Johannes
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Erstellt: 16.06.08, 22:56 Betreff: Re: Zehn-Wörter-Roman |
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10-Wörter-Roman _____________________________
Susanne stand bereits seit über vier Stunden am Straßenrand, als Gernot im Dauerlauf an ihr vorbei lief, winkte und rief: »Wart’ nicht mehr länger!« Er wedelte sie zu sich herüber. »Susi-Schatz, es wird heut Abend später ...«, raunte er geheimnisvoll und schloss sich wieder der Laufgruppe an, die den Maschsee umrundete. ›NOCH eine Runde?!‹, dachte sie und verdrehte die wütenden Augen. Sie fand, ihr Gatte könne mit seinen stattlichen 70 doch ruhig mal nach zehn Runden eine Pause machen und ihr das Handy wiedergeben, damit sie Wiebke endlich anrufen könne. Sie hätte schon längst auf ein Zweithandy bestehen sollen, aber ihr Ehevertrag sah Gütertrennung im strengsten Maße vor. Gernot hatte vor erst zehn Jahren nur aus diesem Grund ein Jurastudium angefangen. Dabei wollte sie Wiebke unbedingt noch erzählen, dass sie morgen wieder heimlich die Corvette entführt, um endlich mal richtig wild fremde Männer aufzureißen. Mit Wiebke gemeinsam hatte sie neulich einmal verschwitzte Möbelpacker in der Sommersonne arbeiten sehen. Mit freiem Oberkörper! Da fiel ihr ein, dass einer der Jungs immer noch im Kofferaum der Corvette sein musste. Es wäre besser, ihn vor der Spritztour noch einmal zu füttern, damit er später willig wäre oder doch zumindest angenehm anzuschaun. Susanne hatte gerade fünf Kilo Huftsteak eingekauft und überlegte, ihm das rohe Fleisch um die Lenden zu schnallen, damit sie wenigstens ein wenig Kraft tanken könnten. Susanne hat langsam keine Lust mehr, immer jammernd durch die Welt und die Geschichte zu gondeln, daher nahm sie das Steak von der Heizung und machte sich, nachdem sie nach Hause gekommen war, ein schönes Pfannengericht. Frisch gestärkt ließ sie noch einmal den Handwerker kommen, um zumindest sexuell einigermaßen ausgeglichen zu sein, denn mit patenten Fingern und etwas Übung ist auch eine Frau ein vielseitiger Werkstoff. Natürlich musste der Handwerker danach schnell beseitigt werden. Deswegen holte Susanne den Gärtner und bestach ihn mit seinen Lieblingspralinen. Er beeilte sich ein schönes tiefes Loch zu graben, wo sowieso schon der GEZ-Mensch, der Schornsteinfeger und der Klempner gemütlich aber unauffindbar ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Susanne zog sich um den Nächstbesten herum, nannte dies "Umgarnen", aber der blieb kalt. Wiebke hatte ihn einfach dazugestellt, obwohl dieser schon in Leichenstarre erkaltet war. Letztendlich musste Wiebke Susanne bremsen, denn sonst hätte sie ihn bei ihrem sexuellen Angriff noch ganz kaputt gemacht. Veronika hatte beiden Frauen neulich noch diese Einbalsamierungspaste verkauft. Als täten sie das jeden Tag, rieben sie sich von Kopf bis zu den Unterschenkeln gerade eben nicht mit dieser, sondern mit Schlamm und Essensresten ein, die hier und da zu einer verkrusteten Masse geronnen. Solche Art von Fetisch war genau das perfekte Matschspiel für öde Monopoly-Spielkinder, die aus Langeweile arme, sozial benachteiligte Handwerker und Möbelpacker ins Jenseits befördern, um in der BILD oder TV zu stehen. Journalisten hatten die beiden Frauen jedoch noch selten belästigt, und wenn sie ihr Doppelleben weiterhin so perfekt durchorganisierten, würde ihnen auch der Massenmord mitten im Sommerloch ohne Medienecho gelingen: Skandale