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Devi, Devi, Devi – Zauber dieser Welt
Devi Devi Devi Jagan Mohini Devi Devi Devi Jagan Mohini Chandrikā Devi Chandamunda Hārini Chandrikā Devi Chandamunda Hārini Chāmundeshwari Ambike Devi Chāmundeshwari Ambike Devi Devi Devi Devi, Zauber dieser Welt Devi Devi Devi, Zauber dieser Welt Mondscheingöttin, wildes Reh und kahlrasiert Mondscheingöttin, wildes Reh und kahlrasiert lederrne Königin, Mutter Gottes, Devi lederrne Königin, Mutter Gottes, Devi
Devi – devi „die Strahlende, Himmlische“: Göttin, weibliche Gottheit, Diva
Jagan – jagat „beweglich, lebendig“: das Bewegliche, Lebendige, die Tierwelt, die Menschheit, die Erde, die Welt, das Weltall
Mohini – betörendes Wesen Chandrikā – ein Frauenname, Mondschein, Erhellung, Erleuchtung, Aufklärung; candraka Mondkreis, Pfauenauge
Chandamundā – eine Form für Durga; canda wild, glühend, leidenschaftlich; munda kahl, rasiert
Hārini – Reh, Mutter von Hari (Vishnu) Chāmundeshwari – cāmunda (carma+munda) eine Form von Durga; carman Haut, Fell, carma ledern, ledergeschütz, lederumhüllt; ishvara vermögend, Gebieter, Fürst, König, Herrscher; ishvari Herrscherin, Königin
Ambike – ambikā Mutter, gute Frau
Devi Devi Devi Jagan MohiniDevi Devi Devi, Zauber dieser Welt Devi Devi Devi Jagan Mohini Devi Devi Devi, Zauber dieser Welt Chandrikā Devi Chandamunda Hārini Mondscheingöttin, wildes Reh und kahlrasiert Chandrikā Devi Chandamunda Hārini Mondscheingöttin, wildes Reh und kahlrasiert Chāmundeshwari Ambike Devi lederrne Königin, Mutter Gottes, Devi Chāmundeshwari Ambike Devi lederrne Königin, Mutter Gottes, Devi
Hier kann man das Lied gesungen hören und mitsingen: https://www.youtube.com/watch?v=AndXtnoO6FM
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Jan |
23.02.20, 09:38 |
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NEUERSCHEINUNG: Reich über Nachrt - wunderwahre Geschichten
Rich über Nacht - wunderwahre Geschichten Eine Laune des Schicksals scheint den armen Bettelmönchen im Spirituellen Zentrum in den Blauen Bergen die märchenhafte Möglichkeit zu eröffnen, über Nacht steinreich zu werden. Wenn sie nur wüssten, ob sie dem Braten trauen können. Da hat einer die Idee, wie sie ihren Reichtum auch ohne äußere Hilfe sicherstellen können: Um ein würdiges Mitglied im Millionärsklub zu werden, muss jeder beweisen, dass er die Kunst der Hochfinanz beherrscht, zu lügen wie gedruckt, und eine wunderwahre Geschichte erzählen, ohne sich beim Lügen ertappen zu lassen. Wird ihm aber eine Lüge nachgewiesen, dann ... siehe die Leseprobe auf:
https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
19.12.14, 00:13 |
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Audio-Verse
Vor kurzem habe ich begonnen, einzelne Gedichte von mir zu sprechen und aufzunehmen, um sie einmal gesammelt als Hörbuch herauszugeben. Hier kommen die ersten Verse.
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Jan |
03.12.13, 23:10 |
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1984: Das innere Funknetz oder Selten so gerannt
Das innere Funknetz oder
Selten so gerannt
Eine Episode aus dem Purushaleben
Zum
Jahreswechsel 1983/84 hatten sich an der Maharishi International
University in
Fairfield, Iowa, USA, über 7000 Meditierende, Sidhas und
Gouverneure versammelt
– mehr als die Wurzel aus einem Prozent der
damaligen Weltbevölkerung. Damit
war zum ersten Mal der kritische
Schwellenwert erreicht, um durch
Gruppenkohärenz das gesamte
Weltbewusstsein positiv zu beeinflussen. Die Wirkung
der Kohärenz schlug
sich weltweit in steigenden Aktienkursen,
Friedensbekundungen der
Staatsoberhäupter, Rückgang von Gewalt und anderen
positiven Ereignissen
nieder. In den drei Wochen der Versammlung taute in aller
Welt das Eis
zwischen Fronten auf.
Im Februar
1984 ging die Purushagruppe, die jahrelang gemeinsam nach
innen gegangen war,
zum erstenmal wieder nach außen und zog in
Viererteams rund um den Globus, um
Führungskräfte aus Politik,
Wirtschaft und Wissenschaft mit Unterstützung der
örtlichen TM-Center
über den »Vorgeschmack auf Utopia« zu informieren – so
nannte Maharishi
die weltweiten Auswirkungen der ersten Versammlung von 7000
Experten der
Maharishi Technologie des Einheitlichen Feldes. An einem Sonntag
sollte
diese weltweite Informationskampagne über Wirkung und Nutzen des
Einheitlichen
Feldes – von Maharishi »Globaler Marsch«genannt – überall
gleichzeitig
eingeweiht werden. In Deutschland waren für diesen Tag
große Treffen in
Schledehausen und Wachendorf für Nord- und
Süddeutschland arrangiert, um den
»Globalen Marsch«mit den
Purusha-Viererteams für die deutschen Bundesländer
einzuweihen.
Am Freitag vor der Einweihung des »Globalen Marsches« saß
ich mit zwei
Dutzend deutschen Purushas noch in Washington, D.C. beim
Mittagessen.
Auf dem Weg von Fairfield nach Frankfurt hatten wir im MIU College
of
Natural Law übernachtet und warteten nun auf die Nachricht
unseres
Reiseleiters, wann der nächste Flug nach Deutschland ging. Die
Nachricht kam:
»Vor Sonntag kein Flug nach Deutschland mehr frei. Alles
ausgebucht.«
Im Speisesaal wurde es still. Das darf nicht wahr sein,
dachten wir.
Endlich brach einer aus meinem Team das Schweigen. »Dann mach ich
einen
Bummel durch die Stadt.« Andere folgten. Einer nach dem anderen
verließ
das Haus. Mit einer Handvoll Leuten blieb ich zurück.
Schließlich meinte unser
Reiseleiter: »Ich fahr mal direkt zum
Flugplatz. Vielleicht lässt sich doch
noch was machen.“
Eine halbe Stunde später rief er uns vom Flughafen an: »Eine
Gruppe
Japaner hat soeben ihren Flug storniert. Wenn alle 24 Mann Punkt drei
am
Flugplatz sind, können wir morgen in Deutschland sein. In spätestens
fünfzehn
Minuten müsst ihr ins Taxi steigen.«
Na also, dachten wir. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!
Die Handvoll
Leute, die im Haus geblieben waren, setzten sich zusammen
und
besprachen, was zu tun war. Jetzt hieß es, anderthalb Dutzend in der
Stadt
verstreute Purushas zusammenzutrommeln. Wie machte man das ohne
Handy?
