3.12.2008
Leben mit Ultragiften
Die Leverkusener Bayer AG produziert weltweit hochgefährliche Gase in dichtbesiedelten Regionen. Unfälle werden heruntergespielt, über Gefahren wird kaum informiert
Der Tod kam im Schlaf. Mindestens 3800 Menschen starben in den frühen Morgenstunden des 3.Dezember 1984, als im indischen Bhopal knapp 30 Tonnen Giftgas aus einer maroden Chemiefabrik austraten. Insgesamt forderten die Vergiftungen rund 20000 Menschenleben, etwa eine halbe Million Personen erlitten Gesundheitsschäden. Bis heute führen die damals ausgetretenen Chemikalien zu Mißbildungen, Nervenleiden, Unfruchtbarkeit und Erblindung.
Noch immer lagern auf dem Werksgelände giftige Chemikalien, von denen Gefahren für die Anwohner ausgehen. Die Firma Union Carbide, Betreiber der Fabrik in Bhopal, wurde mittlerweile vom US-Konkurrenten Dow Chemicals aufgekauft. Mit Hinweis auf einen in den 80er Jahren ausgehandelten Vergleich weigert sich das Unternehmen, jegliche Verantwortung für die Schäden zu übernehmen. Bei den Opfern ist bis heute so gut wie keine Entschädigung angekommen, auch fehlt es an medizinischer Betreuung für die Betroffenen.
Todeschemikalie MIC
Nach der Katastrophe in Indien richteten sich die Augen der Öffentlichkeit auf eine Pestizidfabrik in der US-amerikanischen Stadt Institute/West Virginia. Auch dort wurden große Mengen der in Bhopal ausgetretenen Chemikalie Methylisocyanat (MIC) produziert und gelagert. Die Fabrik gehörte ebenfalls zu Union Carbide und galt als »Schwesterwerk« der Anlage in Bhopal.
Direkt neben den Chemieanlagen in Institute befinden sich ein Wohnviertel und die hauptsächlich von Schwarzen besuchte West Virginia State University. Allen Beteuerungen der Werksleitung zum Trotz, derzufolge von der Fabrik keine Gefahren ausgingen, ereignete sich nur wenige Monate nach dem Bhopal-GAU auch in Institute ein schwerer Unfall: Rund zwei Tonnen giftiger Chemikalien, darunter das hochgefährliche Pestizid Aldicarb, zogen in einer brennenden Wolke über die Wohnviertel. Rund 200 Anwohner mußten stationär behandelt werden. In den Jahren 1994 und 1996 – das Werk gehörte mittlerweile zur französischen Firma Rhône-Poulenc – ereigneten sich die nächsten großen Störfälle in Institute. Wieder traten große Mengen Chemikalien aus, Teile der Pestizidproduktion wurden zerstört. Ein Arbeiter starb unmittelbar, mindestens ein weiterer erlag den Spätfolgen. Die US-Behörde für Arbeitssicherheit Safety and Health Administration (OSHA) verhängte wegen »vorsätzlicher Verletzung von Sicherheitsbestimmungen« eine Strafe von 1,7 Millionen Dollar.
Im Jahr 2001 wurde die Fabrik nahe der Großstadt Charleston von der deutschen Bayer AG übernommen. Während in den deutschen Bayer-Werken nach dem Störfall von Bhopal die Menge gelagerter Ultragifte wie Phosgen oder MIC reduziert wurde, blieben die Vorratstanks in Institute bestehen. Heute befindet sich hier das einzige Werk in den USA, in dem MIC in großen Mengen produziert und in Depots zwischengelagert wird. Mindestens die doppelte – möglicherweise gar die vierfache – Menge der in Bhopal ausgetretenen Chemikalie lagert ständig in der Fabrik; genauere Angaben verweigert die Werksleitung. Auch zwischen fünf und 50 Tonnen des Giftgases Phosgen, das im Ersten Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt wurde, sind hier deponiert. Ein Worst-case-Szenario kam 1994 zu dem Ergebnis, daß im Falle eines GAU in einem Umkreis von bis zu fünfzehn Kilometern tödliche Vergiftungen auftreten könnten.
Schon im Normalbetrieb entweichen aus der Fabrik in Institute große Mengen gefährlicher Stoffe. Nach Angaben der US-Umweltbehörde blies das Werk im vergangenen Jahr mehr als 300 Tonnen Chemikalien und Schadstoffe in die Luft. Die Anlage ist für 90 Prozent der gelagerten Menge an MIC und gar 95 Prozent der MIC-Emissionen der gesamten USA verantwortlich.
