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1976: Der Riss

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Jan
Administrator

Beiträge: 85
Ort: Oebisfelde


New PostErstellt: 20.09.11, 18:56  Betreff: 1976: Der Riss  drucken  weiterempfehlen

Der Riss


Drei Minuten vor unserem Auftritt
entdeckte ich das Malheur: Mitten in der Leinwand klaffte ein
fingerbreiter Spalt und zog sich senkrecht bis ins obere Drittel. Die
Naht war gerissenen. Ausgerechnet jetzt!

Solange der Trickfilm unseres Vorgängers lief, bemerkte keiner den Riss.
Auch ich hatte die feine schwarze Linie übersehen, hatte nichtsahnend
die Hundemeute verfolgt, die zu Mozarts kleiner Nachtmusik mit wehenden
Schlappohren über die Leinwand hetzte, von rechts nach links, dann
Kehrtwende und im gleichen Tempo zurück, ein ständiges Hin und Her.

Nach der siebten Wende der rennenden Hunde hatten die Zuschauer den Handlungsfaden
begriffen. Seine Einfachheit war genial und gab dem Film Witz und Tiefe.
Nach dem zwölften Hin und Her brüllte der ganze Saal. Dieser Wahnsinnsfilm war
unschlagbar. Unser Schattenspiel, das wir seit Wochen für das erste
deutsche “Licht- und Schatten-Festival” einstudiert hatten, erschien mir
plötzlich fad und farblos.

Als ich mich hinter der Leinwand am Tageslichtprojektor aufbaute, um
unser Spiel vorzuführen, war meine Stimmung auf dem Tiefpunkt.

Genau in diesem Augenblick blendete mich der Strahl des Filmprojektors,
und ich bemerkte den Riss: Die mittlere Naht der Leinwand war aufgeplatzt. Solange das
Licht von vorn auf die Leinwand schien, fiel das niemandem auf außer
mir. Unser Projektor aber leuchtete von hinten und blendete die
Zuschauer, die vor dem Riss saßen. Und genau in der Mitte des Parketts
saß deGroyter, der noch Schattenspieler für seine Europa-Tournee anheuern
wollte. Ausgerechnet er wurde durch diesen Riss geblendet. Es sei denn,
wir flickten die geplatzte Naht noch vor dem Auftritt.

Ich sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Hunde ewig weiter jagen
mögen von einem Ende der Welt zum anderen, und verschwand in der
Garderobe.

Der Riss war mir ein Rätsel. Helene hatte die Schattenwand sorgfältig
zusammengenäht. Wie konnte sie platzen? Und wie war sie zu flicken? Ein
Tacker und Sicherheitsnadeln fielen mir ein. Ich suchte in der Garderobe
Tische, Schachteln und Schubladen ab. Ohne Erfolg. Erst bei den
Requisiten wurde ich fündig.

Im Takt der Hundemeute jagte ich zurück. Auf dem Gang zur Bühne fand ich
eine Stehleiter und nahm sie mit. Die Leinwand war dunkel, der Kurzfilm
war zu Ende, tosender Applaus drang durch die Wand.

Ich stellte die Leiter an den Bühnenrand und hörte, wie der Applaus
verebbte und Schlick, der Veranstalter, unseren Auftritt ankündigte:
“Als nächstes sehen Sie das Schattenspiel “Der Haarnadeltanz”,
vorgeführt von Sascha Wotruba und Helene Heidenreich. Mit Oboe und Pauke
begleitet von Siegfried Schuss.”

Helene stand zitternd am Projektor, ich gab ihr ein Zeichen zu warten,
aber es war zu spät. Die Oboe spielte das Eingangsmotiv, Helene knipste
den Projektor an, und auf der Leinwand erschien unser Bühnenbild: ein
zwischen Wolkenkratzern gespanntes Hochseil. Und mitten im blauen Himmel
klaffte der Riss!

Mein Herz stand still. So kam es mir jedenfalls vor. Helene winkte mich
zum Projektor, aber ich stand wie erstarrt an der Leinwand.

Plötzlich hörte ich keine Oboe mehr. Ich sah nur den Riss. Eine seltsame
Ruhe überkam mich. Das Lampenfieber war wie weggeblasen. Es gab nichts
mehr zu verlieren.

Seelenruhig schritt ich über die Schattenwand auf den Riss zu, bis ich
zwischen deGroyter und Lichtquelle stand. Durch meinen Schatten konnte
ihn die Lampe des Projektors nicht mehr blenden. Diese Stellung durfte ich erst
verlassen, wenn der Spalt geschlossen war.

Oder? War nicht gerade das Durchblitzen der grellen Projektorlampe das eigentlich
Spannende? Der Nervenkitzel, zumindest für mich und deGreyter!