»Durch Sankalpa, einen festen Beschluss«, schlug ich vor.
»Wir machen
einfach die Augen zu, meditieren für eine Minuten und wünschen uns
ganz
fest, dass alle sofort wieder her kommen. Durch das Feld des
Bewusstseins
sind wir ja alle verbunden.«
»Klar! Das Einheitliche Feld ist unser Funknetz!«
Keiner von uns zweifelte am Erfolg unsres stillen Wunsches.
Wir gingen
fest davon aus, dass wir in unserer Schweigeminute alle angefunkt
hatten
und jetzt bei jedem im Kopf die Sturmglocken läuteten. Wir liefen
durch
alle Zimmer, sammelten alles Gepäck der Gruppe ein und brachten es
zum Ausgang,
wo die bestellten Taxis warteten. Und tatsächlich: Wie
zufällig kreuzte einer
nach dem anderen aus der Stadt wieder auf, und
sobald ein Taxi voll war, brauste
es Richtung Flughafen davon.
Schließlich stand das letzte Taxi startbereit vor
der Einfahrt. Es
fehlte nur noch einer aus meinem Team. Ich sah auf die Uhr.
Schon eine
Minute über die Zeit! »Was mach ich bloß, wenn er nicht kommt?«
Da keuchte er um die Ecke.
»Einsteigen! Schnell«, rief ich ihm zu.
»Aber mein Gepäck ...«
»... ist schon im Kofferraum.«
»Was ist bloß ...«
»Los! Ich erklär dir alles auf der Fahrt.«
Im Taxi fragte er: »Wo fahren wir denn hin?«
»Zum Flughafen. Warum bist du eigentlich so gerannt?«
»Das frage ich dich. Ich bin gemütlich an den Schaufenstern
vorbei
geschlendert. Da hatte ich plötzlich ein brenzliches Gefühl und
dachte:
Geh zurück! Ich fing an zu laufen, rannte immer schneller. Bis
ich gerast bin wie verrückt. Ich dachte, ich verpasse
was. Als ich um
die Ecke bog, sah ich das Taxi und dich. Was läuft hier
eigentlich?«
Ich lachte: »Der Globale Marsch über Wirkung und Nutzen des
Einheitlichen Feldes.«
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
Und als Erfahrungsbericht in: https://www.alfa-veda.com/9783945004289-jan-mueller-patanjalis-yoga-sutra.html
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Jan |
02.05.12, 01:07 |
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Polepole fährt zum Spiegelsee
Liebe Freunde, vor 40 Jahren, im Januar 1972, als Maharishi gerade begonnen hatte, die
Wissenschaft der Schöpferischen Intelligenz zu formulieren, fragte ihn
eine Mutter von 2 Kindern, wie wir dieses Wissen auch Kindern
beibringen könnten. Maharishis Antwort prägte sich tief bei mir ein:
"Für Kinder brauchen wir Geschichten." Das war im Foyer des Hotel Samoa in Calas de Mallorca, wo mein Ausbildungsskurs zum TM-Lehrer
begann. Seither habe ich eine Reihe von Märchen geschrieben, erzählt und
aufgeführt, die ich gerade als "Märchen der Morgenröte" zusammenfasse
und illustriere. 1984 schrieb ich in den Philippinen ein Märchen für
das TM-Center in Nairobi, das 1990 von der französischen Illustratorin
Raymonde Guidotti in bunten Bildern illustriert wurde. Jetzt ist das Märchen als Paperback zusammen mit integriertem Brettspiel auf Amazon erhältlich, inzwischen in sieben Sprachen, siehe https://www.amazon.com/author/janmueller
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Jan |
12.01.12, 11:59 |
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Vischnu-Sahasranam - die tausend Namen Vishnus
Das Vishnu-Sahasranama Stotra steht im 149. Kapitel Anushasanika Parvam des Mahabharatha. Eine andere, weniger bekannte Version gibt es im Padma Purana. Anbei der Sanskrit-Text in Devanagari und Transliteration, der auf der CD des Maharishi Ayurveda Products gechantet wird.
Eine englische Übersetzung der eigentlichen Namen ohne den Vorspann gibt es auf swami-krishnananda.org
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Jan |
11.01.12, 21:04 |
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1963: Punkt zwölf bei Mayas Vater
Punkt zwölf bei Mayas Vater Heute muß ich pünktlich sein, sagte sich Knut. Wenigstens einmal im Leben. Er legte behutsam den Strauß mit achtzehn Rosen neben den Fahrersitz, ging noch einmal um den frisch polierten Capri, kratzte den letzten Fliegendreck von der Scheibe, betrachtete kritisch das viel zu flache Profil, sah auf seine Uhr und dampfte los. Halb zwölf, da konnte er gemütlich fahren. Er brauchte höchstens eine Viertelstunde bis zu Maya. "Komm am Montag, wenn ich mündig werde", hatte sie gesagt. "Dann fahren wir zusammen in den Frühling." Frühling! Dabei fing es an zu nieseln. "Und du mußt bei meinem Vater einen sehr korrekten Eindruck hinterlassen. Sei pünktlich auf die Sekunde ..." Was manche alten Herren für Marotten hatten. Pünktlichkeit! Wo gab es heute sowas überhaupt? "Und fahr vorsichtig. Denk an die Haarnadelkurve kurz vorm Haus." Blutjung und trotzdem so korrekt. Das nannte man Elternhaus. Haarnadel ... Auch nur mit Asphalt gepflastert ... Keine Sorge, heute wollte er besonders langsam fahren. Er nahm den Rosenstrauß und roch daran. Die Straße führte durch leichte Hügel, aus denen überall das Grün hervorschoß. Jetzt kam das Vorgebirge mit den ersten Kurven. Er legte den Strauß zurück und sah auf die Uhr. Viertel vor zwölf. Phantastisch! Noch zwei, drei Kurven, dann war er da. Der Regen wurde stärker, der Himmel spiegelte sich in der Straße. Der Wagen vor ihm drosselte das Gas. Ach, du Schande: eine Autoschlange! Im Schneckentempo ging es weiter, Schritt für Schritt ... Fußgänger müßte man sein! Da wäre man in zwei Minuten da, ... bei dem alten Herrn mit Glatze, Marotten und 900 Angestellten ... Knut trommelte mit den Fingern auf dem Lenker und verfolgte den Sekundenzeiger. In der Klemme ... Ausgerechnet vor der letzten Kurve ... Jeder Zentimeter wurde lang und länger. Drei vor zwölf. Man könnte es noch schaffen. Gleich nach der Kurve kamen schon die ersten Häuser mit dem Bungalow des alten Herrn. Der Regen prasselte aufs Autodach. Verträumte Landwelt. Keiner überholte. Seit geraumer Zeit kam nichts entgegen. Nur die Warteschlange weit und breit ... Jetzt oder nie! Knut scherte aus und gab Gas. Gleich kam die Kurve, und die Sicht zum Bungalow war frei. Mehrere Wagen in der Schlange drückten auf die Lichthupe. Idioten! Ach so: ein Laster! Einreihen, schnell! Puh! Warum griffen bloß die Reifen nicht? ... Spiegelglatter Asphalt. Verflixtes Profil! ... Wozu Autos überhaupt ein Lenkrad hatten! Einen Steuerknüppel bräuchte man in diesem See ... Wie war das mit dem Breitmaulfrosch: "Ich sehe keinen Laster, Laster, Laaaaa..." Es quietschte. Der Capri schleuderte herum, tanzte Wiener Walzer und blieb mit einem Ruck im Straßengraben stehen. Knut war hellwach und unverletzt. Er hatte dem Akrobaten-Kunststück seines Autos völlig unbeteiligt zugeschaut. Er fühlte sich wie außerhalb des Körpers. Unbeteiligt, still, besonnen. Beim letzten Ruck fühlte er sich plötzlich tief erleichtert. Die aufgestaute Spannung hatte sich gelöst, das Befürchtete war eingetroffen. Schlimmer konnte es nicht werden. Eine unverhoffte Heiterkeit ergriff ihn. Er begann, ein Lied zu pfeifen, zog sich den Schlips im Autospiegel zurecht, zog den Scheitel nach, löste den Sicherheitsgurt, nahm den Blumenstrauß und öffnete die Wagentür. Er stand dreißig Schritte vor dem Bungalow. Da kam der alte Herr mit Maya schmunzelnd auf ihn zu: "Sie haben Glück gehabt, junger Freund. Sie hätten zwar vor dem Haus parken können ... Aber immerhin: pünktlich auf die Sekunde!"
