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Erstellt: 28.07.04, 00:40 Betreff: Grundeinkommen - Reziprozität und Bedingungslosigkeit
Lieber Ronald Blaschke,
auf die von Ihnen vorgetragene Interpretation der Ausdrucks "Bedürftigkeitsprüfung" hat mich Michael Opielka gerade in einer E-Mail hingewiesen. Das ist, das sehe ich jetzt, tatsächlich eine mögliche Interpretation, eine Interpretation, die ich übersehen hatte. Ich hatte den Ausdruck ganz anders verstanden, nämlich nicht im Sinne der Prüfung der "Einkommensbedürftigkeit" sondern darüber hinausgehend im Sinne der Prüfung der Hilfsbedürftigkeit bzw. der Prüfung, ob jemand eine Transferzahlung bezieht, weil er nicht erwerbstätig sein will, obwohl er dies könnte, oder weil er nicht erwerbstätig sein kann und auf die finanzielle Unterstützung wirklich angewiesen ist. Bei einem solchen Verständnis des Ausdrucks würde "keine Bedürftigkeitsprüfung" etwa auch eine Negative Einkommenssteuer zulassen. Das nur zur Aufklärung des Zustandekommens meiner Interpretation. Ich habe Michael Opielka gegenüber schon gesagt, daß nun ja deutlich sei, daß wir uns in der Sache sehr einig sind, was mich sehr freut. Jetzt bleibt bestenfalls noch zu überlegen, wie man unser Grundeinkommensverständnis in Zukunft noch prägnanter und weniger mißverständlicher darstellen könnte.
Ich kann auch sonst Ihren Ausführungen durchgehend folgen. Etwas kritischer sehe ich die Diskussion um ein Grundeinkommen in Deutschland in der Vergangenheit. Aus meiner Sicht gab es da doch einige Inkonsistenzen, und nicht immer stand das bedingungslose Grundeinkommen sehr klar als Bezugsmodell im Vordergrund, wie sie ja selbst sagen (im Unterschied zur BAG SHI natürlich), womit ich die Verdienste der Protagonisten dieser Diskussion nicht schmälern möchte. Ein Beispiel für eine Inkonsistenz wäre in meinen Augen die von der BAG SHI, wie Sie wissen, längere Zeit mit der Existenzgeldforderung verknüpfte Forderung nach Arbeit für alle, die arbeiten wollen. Diese doppelte Forderung bedeutete, wenn man es genau nimmt, letztlich nur: Den Kuchen essen und ihn zugleich behalten wollen, weil einerseits mit dem Existenzgeld Konsequenzen aus dem strukturellen Mangel an Erwerbsarbeit gezogen würden und die Möglichkeit eines positiven Lebens jenseits der Erwerbsarbeitssphäre geschaffen würde, dann aber andererseits mit der Forderung "Arbeit für alle" doch an der Arbeitsgesellschaft festgehalten würde und die durch das Existenzgeld eröffnete Möglichkeit der radikalen Einsparung von Arbeitsplätzen für Unternehmer gleich wieder verschüttet würde. Eine Ausnutzung der ungeheuren Rationalisierungspotentiale, die zur Zeit aufgrund der sozialen Folgen einer radikalen Rationalisierung nicht genutzt werden können, ist aber trivialerweise nicht nur wünschenswert, sondern m.E. auch unverzichtbar für eine ordentliche Wertschöpfungsdynamik, aus der ein Grundeinkommen durch entsprechende Abschöpfung von Werten finanziert werden könnte. Aber das ist angesichts unserer Einigkeit zum meiner Freude eher eine akademische Diskussion über die Vergangenheit.