Unser Haarnadeltanz war vergessen. Das Schattenspiel hatte begonnen und
drehte sich jetzt um den Riss. Das war mein Konflikt. Ich beäugte
ihn von allen Seiten, fuhr mit dem Zeigefinger entlang bis hinunter auf
Nabelhöhe, dann hoch bis über meinen Kopf. Ich zog die klaffende Naht
mit den Fingern zusammen, winkte Helene heran und reichte ihr den
Tacker. Mit jedem Tackergeräusch wurde der Riss kleiner. Nur das obere
Drittel konnten wir nicht erreichen. Schulterzuckend sahen wir uns an.

Helene schaute sich um und zeigte zum Bühnenrand. Ich holte die
Stehleiter, stellte sie vor den Riss und stieg hinauf. Sie kletterte
hinter mir die Sprossen hoch. Es wurde eng. Ich stieg höher, sie stützte
mich ab. Als ich den Fuß auf die oberste Sprosse setzte, kippelte die
Leiter und wir polterten zu Boden. Gelächter im Saal. Ich drohte den
Zuschauern mit der Schattenfaust.

Wir rappelten uns hoch, stellten die Leiter wieder auf. Diesmal stieg
Helene hoch und hielt die Naht zusammen, wir hörten das Geräusch des
Tackers, aber die Naht blieb offen: Die Krempen waren alle. Erneutes
Lachen.
Ich zog eine Sicherheitsnadel aus der Hosentasche und verschloss
den letzten Spalt. Applaus.

Mit Siegergeste stellte Helene einen Fuß auf die oberste Plattform der Leiter. Beim
Absteigen rutschte sie ab, ihr Fuß verhedderte sich in der Leinwand,
und mit lautem Ratsch zerriss im Sturz die ganze Naht. Benommen lag sie
am Boden. Hatte sie sich verletzt? Ich betastete sie, half ihr auf, und
wir krochen durch den Riss nach vorn.

Wie ein Punktscheinwerfer strahlte die Projektorlampe nun genau in
deGroyters Gesicht. Ein dumpfer Knall, ein Paukenschlag, und wir
standen im Dunkeln. Der heiße Glühfaden der Projektorlampe hatte uns
die Erschütterung der Bühne anscheinend übel genommen.

Totenstille im Saal.

Das Rampenlicht blendete auf, und Schlick erschien auf der Bühne. “Werte
Zuschauer. Statt des angekündigten Schattenspiels sahen Sie soeben aus gegebenem Anlass die
Stegreifpantomime DER RISS IN DER SCHATTENWAND.”

Jetzt erst setzte Applaus ein. Ich hatte das Gefühl, aus reinem Mitleid.

Mit gemischten Gefühlen stahl ich mich mit Helene nach der Vorstellung
ins Bankett. Am liebsten wären wir in den Boden versunken, aber Schlick
schleifte uns ausgerechnet an deGroyters Tisch.

“Hier sind sie”, sagte er.

DeGroyter musterte uns scharf: “Wussten Sie vor ihrem Auftritt, dass die Leinwand defekt war?”

Ich nickte.

“Wann haben Sie den Riss entdeckt?”

“Drei Minuten vor unserem Auftritt, etwa nach der zehnten Kehrtwende der
jagenden Hunde. Ich hatte gerade noch Zeit, einen Tacker und eine Leiter zu suchen.”

“Und wie erklären Sie sich den Riss?”

“Das ist uns selber ein Rätsel. Wir hatten die Naht doppelt genäht und die Leinwand sauber gespannt.”

“Arbeiten Sie immer so? Wie kann so was passieren?”

Mit breitem Grinsen zog Schlick ein Teppichmesser aus der Jackentasche. “Dieses Messer war daran schuld.”

Helene wurde leichenblass. Mit großen Augen starrte sie ihn an: “Sie? Aber warum? Was haben wir Ihnen getan?”

Er grinste noch breiter. “Als ich deGroyter genau vor der Naht im Parkett sitzen sah, ist mir einfach die Hand ausgerutscht.”

“Aber wir hatten doch den Haarnadeltanz ...”

“Ich weiß. Aber de Groyters hat ein Faible für Stegreifspiel.”

Jetzt grinste auch deGroyter. “Schon gut. Ich glaube Ihnen, Schlick.” Er
nippte an seinem Sektglas, dann meinte er zu Helene und mir. “Hättet Sie 
Lust, mit uns auf Tournee zu gehen? Ich bräuchte noch ein paar
Leute, die den Nerv haben, notfalls auf offener Bühne zu
improvisieren.”

Veröffentlicht im Mai 2005 auf schreib-lust.de

Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband:
https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html


[editiert: 04.01.23, 13:16 von Jan]
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