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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11.10.11, 23:58 |
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1968: Nackt durch die Straßen
Nackt durch die Straßen
in einer lauen sommernacht 1968 saß ich bei der schriftstellerin katja behrens in der wiesbadener goldgasse und sprach mit ihr über kafkas "fassaden-ich". kafka ging davon aus, dass jeder mensch in der gesellschaft eine fassade aufsetzt und nicht sein wahres selbst zeigt. und ich ging davon aus, dass der künstler immer versuchen sollte, hinter die fassade zu schauen und das wahre wesen zu entdecken. katja meinte, die fassade sei aber auch ein schutz, ähnlich wie die kleidung, die wir in der gesellschaft tragen. dann kam ihr auslösender satz, der mich provozierte: "du würdest dich ja auch nicht ausziehen und nackt durch die gegend laufen." "warum nicht? in der kunsthochschule zeichnen wir ständig den nackten menschen." "das ist was anderes. das ist im atelier, nicht im alltag." langer rede, kurzer sinn: es war kurz vor mitternacht und die straßen waren fast menschenleer. und ich sagte: "probieren wirs doch mal." es war noch ein freund dabei, sie nahmen mich in die mitte, ich zog nur die jacke über und nichts darunter, und wir wagten uns auf die straße. sobald ich im freien war, merkte ich, dass ich auf die jacke und den schutz meiner begleiter verzichten konnte. eine ecke weiter standen die ersten passanten vor einem restaurant. in diesem augenblick geschah in mir etwas seltsames. wenn ich manchmal geträumt hatte, mitten in einer gesellschaft falsch oder gar nicht bekleidet zu sein, hatte ich mich im traum immer hilflos und schutzlos gefühlt und furchtbar geschämt. jetzt aber sah ich, dass die passanten sich schämten. sie drehten sich um, als hätten sie nichts gesehen, und wagten erst wieder einen blick, als ich an ihnen vorbei und fast um die ecke war. so ähnlich verhielten sich auch die nächsten passanten, die uns begegneten. und ich fühlte mich plötzlich völlig frei und selbstsicher, narren- und vogelfrei wie eulenspiegel. und meine begleiter amüsierten sich köstlich über das ganze schauspiel. so drehten wir eine runde ums karree, bis wir wieder vor dem haus der schriftstellerin standen, auf einer engen gasse der innenstadt direkt vor dem eingang einer kneipe. da kam ein auto die gasse entlang, hielt direkt vor mir, der fahrer drehte die scheibe runter und sagte: "des gibts doch nit. des is doch garnit rischdisch angezoche! des is doch 'grober unfuch' oder so." jetzt begann zwischen uns eine längere diskussion darüber, was denn "rischdisch angezoche" hieße. und während der diskussion kamen immer mehr zaungäste aus der kneipe, bis es mir und meinen begleitern zu brenzlich wurde und wir wieder ins haus gingen, wo ich mich in ihrer wohnung im ersten stock wieder anzog und hinterm offenen fenster den immer lauter werdenden tumult auf der straße verfolgte. kurz darauf klingelte es, und zwei polizisten standen in der tür und fragten höflich, ob sich hier jemand befände, der vorhin unbekleidet auf der straße gewesen sei. wir taten zunächst entrüstet, aber ein polizist merkte, dass wir die richtigen waren, und bat mich, einmal den kopf aus dem fenster zu stecken. hier muss ich dazusagen, dass ich zu der zeit gerade zum erstenmal eine glatze trug, was damals allerdings - im gegensatz zu heute - noch kein naturgegebener dauerzustand bei mir war. als der fahrer auf der straße mich sah, deutete er auf mich und rief: "jaja, genau des isser! der glatzkopp! jetz hotter e brill uff, vorhint hotter kaa uffgehappt." "sehn se", sagte der polizist, "jetzt nehmen wir doch mal ihre personalien auf. was sind sie denn von beruf?" "kunststudent." "und warum machen sie sowas? als student müssten sie doch eigentlich ein ganz vernünftiger mensch sein." "ich studiere das verhalten von bürgern in ungewohnten situationen." "aber sie können doch nicht mitten in der stadt unbekleidet ..." "ich war ja nicht unbekleidet ..." "sondern?" "völlig nackt, wie ich auf die welt gekommen bin, ohne haare und brille. genauso wie die neger im busch ..." "aber wir sind doch hier nicht in afrika." langer rede, kurzer schluss: einige monate später, als ich mich gerade längere zeit in asien aufhielt, wurde ich in abwesenheit zu dreihundert mark geldstrafe verurteilt. wenn ich dabeigewesen wäre, hätte ich natürlich gegen die bezeichnung "unbekleidet" protestiert und den tatbestand klargestellt: ich wollte einmal testen, ob man in unserer gesellschaft auch ohne fassaden-ich leben kann. zwei jahre später machten in new york die "Flitzer" schlagzeilen und ich erfuhr auch, das der erste "flitzer" in paris bereits Baudelaire war.