woanders zu provozieren um von ihren eigentlichen Untaten abzulenken, fiel ihnen überhaupt nicht schwer. Das hatten sie schon seit frühester Jugend immer wieder unter Beweis gestellt. Zum Beispiel als ihr Lehrer sie beim Spicken erwischen wollte. Mit tiefem Ausschnitt gelang es ihnen seine Aufmerksamkeit auf Gabi zu lenken, der sie extra vorher noch einen Riss in den engen Rock gemacht hatten. Gabi hat dann später den Lehrer heiraten müssen, aber das war Wiebke und Susanne egal. Sollte Gabi doch mit ihm Kinder zeugen, sie würden jedenfalls kein schlechtes Gewissen deswegen haben. Aber gelernt hatten sie dabei etwas: Immer darauf zu achten, ihr Pausenbrot nicht mit anderen zu teilen. Jahre später entwickelte sich deshalb eine Handvoll Neurosen bei ihr. So kam es, dass Susanne sich manchmal nachts als Lehrerin verkleidete und dann fleischfarbene Wollstrumpfhosen mit Zopfmuster trug. Richard, ihr größter Fan, fand das "irgendwie strange", aber da sie dann ziemlich heiß wurde, kühlte er sie mit seinem langen Gartenschlauch. Den hatte er von Erika, seiner früheren Freundin, geliehen, die ihn noch immer ihren Gartenschlauchi nannte. Irgendwann wurde es Susanne aber zu kühl, sie setzte ihre Lehrerinnen-Halbbrille auf und griff nach dem Zeigestock. "Jetzt ist hier aber endgültig Schluss mit Lustig!", rief sie von Gewissensbissen gequält und von Vernunft ernüchtert aus, nervös Haar und Kragen lockernd, ihrem Richard zu: "Wenn du mich nicht zu Wiebke bringst und vorher einen Abstecher zum MacDonalds machst, bekommst du keine Schläge mehr!" Das hatte gesessen. Sofort nahm er Susanne bei der Hand, schwang sich auf sein Liegerad und zerrte sie hinter sich her. Im Drive-In war eine ziemlich lange Schlange am Schalter. Direkt vor ihnen stand Katrin mit ihrem Bugatti. Sie winkte Richard zu sich und warf Susanne einen finsteren Blick zu. Susanne konterte mit einer langen Nase, die sie Katrin zeigte. Dann bestellt sie für fünfzig Euro Schweinereien, obwohl sie eigentlich Vegetarierin ist, nur um mal so richtig anzugeben. Mit dem Fahrrad von Richard konnten sie gegenüber Katrins Bugatti natürlich gut punkten. Das Scheißteil hatte nich mal Räder! Irgendein französischer Philosoph hatte einmal die Theorie vertreten, dass Autos ausschließlich über die Räder Energie erzeugen, der Motor aber nur übers Leben philosophiert, ansonsten aber unter schweren Depressionen leiden würde. "Was’n nu?", flüsterte Susanne Kathrin zu, die zwar das Fahrzeugablenkungsmanöver als solches durchschaut hatte, aber sich nicht mehr sicher war, ob sie lieber mit Richard oder Susanne um die Ecke verschwinden sollte. Immerhin war ihr Hüfthalter gut angepasst und so konnte sie den untersten Blusenknopf problemlos entbehren, ebenso wie all die anderen Knöpfe, die ihr den Weg zur sinnlichen Erleuchtung blockierten, den sie lange genug in die falsche Richtung beschritten hatte. Susanne holte Luft, riss sich die Bluse vom Leib und stopfte sie ihrer Mutter zuliebe gleich an allen Stellen, an denen die Nähte schon vorher ihren offensichtlich runden Körper freigegeben hatten. Sie schnappte nach einer Fliege, die vor ihrer Nase vorbeisurrte, und warf diese dem Typen, mit dem sie gekommen war, entgegen. Endlich war sie zufrieden. Sie war nachgerade eins mit sich selbst. So ging sie barfuss Richtung Innenstadt. Ein neues Leben lag vor ihr. Nie wieder Hochhackige! Sie dachte sogar schon daran, auch ihre Schuhe auszuziehen und barfuß in Richtung Sonnenuntergang