Zur Reziprozitätsfrage möchte ich noch anmerken, daß bei einem bedingungslosen Grundeinkommen die Reziprozität m.E. auf einer anderen Ebene liegt. Zunächst einmal sind alle darin gleich, daß sie ein Grundeinkommen erhalten. Die Lebenden haben also untereinander keine aus der Reziprozität folgenden Forderungen. Faktisch würde ein solches Grundeinkommen natürlich vor allem aus der Erwerbsarbeit der Erwerbstätigen (der Wertschöpfung von Personen, wenn man so will) und der Wertschöpfung von Unternehmen finanziert werden müssen, so daß man auf die Idee kommen könnte, daß durch diesen Umstand dann doch wieder ein Ungleichgewicht entstünde. Das ist m.E. aber ein Fehlschluß. Denn wenn der Staat im Auftrag der politischen Gemeinschaft Steuern erhebt und die Wertschöpfung von Erwerbstätigen und Unternehmen steuerlich abschöpft, dann ist die Legitimation dafür von der Frage eines Grundeinkommens m.E. ganz unabhängig. Die Legitimität von Steuern ruht in meinen Augen schlicht darin, daß die Wertschöpfung eines Individuums oder eines Unternehmens nicht allein das Resultat der tatkräftigen Arbeit dieser ist, sondern ebenso das Resultat der Familien, die überhaupt erwerbsfähige Erwachsene großgezogen haben, des öffentlichen Ausbildungs- und Wissenschaftssystems, das einzelne Erwerbstätige und Unternehmen zur Wertschöpfung nutzen, der staatlich bereitgestellten und gemeinschaftlich finanzierten Infrastruktur, des rechtsstaatlichen Rahmens, und und und. Die Liste wäre noch lange fortzusetzen, was sicherlich evident ist. Alles das wiederum ist in dieser Form nur denkbar, weil es sich über eine lange Kette von Generationen allmählich entwickelt hat und uns Lebenden wie eine Erbschaft in den Schoß gefallen ist. Dazu gehört insbesondere die technologische Entwicklung und die ungeheure Entwicklung des Wissens, die es heute ermöglichen, daß ganze Fabrikhallen bei der Produktion fast menschenleer sind. Wenn also einzelne Erwerbstätige oder ganze Unternehmen sich diese Erbschaft zunutze machen und dabei zugleich die politische Gemeinschaft als Rahmen in Anspruch nehmen, dann haben sie zwar durch ihre tatkräftige Arbeit ein Eigentumsrecht an den Früchten ihrer Arbeit erworben, aber genauso untrennbar auch die politische Gemeinschaft, die das Produzierte eben indirekt mitproduziert hat. Und das über Generationen entwickelte Wissens ist per se etwas Allgemeines, daß niemandem gehört, bestenfalls einer politischen Gemeinschaft (um ein Argument Oevermanns zu übernehmen, von dem ich ohnehin viel übernehme). Die Abschöpfung von Werten durch den Staat bzw. die politische Gemeinschaft ist, so gesehen, immer schon legitim. Man kann sich lediglich darüber streiten, zu welchen Anteilen sie dies ist. Was die politische Gemeinschaft dann mit dem abgeschöpften Werten macht, ist dann schlicht ihre Sache. Das geht dann die Erwerbstätigen und Unternehmen nichts mehr an, und sie können sich demnach nicht darüber beklagen, daß sie nicht gleich behandelt werden, wenn "aus ihren Steuern" an alle ein Grundeinkommen ausgezahlt wird. Bleibt noch die Frage, ob es nicht doch ein Ungleichgewicht im Hinblick auf die Reziprozität gibt, wenn ein Grundeinkommen ausgezahlt wird. Und die Antwort lautet m.E.: ja. Ein Ungleichgewicht kommt schlicht dadurch zustande, daß man in Gestalt eines Grundeinkommens zunächst einmal ohne Gegenleistung etwas "erben" würde, dessen Existenz vorausgehenden Generationen und dem durch diese bewirkten Wissensfortschritts zu verdanken ist. Bei individuellen Erbschaften verhält es sich ja ähnlich: Man hat im Prinzip die Freiheit, das Erbe einfach unproduktiv zu konsumieren. Man würde sich dann aber an seinen Vorfahren "versündigen", die eben auch für ihre Nachkommen gearbeitet haben und nicht alles selbst konsumiert haben. Also gerät man letztlich ohne äußeren Zwang unter den moralischen Druck, seinerseits einen Beitrag in der Abfolge der Generationen zu leisten, so daß die Nachkommen wiederum etwas ansehnliches vererbt bekommen. Bei einem Grundeinkommen verhielte es sich m.E. ganz analog.
Ich bin übrigens nicht auf die Hart IV-Problematik fixiert, und kann Ihren Ausführungen zu dieser Problematik durchaus folgen.
Was die Gestaltung des nächsten Treffens und die Diskussion um das Thema Bedingungslosigkeit angeht, so ist über dessen Gestaltung ja noch zu reden.
wir müssen alsbald unsere Konferenz zur Bedingungslosigkeit machen. Alle ihre Argumente kann ich voll und ganz unterstützen. Nicht nur das: Es sind meine Argumente in Diskussionen, Konferenzen usw.
Wenn ich sage, ohne Bedürftigkeitsprüfung heißt das, es wird bei keiner/keinem geprüft, ob andere Einkommen, Vermögen usw. usf.