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11.10.11, 23:51 |
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1970: Kosmische Wohnungssuche
Kosmische Wohnungssuche
1972 in Mallorca ging Maharishi ausführlich auf die Frage ein, warum die Menschen nicht von Natur aus im Glückszustand leben. Er verglich den Zustand der Unwissenheit mit einem bewölkten Himmel, der die Sonne verdeckt. Aber selbst bei einem Nervensystem voller Stress, der die Natur des wahren Selbst überschattet, können wir durch die Lücken zwischen den Wolken manchmal die ewig im Hintergrund strahlende Sonne sehen und den Zustand der Erleuchtung wenigstens zeitweilig erleben. Genau eine solche Zeit, in der die Sonne durch die Wolkenlücken über mehrere Monate schien und ich als völlig selbstverständlich hinnahm, dass alles völlig reibungslos ineinandergriff und klappte, erlebte ich 1970/71 in Berlin. Ich war die ganze Zeit völlig »im Fluss«. Es begann damit, dass ich im Herbst 1970 nach Kössen in Österreich fuhr, um laut Rundschreiben »die letzte Gelegenheit zu nutzen, Maharishi in Europa zu treffen, bevor er sich endgültig nach Indien zurückzieht«. In Kössen hörte ich zum erstenmal von sieben Bewusstseinszuständen und erfuhr, dass ein klares Zeichen für kosmisches Bewusstsein der Wachschlaf sei. Als ich Tage später von Satyanand die Nachttechnik erlernte und drei Tage lang meinen Schlaf bewusst wahrnahm, war ich fest davon überzeugt, dass ich - nach drei langen Jahren der Meditation - nun endlich dieses kosmische Bewusstsein erreicht hatte. Ich kam also - aufgeladen mit dem Sattwa einer Versammlung von 2000 Meditierenden mit Maharishi - zurück nach Berlin und erzählte jedem, dass der begrenzte Zustand innerhalb der ersten drei Bewusstseinszustände völlig schal und fade sei im Vergleich zu dem abenteuerlichen Reichtum, der sich bei voller Entfaltung aller sieben Bewusstseinszustände erreichen ließe, worauf fast alle meine (Kunst- und Drogen-)Freunde anfingen zu meditieren. Bei der Aufnahmeprüfung zur Kunsthochschule (bei der ich Jahre zuvor in Mainz durchgefallen war), schrieb ich auf die Frage, warum ich Kunst studieren wolle: »Ich will durch die verschiedenen Kunstrichtungen ausdrücken, dass meine seit Jahrtausenden schlafende Seele wieder erwacht und das Erdenleben zu blühendem Leben erweckt.« Nachdem ich bestanden hatte, meinte der Professor: »Bei Ihnen gab es im Kollegium die stärksten Meinungsverschiedenheiten. Wir waren uns nicht einig, ob Sie völlig durchgedreht sind oder genial.« Aufgrund meiner absoluten Selbsicherheit (ich wusste ja, im kosmischen Bewusstsein brauchen wir uns um nichts zu kümmern, denn die Natur sorgt für alles) war ich schon nach kurzem ASTA-Vorsitzender und Ansprechpartner für alle Studentenfragen. Genauso klappte alles in anderen Bereichen. Wollte ich mit dem Bus fahren, kam der Bus genau in dem Augenblick, an dem ich zur Haltestelle kam, wollte ich jemanden sprechen, rief er an, sobald ich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte. Als ein TM-Lehrer nach Berlin kam, arrangierte ich TM-Vorträge an der Kunsthochschule, plante mit ihm große Werbekampagnen mit U-Bahn-, S-Bahn- und Litfassäulenwerbung, und nach einem halben Jahr hatte Berlin 2000 neue Meditierende. Das beste Beispiel, wie die Natur alles reibungslos organisierte, war mein Wohnungswechsel. Ich hatte vor dem Kurs mit Maharishi eine Wohngemeinschaft in Berlin-Schöneberg übernommen, in der Mitglieder des Musical Hair Ensembles wohnten, die während meiner Abwesenheit laute nächtliche Feste mit Musikinstrumenten gefeiert hatten, so dass uns die Wohnung mit Räumungstermin zum 6. Dezember gekündigt wurde. Als ich aus Kössen zurückkam, suchten alle bereits eifrig nach einer neuen Unterkunft. Ich jedoch sagte: »Sucht ihr nur, ich brauch das nicht. Ich ziehe einfach um, wenn wir raus müssen.« »Und wohin?« »Das wird sich finden. Im kosmischen Bewusstsein sorgt die Natur für alles.« »Und was machst du, wenn du am 6. Dezember nichts gefunden hast?« »Dann bestelle ich den Möbelwagen, räume ein und fahre durch die Stadt bis zu der Stelle, wo ich einziehen soll.« »Na dann viel Glück!« Kurz vor Weihnachten, zwei Wochen nach dem Umzug, trafen wir uns wieder. Die meisten hatten eine Bleibe in Kreuzberg Hinterhof zwischen jugoslawischer und türkischer Volksmusik gefunden und fragten mich. »Und wo wohnst du?« »In Frohnau, dem Villenviertel im Norden, direkt am Wald, ganz in der Nähe des Buddhistischen Tempels. Zur Zeit habe ich das ganze Haus samt Garten für mich allein.« »Und wie kam das?« »Am 5. Dezember fragte mich abends ein Meditationslehrer, ob ich Lust hätte, mit ihm eine Villa zu besichtigen, die er als Meditationszentrum mieten wolle. Ich fuhr also mit nach Frohnau und erlebte, wie er den Mietvertrag unterschrieb. Auf der Heimfahrt fragte er, ob ich Lust hätte, schon mal einzuziehen und das Haus zu hüten, solange er zur Lehrerfortbildung in Spanien sei. ‘Das trifft sich gut’, sagte ich, ‘morgen muss ich sowieso aus meiner Wohnung’.« »Aber das konntest du doch vorher gar nicht wissen.« »Das hab ich euch doch gesagt: Hätte ich mir vorher was gesucht und gemietet, hätte ich ja nicht einfach ja sagen und einziehen können.«
Diesen Zustand, in dem alles vollkommen im Fluss ist, habe ich so deutlich gespürt, dass ich mich noch heute an jede Einzelheit erinnern kann, vor allem aber an das wunderbare Lebensgefühl, von der Natur vollkommen getragen zu werden.
