagzeilen geriet sie in den letzten Monaten, weil sie in Deutschland ein Kohlekraftwerk bauen will.
Über fünf Stunden benötigte ich, um von Zürich an Ihren Hauptsitz in Poschiavo zu gelangen. Wie locken Sie die benötigten Mitarbeiter hierher ans Ende der Schweiz? Bezahlen Sie besonders gut?
Kurt Bobst: Wir bezahlen wohl durchschnittliche Löhne. Die Rekrutierung ist aber tatsächlich eine Herausforderung. Doch Poschiavo hat viele Vorteile. Die Lebensqualität ist sehr hoch, Mailand ist nahe. Zudem haben wir Niederlassungen im Rest der Schweiz und im Ausland.
Sie sagten beim letzten Halbjahresabschluss, die Rätia werde 2008 die Resultate des guten Jahrs 2006 wiederholen - und nicht jene des weniger starken 2007. Schaffen Sie das?
Bobst: Wir sind gut auf Kurs.
2006 lag der Gewinn bei 100 Mio Fr.
Bobst: Auch hier sieht es für 2008 gut aus.
Im 1. Semester 2008 steigerten Sie den Umsatz um 10% auf 916 Mio Fr. Wie lief es im 2. Semester?
Bobst: Wir gehen davon aus, dass wir diese Steigerungsrate beibehalten konnten.
Ihr Stromabsatz ging im 1. Semester wegen einer Kraftwerkssanierung um 17% zurück.
Bobst: Diesen Produktionsausfall konnten wir wieder wettmachen. Hingegen ist der Stromabsatz mengenmässig etwas tiefer.
Weshalb?
Bobst: Das liegt vor allem an den Volumina im Handelsgeschäft; die Finanzkrise führt dazu, dass nicht mehr so viel Liquidität vorhanden ist. Zudem sind die Märkte wegen der gewaltigen Volatilität der Preise verunsichert.
Der Schweizer Strommarkt ist für Grosskunden seit Jahresanfang liberalisiert. Es ist aber kaum möglich, im Gesetzeswirrwarr den Überlick zu behalten.
Bobst: Ja, bei der Liberalisierung herrscht ein Chaos. Wir haben uns aufgrund des Stromversorgungsgesetzes auf die Liberalisierung vorbereitet. Wir gingen davon aus, dass wir in einem rechtssicheren Raum sind. Nachdem die Versorger ihre Tarife - die vermutlich in den meisten Fällen sauber gerechnet sind - angepasst hatten, ergriff die Politik Sofortmassnahmen.
Aber die Preiserhöhungen vieler Strom-versorger fielen doch viel zu hoch aus.
Bobst: Nicht unbedingt, es gab in den letzten zehn Jahren in der Schweiz ja kaum Tariferhöhungen; auch darum kamen die Reaktionen der Politik auf die angekün-digten Preiserhöhungen überstürzt. Jetzt wird die Liberalisierung mehr und mehr zur Überregulierung. Ich fürchte, dass die Branche wegen der Rechtsunsicherheit die Investitionen zurückhält.
Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Expandieren Sie nicht wie alle anderen im Ausland, sondern in der Schweiz: Die unter den 900 hiesigen Stromversorgern anstehende Strukturbereinigung bietet Chancen.
Bobst: Wir sind derzeit daran, in der Schweiz unsere Stromproduktion auszubauen. Zudem sind wir offen für Kooperationen oder Beteiligungen. Im Ausland expandieren wir, weil wir uns auch dort eine vertikal integrierte Position schaffen wollen: Wir möchten ebenfalls in der gesamten Wertschöpfungskette - Produktion, Vertrieb und Handel - tätig sein. Das stärkt unsere Gesamtposition auf dem Markt.
Bezüglich der Schweiz sprechen Sie von Kooperationen, nicht von Übernahmen.
Bobst: Wir sind Zusammenschlüssen gegenüber nicht abgeneigt, suchen aber nicht aktiv.
Ein grosser Stromversorger kann sich also nicht mehr auf die Schweiz konzentrieren?
Bobst: Nein, denn die Schweiz ist nicht autark. Wir haben im Sommer zwar genügend Eigenproduktion, nicht aber im Winter. Und die Nutzung der Windenergie zieht nach sich, dass Spitzenenergie benötigt wird. Die Schweiz kann mit ihren Speicherseen einen sehr wichtigen Beitrag leisten, um die Schwankungen der Wind- energie auszugleichen.
Heute verdient die Rätia viel Geld mit der sogenannten Stromveredelung, für die nachts mit günstiger ausländischer Energie die Speicherseen gefüllt werden. Die dafür nötige, günstige Energie aus dem Ausland könnte aber knapp werden.
