Handelsblatt - 28.04.2008
Rechnung mit Unbekannten
Lange schien die Aufgabenverteilung im deutschen Energiemix klar: Kohle und Kernenergie für die Grundlast, Gas zur Abdeckung von Verbrauchsspitzen. Doch neben der nach wie vor umstrittenen Atomkraft geraten zunehmend auch neue Kohlekraftwerke in Misskredit. Kann Erdgas den Enegieträger Kohle dauerhaft ersetzen?
DÜSSELDORF. Auf der umstrittensten Baustelle Deutschlands laufen die Arbeiten auf Hochtouren weiter. Bagger, Lastwagen, Kräne und über 200 Arbeiter legen schon das Fundament für das von Vattenfall in Hamburg-Moorburg geplante Steinkohlekraftwerk. Dabei ist das Projekt längst zum Synonym für einen energiepolitischen Richtungsstreit geworden: Ist Deutschland in der Energieversorgung auf Kohlekraftwerke angewiesen? Lässt sich der Energieträger Kohle selbst in der Erzeugung von Strom zur Deckung der Grundlast – des von Schwankungen unabhängigen Grundbedarfs – durch Gas ersetzen?
Das behaupten die Grünen. Sie wollen in der neuen Hamburger Koalition mit der CDU das Projekt kippen und mit einer Ausschreibung einen alternativen Anbieter finden. Vattenfall ist sich dagegen sicher, dass sich das nicht rechnet. Doch die Rechnung hat viele Unbekannte.
Bislang war die Aufgabenverteilung klar: Kohle wird neben der Kernenergie für die Grundlast eingesetzt, Gas zur Abdeckung von Verbrauchsspitzen. „Erdgaskraftwerke sind technisch zwar grundsätzlich grundlastfähig“, sagt Hans-Wilhelm Schiffer, zuständig für energiewirtschaftliche Analysen bei RWE Power. Weil sie leicht zu regeln sind, dass heißt schnell hoch- und runter gefahren werden können, kämen ihre Vorteile aber besonders in der Mittel- und Spitzenlast zum Tragen.
Auch wirtschaftlich macht die Aufgabenverteilung bislang Sinn. Grundlastkraftwerke dürfen im Bau zwar teurer sein, müssen aber geringere Brennstoffkosten haben, um sich zu rechnen – schließlich laufen sie praktisch rund um die Uhr. Und: „Tendenziell war Kohle bisher von den Investitionskosten teurer und vom Betrieb günstiger als Gas“, sagt Dietmar Lindenberger, Geschäftsführer des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität zu Köln.
Die Varianten für neue Kraftwerke.
Das Marktforschungsinstitut Trendresearch beziffert die Kosten für den Bau eines Kohlekraftwerks zur Zeit auf bis zu 1 700 Euro je Kilowatt (KW) Leistung. Gasanlagen kosten 500 Euro je KW. Hinzu kommen bei Gas in der Regel noch 300 bis 400 Euro je KW für langfristige Serviceverträge. Nach den Worten von RWE-Experte Schiffer sind die Brennstoffkosten bei Gas aber doppelt so hoch wie die bei Kohle. Auch gibt es bisher keine Pläne für ein Gaskraftwerk, das so groß ist wie Vattenfalls 1 600 Megawatt starke Anlage.
Die Stadtwerke Kiel haben jüngst vom Öko-Institut und der Beratungsgesellschaft Enerko aufgrund von Preisprognosen für die unterschiedlichen Energieträger mehrere Varianten für ein neues Kraftwerk durchrechnen lassen, das wie im Fall Moorburg neben Strom auch Wärme liefern soll. Am technisch und wirtschaftlich sinnvollsten erwies sich ein 800-MW-Kohlekraftwerk. Überwiegend mit Erdgas betriebene Anlagen würden dagegen „keine oder nur eine unzureichende Rendite“ erwirtschaften, lautet das Fazit (siehe „Kiel spielt die Varianten durch“).