Diese Erfahrungsbericht ist auch enthalten in: https://www.alfa-veda.com/9783945004289-jan-mueller-patanjalis-yoga-sutra.html
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Jan |
11.10.11, 23:28 |
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1991: Hoch oben im Riesenrad
Hoch oben im Riesenrad Jahrmarkt in Amsterdam. Zwischen Schiffschaukel und Achterbahn ragte majestätisch das Riesenrad in den Himmel, rückte Gondel für Gondel vor, bis jede Gondel mit neuen Besuchern besetzt war. "Komm!" Ich nahm Devi bei der Hand. "Wir steigen in die Luft, und wenn wir oben sind, genau in der Mitte, bleiben wir stehen." Wir waren die Letzten, die einstiegen. Kaum saßen wir in der Gondel, begann sich das Rad zu drehen. Unsere Gondel stieg und stieg und stieg. Das Rad hatte erst eine viertel Umdrehung gemacht, doch als wir nach unten schauten, hatten wir den Trubel des Jahrmarkts schon weit unter uns gelassen. "Schau nur", rief ich, "wie hoch wir sind!" Der frische Nachtwind hatte den Geruch von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln längst verweht. Es roch nach den rauhen Wolken, die in durchlässigen Steifen durch die Luft fegten. Der Erdboden mit seinem festen Asphalt, auf dem wir vorhin noch gestanden hatten, schwand langsam aus der Erinnerung. Schwindelnde Höhe! Die Achse des Riesenrades schien nicht auf der Erde, sondern im Himmel verankert zu sein. Ganz leise, wie zum Abschied, klangen die Sirenen der Geisterbahn und das Geklingel der Rennautos an unser Ohr - als Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Kräftig pfiff der Wind durch das knarrende Holzgerüst. Das Stoffdach unserer Gondel schlackerte. Devi fror. Ich schlug meinen Mantel auf, und wir kuschelten uns hinein. Der Jahrmarkt war nur noch als ein einziger schwacher Lichterschein zu erkennen. Unter uns zogen die beleuchteten Straßenzüge von Amsterdam vorbei, die Grachten, die Waterkant. Und immer höher schwang das Rad, trug uns nach oben. Eine breite schwarze Fläche: das Wasser des Ärmelkanals. Schon tauchten gegenüber die Lichter der englischen Küste auf. Jetzt war uns, als sähen wir den Umriß der Erde. Sterne leuchteten rund um den Schatten des Erdballs. Und die Gondel stieg und stieg und stieg. "Schau nur, die Sonne!" rief ich. "Mitten in der Nacht, wie kann das sein?" In tiefem Türkis stieg hinter dem runden Horizont der Erdkugel - erst violett, dann rosa, dann orange - die Sonne auf. Weißgelb und gleißend stand der Ball am Himmel, gleichzeitig aber war der gesamte Sternenhimmel mit den Planeten deutlich zu erkennen. "Schau, der rote Mars, und da, die Venus!" Noch bevor wir die einzelnen Planeten finden konnten, hatten wir uns schon so weit von unserem Sonnensystem entfernt, daß wir es nur noch als silberne Stecknadelköpfe im Nebel der Milchstraßen sahen. Das Getöse des Jahrmarkts war endgültig verhallt, verschluckt von einer tiefen rührenden Stille. Und in dieser Stille erklang unendlich sanft ein kaum hörbares Summen. Eine Melodie, die jemand leise zu sich selber sang, selbstvergessen, als höre niemand zu. Wir spürten die warme Gegenwart eines uralten ewigen Wesens. Die Luft — oder wie man es nennen mochte — war zum Anfassen weich und warm, als wäre der Raum erfüllt von einer Flüssigkeit, die langsam teigiger und schließlich zu einem festen Knet wurde, der sich geschmeidig an die Wangen schmiegte, um den Nacken legte, unsere Körper umschloß und in sich barg. Ein Geräusch erklang wie platzender Seifenschaum. Mir war, als läge ich in tiefem Traum. Hatte ich nicht gerade geträumt, mit Devi auf der Erde durch den Jahrmarkt zu laufen? Wir waren in die Gondel eines Riesenrads gestiegen und im Schwung des Rades von der Erde abgehoben. Und wir hatten geträumt, in festen Körpern zu stecken aus Fleisch und Blut. Plötzlich mußte ich lachen über den kindlichen Glauben, diese Traumkörper seien zum Anfassen echt und fest. Der Seifenschaum glitzerte, die platztenden Bläschen wirkten wie Milchstraßen und Sternennebel. Die Nebel waren wie unterschiedliche Wesenheiten, die jeweils eine eigene Welt regierten. Mir war, als sei das ganze Universum nur mein Traum. Das Universum wurde ruhiger, verschwommener, dann war es völlig aus meinem Bewußtsein verschwunden. Ich spürte nur noch Devi, ganz nah bei mir. Und alles, was ich von ihr spürte, war diese dünne kitzelnde Naht zwischen uns. Und die Naht war immer weniger zu spüren. Unsere Seele, unser Geist floß ineinander. Da war kein Du mehr, das ich umfaßte. Es war e i n Wesen. Wie eine runde Haut umspannte ich mich selbst, mein Universum. Ich versank in meinen Traum, sank in meine Schöpfung wie in einen tiefen, tiefen See. Ich ging unter und vergaß mich selbst. Die Welt stand still. Wie lange? Jahrmillionen? Oder waren es nur zwei Sekunden? Ein leises Ruckeln. Unsere Gondel zitterte, hielt an. Ich öffnete die Augen. Devi saß im Brautkleid neben mir. Ihre Wangen waren rosig frisch, wie angegossen legte sich das schwere Geschmeide ruhig und warm um ihren Hals. Jetzt erst sah ich die Blumengirlanden, die weißen Schleier und rosa Bänder, die unsere Gondel schmückten. Das Rad stand still. Und unsere Gondel stand an der obersten Stelle, genau in der Mitte. "Wie schade", meinte Devi. "Gleich geht es wieder nach unten." "Wenn du willst, können wir ewig hier bleiben. Wir schalten das Rad einfach ab." "Gute Idee! – Wie einfach." "Ja. Alles ist einfach." Wir schauten uns an, offen und unschuldig, wie Kinder im Paradies. "Wenn du willst, Devi, kehren wir nie mehr zur Erde zurück. Wir bleiben einfach hier oben." Devi schob ihre Augenbrauen hoch und sah mich hilflos an. Sie überlegte, ob sie das wirklich wollte. "Vielleicht", meinte sie leise, "sollten wir doch noch mal runter. Ich hab nämlich was vergessen." Ruck. Sanft setzte sich das Rad in Bewegung. Gondel für Gondel rückte es weiter. Die Gäste stiegen aus und mischten sich in den Trubel. "Was meinst du, Devi? Ob sie alle dasselbe erlebt haben?" "Glaube ich nicht. Sonst würden sie sich nicht so schnell im Trubel verlieren." "Hat dir unsere Hochzeitsfahrt gefallen?" "Ja. Es ging so tief. Ich war ganz hin." Unsere Gondel war am Boden angekommen. Wir stiegen aus und betraten – wie zum erstenmal – die Erde.
Plärrend lockte das Geheul der Geisterbahn.
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
11.10.11, 22:56 |
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1985: Federschliff – Geschichten über das Schreiben
Federschliff
“Hallo, armer Poet!” rief Wieland und steckte seine breite, waagrecht aus dem Gesicht ragende Nase durch den Türspalt meiner Mansarde. “Hier ist was zu lesen für dich.” Dabei warf er mir eine Zeitung aufs Bett, auf dem ich zwischen Büchern und Papier beim Dichten saß. “Danke, lese keine Zeitung”, sagte ich. “Lies mal die Anzeige: Fördern von Schriftstellernachwuchs.” “Fördern? Zeig her! Geld kann ich immer gebrauchen.” “Nix Geld. Die wollen den Nachwuchs sichern.” “Ach so. Brauche keinen Nachwuchs. Kinder sind teuer.” “Hör auf zu quatschen, lies die Zeitung.” Wieland ging.
Ich dichtete weiter und behandelte die Zeitung, wie es sich gehörte: mit absoluter Missachtung. Was war dieses flüchtige Geschwafel – heute wichtig, morgen nichtig – gegen meine Dichtung, die in die Weltgeschichte eingehen und alle Ewigkeiten überdauern sollte? Als ich aufstehen und den Ramsch in den Papierkorb werfen wollte, fiel mein Blick auf die Headline der Anzeige: “Sind Sie einer von den tiefen Denkern, die gern schreiben?” Ich nickte und las – zum erstenmal seit Jahren – in der Zeitung. Kurz darauf steckte ich meine unauffällige, durch keinerlei hervorstechende Merkmale zu charakterisierende Nase in den Türspalt von Wielands Mansarde. “Hallo, Nachwuchsförderer! Haste mal ne Briefmarke?” “Angebissen, wa?” “Muss doch wissen, was da läuft.”