Wenn ich sage, ohne Arbeitszwang (lieber wäre mir ohne Arbeits- und Tätigkeitsverpflichtung, da Arbeitszwang missverständlich ob seiner stark menschenrechtlicher und damit auch erwerbsarbeitsorientierter Fixierung ist, noch lieber wäre mir zusätzlich ohne jegliche vorherige Einzahlungsverpflichtung), dann eben ohne den Zwang etwas zu arbeiten, zu werken, zu handeln (um mal alle Arendtschen Kategorien der vita activa zu bemühen).
Nehmen wir noch den Personenbezug hinzu: d. h. das BGE wird als unabhängig von irgend welchen möglichen anderen Haushaltssituationen, Partnermodellen usw. usf. gezahlt.
Fazit: Das BGE bekommt also jede(r). Keinesfalls nur Einkommensbedürftige, eben genau wegen der politischen Durchsetzbarkeit und der allgemeinen Akzeptanz, und des Verhinderns einer Spaltung der Gesellschaft in Transferzahler und Transferempfänger.
Das waren immer wieder auch die früheren Überlegungen von Georg Vobruba, Michael Opielka usw. So verstehen auch die Existenzgeldbefürworter (BAG SHI) ihr Existenzgeld. Nachzulesen in meiner Studie zum garantierten Grundeinkommen.
Einiges verwirrt natürlich:
Die starke Fixierung auf die Hartz IV - Problematik. Daraus könnte man ableiten, es geht nur um Erwerbslose, Einkommensbedürftige. Die Hartz IV - Thematik ist aber deswegen so interessant, weil mit Hartz IV genau das Gegenteil eines bedingungslosen Grundeinkommens zelebriert wird. Nämlich verschärfte Bedürftigkeitsprüfung inkl. Verweisens auf andere Einkommen und Ressourcen, verschärfter Arbeitszwang (bis hin zum workfare), verschärfter Haushaltsbezug (Bedarfsgemeinschaft). Dies zwar nur für bisherige Alhi-Bezieher/innen. Aber mit gewollter Wirkung auf alle Erwerbsarbeitsabhängigen (siehe dazu auch Zygmunt Baumans - Argumentation in meiner Studie). Michael Opielka sieht ja aber mit Hartz IV einen Schritt in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommen - und jedesmal müssen dann der Kollege der BAG SHI und ich dann aufs Gegenteilige verweisen, sozusagen als Kenner der Materie und Opfer von Hartz IV. Diese Argumentation, dass Hatz IV ein Einstieg in etwas Besseres wäre, ist übrigens die klassische Grünen-Argumentation, bezogen auf deren Grundsicherungs-Modell. Das ist natürlich aber nur politisches Gerede um Kopf und Kragen, weil die Grünen, zumindest einige, aufgrund ihrer Wahlversprechen und ihrer BDK-Beschlüsse ein schlechtes Gewissen haben. Da muss man dann halt etwas schlechtes gut reden.
Noch etwas verwirrt:
Es gibt Ansätze in Richtung eines BGE, so genannte schrittweise Einführungen, die natürlich erheblich von einem BGE abweichen. Sie haben den Sinn, Volk und Feind langsam an ein BGE zu gewöhnen. Darin liegt natürlich auch ein Risiko. Denn damit kann man das eigentliche Ziel schnell verwässern und sich gar vollends in technischen Fragen verlieren. Ich bin mir bei manchen Befürwortern einer solchen Vorgehensweise nicht immer sicher, ob das Ziel nicht schon verwässert ist. Aber dennoch: über schrittweise Hinführungen zum BGE sollte man nachdenken.
Und noch etwas: Angebliche Ansätze eines BGEs sind gar keine, insbesondere bestimmte Formen einer Negativen Einkommenssteuer. Sie sind ja deswegen auch eher auf das Problem Einkommensbedürftige bzw. Arbeitsmarkt-Schleuse in den Niedriglohnbereich fixiert.
Zusammenfassung:
Ihrer Argumentation kann ich voll zustimmen.
Ich würde mich freuen, wenn Sie diese auf unserer nächsten Netzwerk-Runde, die ja zum inhaltlichen Schwerpunkt die Bedingungslosigkeit hat, vortragen könnten. Auch mit dem Bezug zu BIEN.
Wolfram Otto und ich würden dann etwas zum Hartz IV-Gesetz und seiner Beziehung zum BGE vortragen wollen. Auch dabei kann man wunderschön das Thema Bedingungslosigkeit aufdröseln.
Spannend, auch im Sinne der Schärfung unserer Argumente, wäre, mögliche wissenschaftliche Gegenargumente zur Bedingungslosigkeit zu diskutieren. Die Reziprozitätsfrage scheint mir z. B. noch nicht vollends geklärt. Ist übrigens auch die schwierigste Frage in unserem reziprozitätslastigen Osten.