Aber ob das Verhältnis wirklich so bleibt? „Das hängt nicht nur von der künftigen Entwicklung der Gas- und der Kohlepreise ab, sondern auch von den CO2-Preisen“, sagt Lindenberger: „Und um das zu prognostizieren, bräuchte man eine Glaskugel.“
Befürworter von Kohleanlagen verweisen vor allem auf die unsicheren Bezugsquellen für Gas. Deutschland bezieht einen Großteil seines Gases aus Russland, dass in der Vergangenheit schon mehrfach seine Macht als Gaslieferant demonstriert hat. Zudem ist der Gas- an den Ölpreis gekoppelt und der kennt zur Zeit nur eine Richtung – er steigt konstant und steil an. Im Februar wurde Erdgas gemessen am Brennwert einer Tonne Steinkohle zu einem Preis von 198 Euro importiert, Steinkohle kostete je Tonne nur 91 Euro. Verglichen mit 2004, als der Preisanstieg an Fahrt gewann, müssen die Gasimporteure 89 Prozent mehr bezahlen – allerdings ist im selben Zeitraum auch der Preis für Steinkohle um 65 Prozent geklettert.
Die Folgen der schärferen Klimaschutzauflagen.
Deutlich verengen dürfte sich die Schere in den Betriebskosten durch die schärferen Klimaschutzauflagen ab 2012, wenn die Versorger die Zertifikate, die sie für die Emission des klimaschädlichen CO2 benötigen, nicht mehr umsonst bekommen und Kohlekraftwerke schlechter ausgestattet werden. Dann kommen auf die Betreiber von Stein- und Braunkohlekraftwerken höhere Kosten zu, weil diese vergleichsweise viel CO2 ausstoßen. Zwar setzen neue Kohlekraftwerke inzwischen die eingesetzte Energie effizienter in Energie um. RWE baut etwa im westfälischen Hamm ein 1 600 Megawatt starkes Steinkohlekraftwerk mit einem Wirkungsgrad von 46 Prozent. Verglichen mit alten Anlagen, deren Wirkungsgrad im Schnitt bei 32 bis 33 Prozent liegt, wird dadurch der CO2-Ausstoß um etwa 2,5 Millionen Tonnen jährlich bei gleicher Stromproduktion verringert. Eon forscht schon an einer Anlage mit einem Wirkungsgrad von 50 Plus. Gaskraftwerke werden aber trotzdem überlegen bleiben.
Die große Hoffnung der Kohlelobby ist die Vision vom CO2-freien Kohlekraftwerk. RWE und Vattenfall forschen eifrig an der Abscheidung des CO2 in der Stromproduktion, das dann in unterirdischen Speichern gelagert werden soll. Ob aus der Vision aber Wirklichkeit wird, steht noch in den Sternen. Technisch ist das zwar machbar, aber hinter der Wirtschaftlichkeit stehen dicke Fragezeichen. Zudem rechnet die Branche mit erheblichen Widerständen in der Öffentlichkeit gegen die Endlagerung des CO2.
Der Bau eines Großkraftwerkes ist eben eine Rechnung mit vielen Unbekannten, was viele Investoren zögern lässt. Schließlich liegen die Investitionskosten im Milliardenbereich – und die Anlage soll Jahrzehnte stehen. Die Stadtwerke Kiel haben ihre Entscheidung deshalb um drei Jahre verschoben – das Management will abwarten, wie sich die Forschung an der CO2-freien Kohletechnologie entwickelt.
Die Vattenfall-Führung glaubt, dass ihm die aktuelle Unsicherheit in die Hände spielt. Es werde sich kein Investor finden lassen, der sich auf ein großes Gaskraftwerk in Hamburg einlassen wird, gibt sich das Management überzeugt. Und es pocht auf die Genehmigung des umstrittenen Projekts – obwohl die zuständige Behörde künftig von einer grünen Senatorin geführt wird.