Bereits in den 80er Jahren gründeten Anwohner in Institute die Gruppe People Concerned About MIC (Gruppe der MIC-Betroffenen), die seitdem für mehr Sicherheit kämpft. Wichtigste Forderung ist eine drastische Verringerung der gelagerten MIC-Mengen. »Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an die Unmenge der hier gelagerten Chemikalien denke«, so die Anwältin Wendy Radcliff, eine der Gründerinnen von People Concerned About MIC. Ihre Mitstreiterin Maya Nye ergänzt: »Unsere Gemeinde ist seit 1947 eine Art Versuchskaninchen der Chemieindustrie. Nach Störfällen werden weder bei Arbeitern noch bei Anwohnern Langzeituntersuchungen durchgeführt. Kommt es Jahre später zu einer Erkrankung, ist es quasi unmöglich, einen Zusammenhang nachzuweisen. Die Tatsache, daß die Produktion von Chemikalien ohne Kenntnis der langfristigen Risiken erlaubt wird, ist eine Ungerechtigkeit, für die es nur wenige Parallelen gibt.«
Zusammen mit der Coordination gegen BAYER-Gefahren reichten die Anwohner der Fabrik einen Gegenantrag zur diesjährigen Hauptversammlung der Bayer AG in Köln ein. Darin wiesen sie auf die häufigen Störfälle in Institute hin und forderten einen Abbau der Phosgen- und MIC-Lager. Bayer-Chef Werner Wenning wies jedoch in der Versammlung vor rund 4000 Aktionären jeglichen Handlungsbedarf zurück. Die Anlagen entsprächen den neuesten Sicherheitsstandards und hätten eine ausgezeichnete Störfallbilanz.
Erneuter Störfall
Exakt vier Monate später, am 28. August 2008, kam es im Werk Institute zum nächsten schweren Unfall. In der Pestizidproduktion explodierte ein Tank, über der Anlage stieg ein Dutzende Meter hoher Feuerball auf. Zwei Arbeiter verloren das Leben. Tausende Einwohner der benachbarten Städte wurden aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen. Die Erschütterungen waren in einem Umkreis von mehr als 15 Kilometer zu spüren, Augenzeugen sprechen von »Schockwellen wie bei einem Erdbeben«. Eine nahegelegene Autobahn wurde geschlossen.
Kent Carper, Präsident des zuständigen Verwaltungsbezirks Kanawha County, übte noch in der Unglücksnacht scharfe Kritik an Bayer: »Wir bekommen aus dem Werk vollkommen wertlose Informationen.« Über Stunden hinweg hatten die Sicherheitskräfte versucht, Informationen zu den entwichenen Stoffen zu erhalten, waren jedoch vom Pförtner (!) abgewimmelt worden. In einem Brief an die staatliche Aufsichtsbehörde Safety Board kritisierte Kent Carper, daß die Rettungskräfte erst zweieinhalb Stunden nach der Explosion über die Menge und die Gefährlichkeit der ausgetretenen Chemikalien informiert wurden. Im Falle eines Austritts von MIC oder Phosgen hätte den Anwohnern nicht geholfen werden können. Auch die Arbeitsschutzbehörde OSHA verzeichnete nach einer Inspektion erneut »signifikante Mängel der Sicherheitsabläufe« im Werk.
Bayer-Sprecher wiegelten ab und wiesen darauf hin, daß die großen MIC-Tanks in einem anderen Teil der Fabrik untergebracht seien. Wochen später stellte sich jedoch heraus, daß sich weniger als 20 Meter vom Explosionsort entfernt ein kleinerer MIC-Behälter befindet. Im Fall seiner Beschädigung wäre das Leben weiterer Arbeiter in höchster Gefahr gewesen.