Drei Tage später blätterte ich eine Broschüre durch, die mit tiefenpsychologisch aufgebauten Argumenten für eine Fernschule des Schreibens warb. “Sie erhalten unsere von professionellen Schriftstellern erarbeiteten Lehrhefte, arbeiten sie in aller Ruhe zu Hause durch, machen die Übungen und reichen uns dann ihre fertige Arbeit ein. Ihr Studienleiter korrigiert Ihre Hausarbeit und gibt Ihnen in seinem Antwortbrief weitere wertvolle Ratschläge und Hinweise, während Sie inzwischen das nächste Lehrheft durcharbeiten.” Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass professionelles Schreiben zwar in Amerika und Frankreich als Hochschulstudium angeboten werde, in Deutschland dagegen sei der Schriftstellernachwuchs ganz auf sich selbst gestellt. Kein Wunder also, dass unter internationalen Bestsellerautoren nur sporadisch ein Deutscher zu finden sei. Dem musste ich wehmütig beipflichten, hatte ich doch die deutschen Vorlesungsverzeichnisse für Germanistik und Publizistik vergeblich nach Kursen für professionelles Schreiben durchforstet. Zwei Gründe sprachen allerdings dagegen, mich für diesen Fernkurs anzumelden: Erstens wurde ich den Verdacht nicht los, dass der Kurs nur auf blutige Laien und Anfänger zurecht geschnitten war und sich die Studienleiter nicht anmaßen konnten, mich, den Poeten, das Schreiben zu lehren. Zweitens sollte ich dafür bezahlen! Nur der penetranten Werbestrategie des Fernlehrinstituts, das meine einmal als Schreibinteressent erfasste Anschrift über mehrere Jahre hinweg in regelmäßigen Abständen mit immer neuem, aufeinander abgestimmten Werbematerial belieferte, war es zu verdanken, dass ich mich drei Jahre später eines schönen Tages dabei ertappte, wie ich einen roten Kugelschreiber mit Tesa auf ein leeres Blatt klebte, “Für meinen Studienleiter” darunter schrieb und ihm, wie es im Probeheft verlangt wurde, in 80 Manuskriptzeilen erläuterte “Warum ich schreiben lernen will.” Nämlich
Weil es meine Zauberpuppe will.
Auf dem Regal bei meinem Bett sitzt eine Zauberpuppe. Vor einer Woche sagte sie zu mir: “Was schaust du mich so an und wartest, dass ich wieder was diktiere? Ich höre auf damit, du hörst ja doch nicht zu.” Sie streckte sich auf ihrem Pfauenfächer aus und ließ die braun-weiß gestreifte Eulenfeder achtlos aus den Fingern gleiten. Da stand ich da: ein Schreiber – ohne Text. “Was ist denn, warum diktierst du nicht weiter?” “Du kannst ja doch nicht schreiben, was ich will.” “Ich kann nicht schreiben?” “Märchen vielleicht. Oder geistreiche Gedichte. Aber der Geschäftsbrief, den ich dir diktieren will, der ist zu schwer für dich, was wetten wir?” “Zu schwer für mich? Das will ich sehen.” Janni, meine Zauberpuppe, richtete sich auf, nahm die riesige, leicht gebogene Eulenfeder wie ein Samuraischwert in die Hand und befahl in geschäftlich strengem Ton: “Dann hole bitte aus dem Ordner 83 die Unterlagen für die Anmeldung beim IFS.” “Beim Institut für Federschleifen? Bist du wahnsinnig? Du kannst doch nicht von mir verlangen, dass ich bei diesen Halsabschneidern in die Lehre gehe. Die versuchen noch, uns weißzumachen, dass unsre Schriften alle wertlos sind. Ich darf erst jahrelang für braves Geld studieren, bevor ich ihrem hohen Lektorat was schicken kann. Ich habe schließlich in der Schule schon Grammatik und so weiter und ...” “Schon gut. Ich wusste ja: Es ist zu schwer. Doch eines sag ich dir: Die Werke, die uns auf der Seele brennen, diktiere ich allein dem Federhalter, der seine Feder bis ins Tüpfelchen beherrscht und selbst bei Schallgeschwindigkeit im Griff behält.” “Kein Problem. Du sprichst so oft, so schnell, so flüssig, wie du willst – ich höre zu und schreibe mit, so gut ich kann.” “So gut du kannst, das ist es ja: Die feinen Untertöne hast du nie gehört.” “Meinst du vielleicht, dass diese Bauernfänger mir erklären können, wie ich deine Stimme besser höre?” “Genau. Das können sie.” “Sie kennen dich doch gar nicht.” “Woher willst du das wissen? Wer Bücher schreibt, der kennt auch jemanden, der ihm diktiert. Das sind doch schließlich Schreiber, oder nicht?” Ich blickte aufs Regal und betrachtete mein märchenhaftes Püppchen. Ihr langer weißer Bart, ihre kindlich offenen Augen, ihr weißer Spitzhut und ihr weißer Kittel mit den blauen Sternchen, alles war poetisch-märchenhaft wie immer. Nichts verriet mir, woher sie plötzlich diesen nüchternen Geschäftston nahm. “Ich weiß nicht, wie du grade jetzt auf die Idee kommst, mich bei diesen Federfuchsern anzumelden. Seit zwanzig Jahren fließt es reibungslos. Sind die Regale denn nicht voll genug?” “Viel zu voll, mein Lieber! Viel zu voll! Alle diese Ordner müssen raus. Ein gutes Manuskript steht nicht im Zimmer rum.” “Kein Manuskript im Zimmer? Trostlos. Unvorstellbar.” “Wie fändest du zum Beispiel die Idee, wenn sich die Werke nicht in deiner Stube, sondern in Bücherläden, Bibliotheken, Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmern stapeln würden? Was nutzen dir die schönsten ,Märchen der Morgenröte’, was nutzt dir ,Naseweiß’, der ,Preis der Lyrik’, ,Kreis der Augenblicke’, was nutzt dein ganzer ,Tick mit Mathema’ in dieser Eigensprache, die kein Mensch versteht, wenn alles wieder auf dem Schuttplatz landet wie die Kiste deines Jugendwerks?” “Der erste Zentner damals war was anderes. Da ahnte ich noch nichts von dir, mein lieber Janni, und dass ich dich so unverhofft beim Räumen in der Rumpelkammer finden würde. Und außerdem: Was wird aus unserem Vorsatz?” “Welchem Vorsatz?” “Wir wollten doch den Leser glücklich machen und mit Wissen, Witz und Liebe füttern. Meinen Studienleiter aber stürzen wir ins Unglück.” “Unglück? Er wird sich freuen, wie gelehrig du dich zeigst.” “Wenn er aber nichts zum Korrigieren findet, kommt er in Zugzwang und wird unglücklich.” “Verstehe: Das Genie ist unverbesserlich! – Sei unbesorgt: Der Fachmann findet was. Und wenn er auf den ersten Blick nichts sieht, dann fragt er eben seine eigene Zauberpuppe und findet was, und wenn er es erfindet.” “Er-findet-was? Das will ich wissen, was deerfindet.” So hat die dumme Puppe mich beschwätzt. Sie sehen schon, mein lieber Studienleiter: Ich bin ein Ziegenbock. Ich will nichts lernen. Ich habe mich bei Ihrem Institut nur angemeldet, weil es meine Zauberpuppe will. Warum sie will, dass ich das Schreiben lerne, das – bitte – fragen Sie die Zauberpuppe selbst.”
