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Eva S.
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New PostErstellt: 24.04.09, 02:54     Betreff: Vorschlag zu einer Verfassungsreform

Farbenspiel
Hallo @ll,

Wolfgang Nešković von der Linkspartei hat auf einer öffentlichen Anhörung am 1. April d. J. in Berlin eine, wie ich finde, sehr interessante Rede gehalten, die ich hier vollständig wiedergeben möchte:


Visionen sind Pflicht

Soziale Grundrechte - für eine grundlegende Verfassungsreform - öfftl. Anhörung am 1. April 2009 in Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Konferenzteilnehmerinnen und Teilnehmer,

in unserem Einladungstext heißt es offenherzig:

"Alle bisherigen Versuche, einklagbare soziale Grundrechte in das Grundgesetz aufzunehmen, sind gescheitert."

Dennoch kommen wir heute zusammen, um über die Einführung klagbarer sozialer Rechte in die Verfassung zu beraten. Wir sind ganz offenbar trotzig. Wir werden nicht müde. Wir sind nicht bereit, uns abzufinden mit dem Gegebenen. Genau das ist unsere originäre Aufgabe als Linke. Nicht, weil uns diese Aufgabe so gut gefällt. Sondern, weil die Gesellschaft eine politische Kraft braucht, die sie weiter entwickeln will. Ich möchte den Versuch unternehmen, genau diese schwierige Aufgabenstellung zu ergründen und zu begründen.

(*)

Sie kennen sicherlich Ernst Bloch oder haben schon von ihm gehört. Ernst Bloch war Professor für Philosophie. Er lehrte an der Leipziger Universität. Er wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen am Rhein geboren und starb am 4. August 1977 in Tübingen. Eines seiner Lieblingswörter war das Wort Hoffnung, ein anderes das Wort Utopie.

Für ihn war „Utopie" ein wissenschaftlicher Begriff. Zwei Dinge machen diesen Begriff aus. Erstens: die unerhörten Anstrengungen, die es uns Menschen kostet, im Kopf eine Welt zu denken, die wir in der Realität noch nicht erfahren können. Zweitens: die Pflicht des Menschen, diese Anstrengungen dennoch auf sich zu nehmen. Erst diese Anstrengungen machen uns menschlich.

Bloch hätte vermutlich gesagt: "Wer keine Visionen hat, der soll zum Arzt gehen. Es fehlt ihm etwas. Er braucht dringend Hilfe."

(*)

Wir werden diskutieren über die demokratische Veränderbarkeit unserer Gesellschaft. Sie soll gerechter werden. Sozialer. Sie soll dem Einzelnen eine Rechtsposition einräumen, mit der er seine soziale Existenz wirksam verteidigen kann. Wir werden uns fragen, ob das Grundgesetz für diese demokratische Transformation überhaupt taugt. Wir werden wissen wollen, welche textlichen Änderungen wir in der Verfassung benötigen, um diese Transformation zu ermöglichen. Wir werden dabei reden müssen über die Werte der Freiheit und der Gleichheit und ihr Verhältnis untereinander.

Wir reden heute als Linke über das Morgen und damit über das, was noch keine Wirklichkeit ist. Wir sprechen also über Utopien.

In Verfassungen, auch im Grundgesetz, finden wir Utopien. Denn in Verfassungen entdecken wir stets die Grundvorstellung einer Gesellschaft, die es noch nicht gibt, wenn die Verfassung geschrieben wird. Die Verfassung ist also nicht der Schlussstein, sondern der Grundstein eines gesellschaftlichen Gebäudes.

Als die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Grundstein für die westdeutsche Gesellschaft entwarfen, taten sie das inmitten einer Trümmerlandschaft. Der Krieg, den Hitlerdeutschland in die Welt getragen hatte, war zurückgekehrt. Er brachte Tod, Leiden, Hunger und Elend heim. Die Industrie war zerstört, die Landwirtschaft lahmgelegt, die Infrastruktur am Boden. Alles sprach dafür, dass Deutschland für sehr lange Zeit ein wirtschaftlich armes Land bleiben würde. Nichts sprach für ein Wirtschaftswunder. Die westdeutschen Verfassungseltern der Jahre 48/49 rechneten nicht mit Wundern. Sie rechneten mit dem Schlimmsten.

Welche Verfassung also gibt man einer elenden Trümmerwelt? Die Bauplanersteller entschieden sich für eine demokratische, rechtsstaatliche und soziale Verfassung. Sie formulierten eine vorsichtige Utopie des sozialen Staates. In gleichem Rang mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus fügten sie den Sozialstaat als tragendes Element in das neue Staatsgebäude ein:

"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." heißt es in Artikel 20, Absatz 1 Grundgesetz.

Auch die einzelnen Bundesländer verpflichteten sie in Artikel 28 Grundgesetz auf den Grundsatz des "sozialen Rechtstaats". Und in Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz unterwarfen sie auch das Sozialstaatsprinzip der so genannten Ewigkeitsklausel. Diese Bestimmung ist weltweit einmalig. In ihr spiegelt sich das tiefe Misstrauen der Mütter und Väter des Grundgesetzes gegenüber den nachfahrenden Generationen wider. Sie verbietet die Änderung bestimmter Kerngedanken des Grundgesetzes und schreibt diese so auf "ewig" fest - zumindest, solange das Grundgesetz gilt. Zu diesen Kerngedanken also gehört auch das Sozialstaatsprinzip.