Zwar entschuldigte sich die Werksleitung unterdessen für die Kommunikationspannen. Grundsätzliche Konsequenzen zieht das Unternehmen allerdings nicht, die Produktion auf MIC- und Phosgen-Basis bleibt bestehen. Maya Nye von People Concerned About MIC meint dazu: »Was den Schutz der Anwohner angeht, ist Bayer wirklich skrupellos. Die Firma mag es überhaupt nicht, wenn sie kritisiert wird – besonders, wenn dies öffentlich geschieht. Die Werksleitung droht dann mit Abwanderung und dem Verlust von Arbeitsplätzen, um Streit zwischen Arbeitern und Anwohnern zu schüren. Leider wirkt diese Drohung, weil es keine alternativen Arbeitsplätze in der Gegend gibt.«
Die Öffentlichkeitsarbeit des Konzerns läuft derweil auf Hochtouren. Für das Krisenmanagement wurde eigens eine PR-Agentur angeheuert. Die Kritik an der Sicherheit des Werks wird derweil als unseriös abgetan. Zu einer Bürgerversammlung von People Concerned About MIC, an der über 100 Anwohner teilnahmen, entsandte die Firma trotz Anfrage keinen Vertreter. »Die Werksleitung tut so, als ob wir ultraradikal wären. Der Informationsabend des Unternehmens wurde von drei bewaffneten Sicherheitskräften bewacht! Zum Glück sind die Repräsentanten der umliegenden Gemeinden aufgrund der mangelhaften Informationspolitik von Bayer ebenfalls verärgert– hierdurch wird unsere »Radikalität« etwas relativiert«, so Nye weiter.
Als Konsequenz aus der Bhopal-Tragödie beschloß der amerikanische Kongreß Ende der 80er Jahre den Right-to-Know-Act. Das Gesetz verpflichtete die Industrie, für jede Fabrik eine Aufstellung der produzierten und gelagerten Chemikalien sowie Gefahrenpläne zu veröffentlichen. Zudem wurde das Toxics Release Inventory (TRI) geschaffen. Darin dokumentiert die US-Umweltbehörde für jedes Werk den Umfang der deponierten und der in die Luft emittierten Schadstoffe. Erfaßt werden 650 Chemikalien und über 20 000 Anlagen, die Daten werden im Internet veröffentlicht. Durch den unkomplizierten Zugriff steigt der Druck von Anwohnern, Umweltverbänden und Medien, den Ausstoß zu senken.
In Deutschland existiert bis heute keine vergleichbare Aufstellung. Die Öffentlichkeit ist oftmals auf freiwillige Veröffentlichungen der Firmen angewiesen. Immerhin sind durch das europäische Schadstoffregister EPER die Emissionen der größten Werke bekannt. Informationen über Störfälle werden aber nur unzureichend gesammelt und oftmals anonymisiert, also ohne Angabe der jeweiligen Firma veröffentlicht. Zwar müssen die Unternehmen nach der Störfallverordnung über die Gefahren der produzierten Stoffe informieren – in den Firmenpublikationen finden sich aber weder Angaben zu Sicherheitsplänen noch Informationen zur Menge gelagerter und produzierter Gefahrstoffe.
Dabei kommt es auch in der deutschen Chemieindustrie regelmäßig zu schweren Unfällen. Das Risiko ist zum großen Teil hausgemacht. Die Belegschaften werden seit Jahren ausgedünnt, für viele Unfälle sind steigende Arbeitsbelastung und Sparmaßnahmen verantwortlich. Und ausgerechnet in sicherheitsrelevanten Abteilungen werden Kosten reduziert. Meßwagen zum Aufspüren von austretenden Chemikalien werden abgeschafft, Sicherheitspersonal wird eingespart, in mehreren Werken wurde gar die Werksfeuerwehr geschlossen. Nach Meinung des Umweltbundesamts besteht dringend Handlungsbedarf. Eine bessere Wartung der Anlagen, intensivere Schulungen der Mitarbeiter sowie ausreichendes Personal könnten die Zahl der Störfälle und die damit verbundenen Schäden deutlich verringern.
Phosgenproduktion auch in der BRD
In Deutschland wird das in Bhopal ausgetretene Gas Methylisocyanat nicht in großen Mengen eingesetzt. Dafür werden Jahr für Jahr Zehntausende Tonnen des kaum minder gefährlichen Phosgen produziert. Größter deutscher Hersteller ist der Bayer-Konzern. Die Firma setzt Phosgen als Vorprodukt in der Kunststoffproduktion ein.
Anfang Oktober kündigte Bayer an, in den Werken Dormagen und Brunsbüttel die Herstellung der Chemikalie Toluylendiisocyanat (TDI) stark auszuweiten. TDI ist ein Vorprodukt von Polyurethan, das u. a. in Schaumstoffen, Dämmmaterialien und Lacken verwendet wird. In Dormagen soll die TDI-Produktion auf jährlich 300000 Tonnen verfünffacht werden, im Werk Brunsbüttel sollen statt 160000 bis zu 400000 Tonnen hergestellt werden. Beide Erweiterungen hat Bayer jedoch noch nicht bei den Behörden beantragt. Im Werk Krefeld will das Unternehmen zusätzlich die Produktion von Polycarbonat vergrößern. Polycarbonate werden bei der Herstellung transparenter Kunststoffe eingesetzt, u.a. für CDs und Wasserflaschen.