***
Ach ja, mein Studienleiter. Wie nett und ehrlich er geantwortet hat. Das Traurige, ja Tragische war nur, dass er keine Zauberpuppe hatte. Da hatte ich den Salat: Ich durfte allmonatlich dafür bezahlen, einen netten Onkel, der vom Schreiben weniger Ahnung hatte als ich, mit brisanten Geschichten zu unterhalten. Nicht nur meine Studienleiter und Nachbarn, auch mich selber forderten die Aufgaben immer wieder neu. Da wurden Gesprächsfetzen aus einem aufgeschnappten Telefongespräch über den letzten Urlaub vorgegeben, aus denen ich eine spannende 100-Zeilen-Geschichte machen sollte. Ich glaubte, aus den Vorgaben deutlich herauszuhören, welche Art von Geschichten das Institut erwartete, und zwar
Beidseits der Trennwand.
Den Computer auf dem Schoß, die Bürolampe auf dem Nachttisch, saß Pierre in seiner Zimmerecke auf der Pritsche und tippte einen Kurzkrimi für den “Klüngelsdorfer Boten” in die Tasten. Da schrillte das Telefon. Im Nebenzimmer, hinter der dünnen, behelfsmäßig aus Regips- und Dämmplatten eingezogenen Trennwand, schrillte das Telefon. “Agentur Otto Frieß”, hörte er die Stimme seines Zimmernachbarn. “Kurzgeschichten? Selbstverständlich. Aber rufen Sie doch bitte tagsüber ... So eilig wirds wohl nich ... Wie bitte? Sagen Sie das noch mal! Donnerwetter!! 12.000 Mark für 100 Zeilen?!” Pierre horchte auf, griff zum Schmierblock, lehnte den Kopf an die Wand und lauschte: “Prosawettbewerb der Gegenwart? ... Und das kurz vorm Schlafengehen! Ist ein Thema vorgegeben? ... Aus den aufgeschnappten Fetzen eines Anrufs was zusammenreimen? Das ist doch kein Thema. ... Welche Fetzen? Moment, ich schreibe mit: großer Fisch in Sicht, Vollmondnacht ... Hab ich, ja ... Nachbar total schockiert ... Ok. Kein Problem, da machen wir ‘n Reißer draus. Mit Baby, Blut und Busen!” Typisch Otto, dachte Pierre: Immer die drei Bs! Er sah im Geist, wie Otto mit seinen wurstigen Fingern das Wort “Reißer” niederschrieb und rülpsend das Spruchband betrachtete, das vor seinem Schreibtisch an der Wand hing: EIN SCHREIBER IST, WER TEXTE SCHREIBT – EIN KÜNSTLER IST, WER SIE VERKAUFT. Symbiose nannte er das. Otto war der Künstler und Vermarkter, Pierre sein Schreiber. Und wieder Ottos Stimme: “Kreuzfahrt um Mitternacht? Ein Hai am Boot? ... Prima. Das bringen wir mit Südseekolorit, vielleicht: Mit Hai und Hula-Hoop nach Honolulu.” Diese Vergewaltigung der Kunst, dachte Pierre. Wie lange noch? Honolulu aus den Fingern saugen! Dabei war der Alltag viel poetischer ... Prosawettbewerb der Gegenwart!! Das war doch mal was andres als die Nullachtfünfzehn-Stories für den Klüngelsdorfer Boten. Pierre griff zum Bleistift und notierte: “Kurz vor Mitternacht. Zwei im selben Boot. Plötzlich Aufruhr. Großer Fisch in Sicht. Nachbar total schockiert.” “Einsendeschluß: Datum des Poststempels. Klar! ... Moment mal! Fünfzehnter März? ... Das ist doch heute! ... Sie wolln mich wohl ver...! Was? Im Preiskonzept mit eingeplant? Also ... Da bleiben uns ja kaum zwei Stunden! Und ich muss noch bis zur Bahnhofspost damit. Gut, dann Tschüss. Adresse hab ich, ja. Und danke für den Anruf.” Pierre sah auf die Uhr: Fünf vor halb elf. In 95 Minuten wechselte der Poststempel das Datum. Jetzt hieß es handeln. Ruhig und hellwach. Er atmete tief durch, dann schrieb er auf ein frisches Blatt: “Lieber Otto, bitte nicht stören. Habe alles mitgehört. Strikte Arbeitsteilung. Bereite schon den Umschlag vor. Porto für drei Seiten Manuskript. Prüfe, ob Benzin im Tank. Lass ab zehn vor zwölf den Motor laufen. Auf den Siegerpreis! In Eile. Pierre.” Er riss den Zettel aus dem Block, klebte ihn mit Tesa außen an die Zimmertür, drehte von innen den Schlüssel im Schloß herum, setzte sich auf die Pritsche und fing an zu tippen. Nebenan hörte er, wie die Tür von Ottos Büro aufging. Wahrscheinlich hatte Otto jetzt sein eigenes Konzept für die Geschichte fertig. Ottos Watschelgang kam hastig näher, hielt vor seiner Zimmertür, ging zaghaft wieder ins Büro zurück. Pierres Computer und Gehirn rotierten: Schauplatz, Handlung, Spannung, Steigerung, Pointe. Nach einer halben Stunde war das Gröbste im Computer. Da ging die Nebentür zum zweitenmal. Leise wurde an die Tür gepocht. “Pierre, hörst du? Mach doch kurz mal auf. Will dir nur schnell das Konzept erklären.” Genau! Das hatte er befürchtet. Dann wurde eine Stunde diskutiert, und kurz vor zwölf war keine Story fertig. Pierre steckte Watte in die Ohren. Er konnte sich in allen Einzelheiten ausmalen, was in der nächsten Stunde zu erwarten war. Seine Tasten klimperten wie Kastagnetten. Immer, wenn er voll im Fluß war, klangen ihm die Tasten des Computers wie Musik. Von der Tür kam rhythmisch die Begleitung: dumpfes Türentrommeln. Erst leise, gleichmäßig, dann kräftiger, nervöser. “Pierre, mach auf! Wir haben nur noch eine Stunde Zeit. Du weißt doch gar nicht, wie und wo sich alles abspielt.” Pierre tippte unbeirrt. So, der Entwurf war fertig. Er stellte den Drucker an, legte Schmierpapier ein und drückte auf “PRINT”. Während der Drucker ratterte, sah Pierre noch einmal die Notizen durch. War alles eingebaut? Punkt für Punkt hakte er ab, dann landete der Zettel im Papierkorb. Inzwischen war der Probeausdruck fertig. Pierre zählte: 74 Zeilen Manuskript. Fehlten noch 26 Zeilen. Also verdeutlichen, erweitern und ergänzen. “Pierre, mach doch bitte keine Zicken. Stell dir vor: zwölftausend Piepen! Soll uns so was durch die Lappen gehen?” Pierre tippte, druckte wieder aus und zählte: 119 Zeilen. Also 19 Zeilen streichen. Aber welche? Die Vorarbeit des Schreibens war geleistet, jetzt begann die große Kunst des