Deswegen ist derjenige, der meint, wir könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten, ein Verfassungsfeind, bestenfalls ein Verfassungsignorant.

Diese Ignoranz wird allerdings befördert durch die gegenwärtige Struktur des Grundgesetzes. Mit den Prinzipien der Rechtstaatlichkeit, der Demokratie und des Föderalismus verfuhren die Verfassungseltern viel präziser, als mit dem Sozialstaatsprinzip. Sie schufen eine Fülle von Vorschriften, die die Demokratie beschreiben und absichern. Sie schrieben konkrete Freiheitsrechte in die Verfassung, die dem Einzelnen Schutz vor der Willkür des Staates verschaffen. Sie erfanden die Verfassungsbeschwerde, mit der sich Jedermann gegen die Verletzung seiner individuellen Freiheiten wirksam wehren kann. Sie konstruierten eine fein abgestimmte Machtverteilung und Machtkontrolle zwischen den obersten Institutionen des Staates und zwischen dem Bund und den Ländern.

Doch die Verfassungseltern präzisierten nicht die Pflicht des Staates zur sozialen Aktivität. Sie schufen auch keine einklagbaren sozialen Grundrechte für die Bürgerinnen und Bürger. Vielleicht fehlte es ihnen an Mut. Vielleicht vermieden sie nur Übermut in einer elenden Trümmerwelt. Mehr wagten sie jedenfalls für die soziale Zukunft nicht zu hoffen.

Während man über diese Utopie noch beriet, kehrte der Philosoph Ernst Bloch nach Deutschland heim. Er war vor den Nazis durch ganz Europa und dann in die USA geflohen und nun ging es ihm wie Thomas Mann, wie Helene Weigel, wie Berthold Brecht. Wer seinerzeit nach Deutschland heimkehren wollte, musste ein Deutschland dafür wählen. Bloch wählte sein Deutschland.

Ein Jahr vor den abschließenden Beratungen des Grundgesetzes folgte Bloch einem Ruf an die Leipziger Universität als Professor für Philosophie. Im Gepäck hatte er sein Hauptwerk dabei. Er hatte es während des Exils in den USA verfasst. Das Hauptwerk trägt einen Titel, der so gar nicht in das Jahr 1948 zu passen scheint: "Das Prinzip Hoffnung." Das zweite Lieblingswort des Philosophen: Hoffnung!

Hoffnung bedeutet für Bloch nicht das Bauen von Luftschlössern oder die Pflege von Wunschbildern. Bei ihm ist die Hoffnung kein Träumen, sondern die erste Tat für den Aufbruch in die Zukunft. Menschen, die hoffen, machen sich frei von den Schranken des Denkens ihrer Gegenwart. Sie gewinnen damit die Fähigkeit, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Wer dagegen nicht hofft, wird niemals wissen können, wofür er kämpfen soll.

Bloch hoffte auf eine sozialistische Gesellschaft, in der die Gleichen frei sind und die Freien gleich. Und er kämpfte für diese Gesellschaft sein Leben lang. In Leipzig lehrte er seine Studenten, dass es einmal eine große humane Utopie gegeben hatte, die dann leider in zwei Hälften zerbrochen war. Die große humane Utopie sei es gewesen, von den Menschen gleichermaßen das Elend und die Entrechtung zu nehmen. Die Sozialen Utopisten haben den Menschen nur das materielle Glück bringen wollen. Die utopischen Naturrechtler dagegen wollten den Menschen allein die rechtliche Freiheit verleihen.

Für fast 2000 Jahre verloren so die Utopisten alle Schlachten, die sie getrennt schlugen. Viel zu selten verbündeten sie sich. In der französischen Revolution marschierten sie vereint und gewannen für kurze Zeit den Kampf um das Humane. Nicht umsonst enthielt die erste Jakobinerverfassung folglich auch ein Recht auf Brot und Arbeit.

Doch schon im frühen 19. Jahrhundert zerfiel der Humanismus erneut. Er spaltete sich in die liberale und die sozialistische Bewegung. Der Liberalismus richtete sein Hoffen auf die Befreiung des Menschen von staatlicher Erniedrigung und Entrechtung. Der Sozialismus kämpfte für die Befreiung des Menschen von Elend und Mühsal. Dieses ewige Schisma unter Brüdern wollte Bloch als Marxist endlich überwinden. Darauf richtete sich sein Hoffen.

Die Befreiung des Menschen könne nur glücken, wenn der Mensch unter Gleichen in Freiheit lebe. Bloch sagte seinen Studenten in Leipzig Sätze wie den folgenden: "Die sozialistische Oktoberrevolution ist gewiss nicht dazu bestimmt gewesen, dass die fortwirkenden, in der ganzen Westwelt erinnerten demokratischen Rechte der französischen Revolution zurückgenommen werden (...)."


Fortsetzung nächster Post

Es gehört oft mehr Mut dazu, seine Meinung zu ändern als ihr treu zu bleiben. (Friedrich Hebbel)
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Bezweifle niemals, dass eine kleine Gruppe fürsorglicher, engagierter Leute die Welt verändern kann; tatsächlich sind es die Einzigen, die es je haben." (Margaret Mead)


[editiert: 07.06.10, 03:29 von Eva S.]
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