In der TDI- und Polycarbonat-Herstellung werden große Mengen Phosgen verwendet, durch die geplanten Erweiterungen würde die benötigte Phosgen-Menge entsprechend steigen. Die Coordination gegen BAYER-Gefahren und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) forderten den Konzern in einer Stellungnahme auf, phosgenfreie Verfahren zur Produktion von Kunststoffen zu entwickeln. Nur so ließe sich die Gefährdung der Anwohner und der Belegschaft verringern. Technisch wäre es möglich, Polyurethan auch ohne Phosgen herzustellen, Bayer hat entsprechende Verfahren jedoch nicht zur Produktionsreife entwickelt bzw. hat die notwendigen Patente nicht erworben. Im Fall von Polycarbonat werden phosgenfreie Anlagen sogar schon eingesetzt. Dennoch will Bayer in beiden Fällen weiter auf Phosgen setzen – bei einer Lebensdauer der Anlagen von bis zu 35 Jahren würde diese gefährliche Produktionsweise dadurch jahrzehntelang festgeschrieben.
Wie gefährlich die Phosgenproduktion für die Anwohner von Chemiewerken ist, zeigt eine Worst-Case-Analyse des TÜV aus dem Jahr 1978, die sich wie eine Prophezeiung der Katastrophe von Bhopal liest: »Innerhalb der ersten zehn Sekunden nach dem Unfall würde jedes Lebewesen im Umkreis von einhundert Metern augenblicklich getötet. Da sich aber die Phosgen-Wolke sehr schnell über das Werksgelände hinaus ausbreiten würde, hätte der Gasausbruch auch für weite Teile der Bevölkerung tödliche Folgen: Innerhalb einer halben Stunde wäre in einem Areal von 1,7 Quadratkilometern jeder Mensch einer Dosis ausgesetzt, die bei jedem zweiten zum Tode führt. Das sind bei einer mittleren Bevölkerungsdichte wie zum Beispiel im Raum Köln über 2100 Personen. In der zweiten, sogenannten B-Zone, einem Gebiet von 6,75 Quadratkilometern wären die Bewohner (zirka 17000 Personen) einer Dosisbelastung ausgesetzt, die zumindest im Einzelfall bereits zum Tode eines Menschen geführt hat. Die Folgen für die Betroffenen in der Region: anfänglich Hustenreiz, Brennen der Augen, Kopfschmerzen, Erbrechen, nach einigen Stunden dann Lungenödem.«
Die Kunststoffproduktion von Bayer wurde schon mehrfach erweitert, zuletzt im Jahr 2002, als die Herstellung von Polycarbonat und Polyurethan in Krefeld erhöht wurde. Allein mit der damaligen – verglichen mit den nun geplanten Erweiterungen – kleinen Produktionsausweitung ging eine Vergrößerung des Phosgen-Ausstoßes um rund 60 000 Tonnen pro Jahr einher. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung mit Beteiligung der Öffentlichkeit fand seinerzeit nicht statt. BUND und Coordination gegen BAYER-Gefahren hatten erfolglos nach dem Stand der Sicherheitstechnik, Notfallplänen und den Gefahren bei Flugzeugabstürzen gefragt. Vertreter von Bayer räumten gegenüber der Presse zwar ein, daß »Phosgen bei der Produktion von TDI eingesetzt wird, aber in sehr kleinen Mengen«, und zudem »just in time« und »ausschließlich zum sofortigen Verbrauch« erzeugt werde. Diese Darstellung ist jedoch verharmlosend: Auf Nachfrage räumte das Umweltministerium ein, daß in Krefeld die Menge an »freiem« Phosgen in Leitungen und Vorratsbehältern bei 34 Tonnen liege. Im schlimmsten Fall, einem Bruch phosgengefüllter Leitungen, einem Erdbeben oder einem Flugzeugabsturz, wäre dies eine tödliche Bedrohung.