Bobst: Dieser Umstand wird im Moment leider ausgeblendet, weil man denkt, dieser Ausgleich könne mit Windenergie gemacht werden. Wind liefert zweifellos einen wichtigen Beitrag an die Energieversorgung. Aber wir brauchen auch Grundlastkraftwerke - etwa ein KKW - für den Fall, dass der Wind einmal nicht bläst.
Der Markt Italien ist für Sie sehr wichtig. Dort haben Sie die Firma Dynameeting übernommen, die im KMU-Markt Strom vertreibt. Die Firma machte 2007 einen Verlust. Wie sieht es jetzt aus?
Bobst: Dynameeting hat eine sehr starke Position im KMU-Segment. Die Firma machte 2008 eine sehr gute Entwicklung durch, weil wir neu auch Zugriff haben auf eigene Produktionsstätten in Italien.
Sie rechnen aber noch immer damit, dass die Dynameeting erst ab 2010 einen positiven Beitrag ans Geschäftsergebnis leistet.
Bobst: Diese Aussage bleibt gültig.
Die Leitung der Rätia Energie über den Bernina ins Hochpreisland Italien ist für ihre Firma von höchster Bedeutung. Sie soll ab 2011 der Swissgrid gehören. Doch ist die Leitung nicht schlicht und einfach unbezahlbar?
Bobst: Das ist so. Die Meinungen darüber, zu welchem Wert wir die Leitung an die Swissgrid übertragen sollen, gehen weit auseinander. Wir planten sie zu einer Zeit, als niemand über die Liberalisierung und eine nationale Netzgesellschaft sprach, und als das internationale Geschäft noch nicht so lukrativ war wie heute.
Muss die Rätia ihr Geschäftsmodell ändern, wenn sie nicht mehr von diesem Engpass profitieren kann?
Bobst: Wenn die Leitung an die Swissgrid übergeht, müssen wir wie alle anderen Stromhändler die Transportkapazitäten ersteigern. Das ist ein Grund, weshalb wir im Ausland Produktionsanlagen schaffen: So haben wir grössere Flexibilität. Wenn alle von Norden nach Süden exportieren wollen, wir aber im Süden bereits Strom produzieren, sind wir im Vorteil.
Die Rätia ist wegen der Beteiligung an einem geplanten Kohlekraftwerk im deutschen Brunsbüttel in die Schlagzeilen geraten. Wo steht das Vorhaben heute?
Bobst: Derzeit diskutieren wir die Vertragsdetails mit der Firma Südweststrom sowie den Umfang unserer Beteiligung. Wir dürfen dabei auf die grundsätzliche Unterstützung der Bündner Regierung für unsere Strategie zählen - der Kanton Graubünden ist mit 46% an Rätia Energie beteiligt.
Wie sehen Sie die Gefahr, dass das Projekt auf dem politischen Weg verhindert wird?
Bobst: Wir halten uns an alle Umweltgesetze. Deutschland produziert heute einen ganz substanziellen Teil seiner Energie mit Kohle. Insbesondere wenn das Land aus der Atomenergie aussteigt, kann es künftig nicht auf Kohle und Gas verzichten. Solange die Gegebenheiten sind, wie sie sind, sehe ich nicht ein, weshalb wir dort nicht in Kohlekraft investieren sollen. Käme es zu einem Investitionsmoratorium, würde das faktisch festlegen, dass Schweizer Energiefirmen nur in bestimmte Technologien investieren dürfen. Das wäre ein massiver Eingriff in die marktwirtschaftlichen Grundsätze der Schweiz.
Über Solarstrom liest man in Ihren Hochglanzbroschüren hingegen wenig.
Bobst: Die Solartechnologie ist im Moment nicht Teil unserer Strategie, weil sie noch nicht ausgereift ist. Wir konzentrieren uns auf Wind. Wir sind das erste Schweizer Unternehmen, das im Ausland einen Windpark am Netz hatte. Und wir entwickeln weitere solche Projekte.
Die Rätia Energie will sich auch an einem neuen Schweizer KKW beteiligen. Derzeit wird kritisiert, dass sich die Strombranche nicht auf ein Projekt einigen kann.
Bobst: Als die Strombranche vor Jahren geeint an solche Projekte heranging, sprach man in der Öffentlichkeit von der «Stromlobby», die keine Konkurrenz zulasse. Jetzt stellt man drei Projekte vor, von denen man eines oder zwei realisieren will - und es ist auch wieder nicht recht. Das Vorgehen der Strombranche ist ganz normal. In Deutschland gibt es derzeit 25 Projekte für grosse Kohlekraftwerke. Von denen werden wohl 10 oder 15 realisiert.
Warum vergessen wir die KKW nicht und kaufen künftig Strom im Ausland?
Bobst: Das wäre keine gute Idee. Deutschland spricht vom Atomausstieg, Frankreich hat wenig Interesse am Bau von thermischen Anlagen. Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass die Schweiz den Strom künftig importieren kann.