Johannes
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Erstellt: 22.11.07, 00:18 Betreff: Re: Grenzgänger |
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"Jupp, da muss ich nochmal ran.. danke! Werd gleich mal loswerkeln.. " Johannes schien für jeden außenstehenden Beobachter den Eindruck zu machen, ein glücklicher Mensch zu sein. Immerhin, soviel konstruktive Kritik wie heute hatte er lange Zeit nicht bekommen. Und ausgerechnet Claudia hatte sich dermaßen umfassend mit seiner Geschichte auseinandergesetzt, dass ihm nichts weiter eingefallen war, als sich unter ein paar Floskeln zu verabschieden und mit seinen Texten nach draußen zu verziehen. Gerade noch rechtzeitig hatte er die Tür zum Seminarraum 101 hinter sich schließen können, ehe jemand seine tatsächlich recht missliche körperliche Verfassung hätte bemerken können. Nur einen Augenblick später übergab er sich in den Blumenkübel des überdimensionieren Weihnachtsbaums in der Aula, ohne dass es nur ein einziger der anwesenden Erstsemester und ihrer Tutoren dies bemerkt hätte. Ausgerechnet Claudia! Mein Gott, wie sollte er mit dieser Frau ein Gespräch führen, wenn er nur an sie dachte, bekam er schon eine Erektion, und wenn er sie ansah, kam es ihm meist gleich, wenn auch nicht sonderlich erhaben.
"Du solltest einen Kurs in Selbstachtung machen!" sagte eine tiefe, immergrüne Stimme. Irritiert sah Johannes sich um. Vermutlich war das ein Signal in seinem Kopf, das ihn darauf hinwies, dass es einfach unerlässlich ist, neben dem Schreiben von Geschichten, in die man seine emotionalen Abgründe hineinfließen lässt wie ein Bartender Grenadine in den Tequila Sunrise, auch ab und zu einmal ein ganz normales Gespräch zu führen. Aber trotzdem, so stehen lassen konnte er das nun auch wieder nicht.
"Wer spricht da? Bist du das etwa, du Baum?"
"Dein Hemd hängt einseitig aus der Hose. Daran erkennt man Menschen, die sich gehen lassen!"
Johannes drehte sich einmal um sein Achse und sprach dann wieder den Baum an: "Du bist es in der Tat! Wie in einem superschlechten Hollywood-Weihnachtsfilm, wenn's ihn nicht gibt, wird ihn bestimmt bald einer drehen, den Film mit dem sprechenden Baum. Aber ich sag dir eins, du Baum! Ich werde nicht mitspielen!" Nach einer Pause fügte er hinzu: "Du bist es doch, der hier spricht, oder? Oder ist das eine Verschwörung, und irgendwer will mich verleiten, Geschichten über sprechende Bäume zu schreiben. Ist es das, was du willst?"
"Ist dir schon einmal aufgefallen, Johannes, dass du nichts sagst, bei all dem Gequassel und Gerede? Du lenkst dich mit Dingen ab und rückst nicht heraus mit der Sprache. Das ist auch dein Problem mit Claudia. Du denkst zuviel im Konjunktiv, warum fragst du sie nicht einfach mal etwas über sie, etwas, was dich wirklich interessiert, ohne Vorbehalte und einfach aus dir heraus? Sie steht gerade hinter dir!"
Johannes drehte sich mit der Geschwindigkeit eines Blitzes um und riss dabei eine Glaskugel vom Baum, die krachend auf dem PVC-Boden zerschellte. "Alles klar, Johannes?" fragte Claudia und blickte ihm mit leichter Besorgnis in die Augen. "Ja", entgegnete Johannes reflexhaft, und fügte dann, schwitzend wie ein junger Hund beim Versuch, über seinen seinen Schatten zu springen: "Hat dir meine Geschichte wirklich gefallen?"
"Ich mag alle deine Geschichten! Wenn ich deine Texte lese, reichen mir zehn Wörter, um in deine Psyche zu blicken. Es ist wirklich lustig. Das zehnte Wort ist entscheidend. Ich meine, es berührt mich wirklich. Es ist, wie wenn in mir eine Tür aufgeht, wenn ich etwas von dir lese, aber der Grund dafür ist, dass du selbst in deinen Texten Türen hast, und zwar immer im zehnten Wort. Ich hab es nachgeprüft. Und ich habe eine Liste von Wörtern gemacht, willst du sie sehen?
"Sag ja!" sagte der Baum. "Nein!" sagte Johannes, wischte sich über den Mund und rannte davon. Zehn Meter vor der Außentür kam es ihm, worauf er kurz die Augen schloss und danach unbeirrt der umstehenden Studenten den Weg zur Bushaltestelle fortsetzte. Oh mein Gott! Lange würde er das nicht mehr durchhalten!
Er stand etwa fünf Minuten an der Bushalte, ehe er es sich anders überlegt hatte und wieder umkehrte. Unter dem Baum saß Claudia in einem See von Tränen. Beschämt über seine Unzulänglichkeit, mit Menschen, insbesondere mit Claudia umzugehen, versteckte er sich hinter einer Betonsäule. Als er hinter ihr hervorlugte, sah er, dass Claudia einen Zettel in der Hand hielt, den sie offensichtlich der zerschellten Christbaumkugel entnommen hatte.
Das ist eigentlich alles.
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