Angelika Horster, BUND-Chemieexpertin, stellt dazu fest: »Die Anwohner haben ein Recht auf Informationen, welcher Gefahr sie im Falle eines Störfalles ausgesetzt sind und wie sie sich vor dem Giftgas schützen können. Vor einer möglichen Erweiterung der Produktion muß daher eine Umweltverträglichkeitsprüfung mit Beteiligung der Öffentlichkeit durchgeführt werden.« Dabei müsse auch untersucht werden, ob Phosgen überhaupt zum Einsatz kommen dürfe. Die Umweltverträglichkeitsrichtlinie der EU schreibt vor, daß auch bei Erweiterungen risikoreicher Anlagen ungefährlichere Alternativen, in diesem Fall phosgenfreie Verfahren, geprüft werden müssen.
Proteste in Taiwan
Ende der 90er Jahre wollte Bayer erstmals in Fernost eine TDI-Anlage bauen. Die Regierung von Taiwan wollte das Projekt ohne lästige Sicherheitsprüfungen durchwinken und gewährte großzügige Subventionen. Der Fall wurde jedoch zum Politikum, als örtliche Bürgerinitiativen auf die Risiken von TDI und des Vorprodukts Phosgen hinwiesen und ein reguläres Genehmigungsverfahren forderten. Nach monatelangen Protesten mit Tausenden Demonstranten forderten die regionalen Behörden Bayer auf, eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen und phosgenfreie Verfahren zu prüfen. Der Konzern blies das Projekt daraufhin ab (jW berichtete).
Kurz darauf gab Bayer den Bau eines neuen Werks in China bekannt. Die Fabrik bei Shanghai soll langfristig mit einer Jahresproduktion von 900000 Tonnen Kunststoff den höchsten Ausstoß aller Bayer-Werke haben. Bereits 2006 wurde eine Polycarbonat-Anlage in Betrieb genommen, Ende Oktober dieses Jahres kam eine Anlage für Polyurethan hinzu. Renitente Lokalpolitiker und lästige Proteste von Anwohnern sind in China nicht zu erwarten; im staatlichen Organ China Daily erschien Ende Oktober gar eine Lobeshymne auf das »soziale Gewissen« des Konzerns. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß der Text aus der Bayer-Werbeabteilung übernommen worden ist.
Bayer droht
In Deutschland hingegen nutzt der Konzern die geplanten Investitionen, um Druck auf die Politik auszuüben. Die Erweiterungen der Anlagen hingen von den »Rahmenbedingungen« ab, so Bayer-Sprecher Frank Rothbarth. Damit gemeint sind die umstrittene Kohlenmonoxid-Pipeline quer durch NRW, gegen die bereits 100000 Unterschriften gesammelt wurden, sowie der Bau eines überdimensionierten Kohlekraftwerks im Bayer-Werk Krefeld, das pro Jahr 4,4 Millionen Tonnen Kohlendioxid erzeugen würde. Andernfalls droht der Konzern mit dem Verlust von Arbeitsplätzen. Vor dem Hintergrund, daß Bayer im Kunststoffsektor im vergangenen Jahr trotz eines Rekordgewinns von über einer Milliarde Euro rund 1500 Stellen wegrationalisiert hat, haben diese Drohungen einen schalen Beigeschmack.
Wenige Wochen nach Bekanntgabe der jüngsten Ausbaupläne brach die Nachfrage nach Kunststoffen weltweit ein. Bayer reagierte in der vergangenen Woche mit der Ankündigung, die Produktion zu drosseln und die Investition in Brunsbüttel zu überprüfen. Momentan ist nicht abzusehen, welche Projekte trotz der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise realisiert und welche gestrichen werden.
Unabhängig davon, ob die gegenwärtige Krise die Erweiterung der Anlagen verzögern wird, wollen die Umweltverbände den Druck auf Bayer erhöhen, aus der Phosgen-Chemie auszusteigen und zumindest mittelfristig risikoärmere Verfahren einzusetzen. Die geplante Produktionsausweitung auf Phosgen-Basis soll in der kommenden Bayer-Hauptversammlung und in der staatlichen Kommission für Anlagensicherheit diskutiert werden. In der Umgebung der Werke wird die Bevölkerung mit Flugblättern und in Veranstaltungen informiert. Auch 24 Jahre nach Bhopal gilt, daß die Massenproduktion derart giftiger Chemikalien in der Nachbarschaft von Großstädten wie Köln, Leverkusen, Krefeld und Duisburg nicht zu dulden ist.
* Philipp Mimkes ist Mitglied der Coordination gegen BAYER-Gefahren, www.CBGnetwork.org