zu laufen. Doppelt hält besser! Absolut und total barfuss, schritt sie auf den Busbahnhof zu. Dort hatte damals alles irgendwie angefangen. Dort hatte sie Gernot im Eifer des Gefechts kennengelernt, als sie mit dem Fahrradrucksack in der Bustür hängen geblieben war. Ja, so war das gewesen, damals. Susanne seufzte und dachte an ihren schönen Fahrradrucksack, der noch immer in der Bustür klemmte, es sei denn, jemand hatte es geschafft, den Knoten zu lösen und den Sackinhalt für sich zu behalten. Susannes Wunsch, diesen Mantel der Vergangenheit endgültig von sich abzulegen, war wie eine bleierne Wolke über ihr Gesicht geträufelt, und nasse Tränen der Erinnerung ließen sie bitter bereuen, was sie damals nicht aussitzen konnte, aber noch weniger bewegen wollte, als Kevin starb. Sie hatte ihn abgöttisch geliebt! Und nun war er so früh aus dem Leben, ihrem Leben gerissen worden ohne vorher Adieu zu sagen. Aber ein heranrasender Tanklastzug ist auch ein großes Schicksal, dem man sich nicht unbedingt entgegenstellen sollte. Lutz, der Tanklastzugfahrer, hatte nach einer längeren Auszeit von seinem Literaturforum beizeiten nicht mehr die Kurve gekriegt und war demenstprechend angespannt gewesen, als er Kevin im Tank hatte spielen lassen. Das alles lag schon Wochen zurück. Susanne wollte die Vergangenheit sühnen und stieg auf ihre pechschwarz angesprühte Kawasaki. Beim Starten verlor sie den Schlüssel und bestellte sich lieber ein Taxi. Sie verliebte sich in den Taxifahrer, heiratete und gebar Drillinge. Einer der Drillinge wuchs als Dichter heran und wurde verkannt. Der zweite, ein hübscher Langweiler, wurde Quizmaster im bayerischen Fernsehen. Die Dritte aber, klug und lobbyistisch, wurde erste deutsche Bundespräsidentin. Nach 25 Jahren getrennter Wege wollten sie sich einst wieder am Kiosk vor ihrer ehemaligen Schule treffen, um alte Erinnerungen auszutauschen, als Susanne völlig unerwartet ihren Motorradschlüssel wiederfand. Sie rief: "Heureka, der Schlüssel!" Schnell kaufte sie sich noch einige Zeitschriften, eine bunte Tüte und ein paar kleine Biere zum Nachspülen, bevor sie sich mit elegantem Hüftschwung auf ihrem Motorrad niederließ. Am Kiosk stand ein Praktikant. Sie nahm in mit auf den Sitz, da dort noch Platz war. Er wollte sich an ihr festhalten, aber sie gab ihm einen Kuss, haute ihm eine rein und schoss los in Richtung Sonnenuntergang. Der rapsschwere Duft der Freiheit ließ sie jauchzen. Und so stürzte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben vorbehaltlos in das Abenteuer der Einsamkeit. An der nächsten Tankstelle kaufte sie sich einen Stoffdinosaurier für den Innenspiegel. Leider hatte ihr Motorrad keinen solchen, also schenkte sie ihn dem Tankwart, der sich einen Ast abfreute und den süßen Dino der Tochter seiner Geliebten zur Einschulung schenkte. Dreizehn Schuljahre begleitete das flauschige Reptil die kleine Annabel. Mal saß der Dino auf ihrem Schreibtisch, mal lag er in ihrem Bettchen. Sie war immer sehr gut besucht. Ihre Freundinnen kamen mit Stoffhunden und Schmusepapageien zum Spielen und feierten fröhliche Urständ. Aber dennoch war Annabel oft unglücklich. Der Geliebte ihrer Mutter, ein Tankstellenwart, nahm sie daher häufiger mit in den Zoo, wenn er nach der Arbeit die Hände gewaschen hatte und sich entspannen wollte. Einmal trafen sie |
dort ein Nashorn, das seinem Leben ein Ende bereiten wollte.
Das ist eigentlich alles.
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