Kürzens. Zwölf Zeilen hatte er bereits gekürzt, da kam der erste Faustschlag an die Tür. Pierre dankte seiner Ohrenwatte, angelte die Pudelmütze hinter dem Kopfkissen hervor und zog sie über die Ohren. “Mensch Pierre, mach auf! In zweiundzwanzig Minuten muss das Ding im Kasten sein!” – Lange Pause. Dann leise, zu sich selbst: “Vermasselt uns die schönste Chance, dieser Trottel!” Pierre musste lachen. Er hätte keine Themen ohne Otto. Aber Otto hätte keine Texte ohne ihn! Ein Schlüssel klapperte im Schloß. Vergebens. Eine Taschenlampe leuchtete durchs Schlüsselloch. “Pierre, das ist unfair. Zieh doch wenigstens den Schlüssel raus. Wir haben nur noch siebzehneinhalb Minuten.” Der letzte Probeausdruck: 104. Vier Zeilen kürzen. Aber welche? Nichts konnte weggelassen werden. Kein Satz, kein Wort, kein Komma, keine Silbe. Sehr gut, dachte Pierre. So muss es sein. Wir mogeln einfach mit der Zeilenlänge. Er stellte die Zeilen einen halben Zentimeter breiter ein, so dass mehr Buchstaben auf jede Zeile passten. Der alte Trick. Der breitere Zeilenumbruch brachte ein paar Zeilen weniger. Er drückte auf “PRINT”, stand auf und ging zur Tür. “Jetzt reicht mirs aber! Diese Schreiberlinge!” Er hörte Otto Anlauf nehmen, drehte den Schlüssel um, trat hinter den Türrahmen und öffnete sperrangelweit die Tür. Otto stolperte ins Leere, fing sich, sah die leere Pritsche, blickte sich entgeistert um und suchte Pierre. Dann sah er den ratterten Drucker und ging darauf zu. Pierre trat hinter der Tür hervor, ging zum Drucker, faltete die Seiten. “Ist der Umschlag beschriftet und frankiert?” “Ist das die Story? Aber ... Wie heißt sie denn?” “Beidseits der Trennwand.” “Trennwand?!” Ottos Augen wurden groß. “Bist du plemplem? Das Thema war doch völlig anders.” “Eben: beidseits der Trennwand – völlig anders.”
*** 2 Kurzgeschichten für die "Schule des Schreibens" des IFS, 1985
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Jan |
11.10.11, 22:44 |
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1976: Der Riss
Der Riss
Drei Minuten vor unserem Auftritt
entdeckte ich das Malheur: Mitten in der Leinwand klaffte ein
fingerbreiter Spalt und zog sich senkrecht bis ins obere Drittel. Die
Naht war gerissenen. Ausgerechnet jetzt!
Solange der Trickfilm unseres Vorgängers lief, bemerkte keiner den Riss.
Auch ich hatte die feine schwarze Linie übersehen, hatte nichtsahnend
die Hundemeute verfolgt, die zu Mozarts kleiner Nachtmusik mit wehenden
Schlappohren über die Leinwand hetzte, von rechts nach links, dann
Kehrtwende und im gleichen Tempo zurück, ein ständiges Hin und Her.
Nach der siebten Wende der rennenden Hunde hatten die Zuschauer den Handlungsfaden
begriffen. Seine Einfachheit war genial und gab dem Film Witz und Tiefe.
Nach dem zwölften Hin und Her brüllte der ganze Saal. Dieser Wahnsinnsfilm war
unschlagbar. Unser Schattenspiel, das wir seit Wochen für das erste
deutsche “Licht- und Schatten-Festival” einstudiert hatten, erschien mir
plötzlich fad und farblos.
Als ich mich hinter der Leinwand am Tageslichtprojektor aufbaute, um
unser Spiel vorzuführen, war meine Stimmung auf dem Tiefpunkt.
Genau in diesem Augenblick blendete mich der Strahl des Filmprojektors,
und ich bemerkte den Riss: Die mittlere Naht der Leinwand war aufgeplatzt. Solange das
Licht von vorn auf die Leinwand schien, fiel das niemandem auf außer
mir. Unser Projektor aber leuchtete von hinten und blendete die
Zuschauer, die vor dem Riss saßen. Und genau in der Mitte des Parketts
saß deGroyter, der noch Schattenspieler für seine Europa-Tournee anheuern
wollte. Ausgerechnet er wurde durch diesen Riss geblendet. Es sei denn,
wir flickten die geplatzte Naht noch vor dem Auftritt.
Ich sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Hunde ewig weiter jagen
mögen von einem Ende der Welt zum anderen, und verschwand in der
Garderobe.
Der Riss war mir ein Rätsel. Helene hatte die Schattenwand sorgfältig
zusammengenäht. Wie konnte sie platzen? Und wie war sie zu flicken? Ein
Tacker und Sicherheitsnadeln fielen mir ein. Ich suchte in der Garderobe
Tische, Schachteln und Schubladen ab. Ohne Erfolg. Erst bei den
Requisiten wurde ich fündig.
Im Takt der Hundemeute jagte ich zurück. Auf dem Gang zur Bühne fand ich
eine Stehleiter und nahm sie mit. Die Leinwand war dunkel, der Kurzfilm
war zu Ende, tosender Applaus drang durch die Wand.
Ich stellte die Leiter an den Bühnenrand und hörte, wie der Applaus
verebbte und Schlick, der Veranstalter, unseren Auftritt ankündigte:
“Als nächstes sehen Sie das Schattenspiel “Der Haarnadeltanz”,
vorgeführt von Sascha Wotruba und Helene Heidenreich. Mit Oboe und Pauke
begleitet von Siegfried Schuss.”
Helene stand zitternd am Projektor, ich gab ihr ein Zeichen zu warten,
aber es war zu spät. Die Oboe spielte das Eingangsmotiv, Helene knipste
den Projektor an, und auf der Leinwand erschien unser Bühnenbild: ein
zwischen Wolkenkratzern gespanntes Hochseil. Und mitten im blauen Himmel
klaffte der Riss!
Mein Herz stand still. So kam es mir jedenfalls vor. Helene winkte mich
zum Projektor, aber ich stand wie erstarrt an der Leinwand.
Plötzlich hörte ich keine Oboe mehr. Ich sah nur den Riss. Eine seltsame
Ruhe überkam mich. Das Lampenfieber war wie weggeblasen. Es gab nichts
mehr zu verlieren.
Seelenruhig schritt ich über die Schattenwand auf den Riss zu, bis ich
zwischen deGroyter und Lichtquelle stand. Durch meinen Schatten konnte
ihn die Lampe des Projektors nicht mehr blenden. Diese Stellung durfte ich erst
verlassen, wenn der Spalt geschlossen war.
Oder? War nicht gerade das Durchblitzen der grellen Projektorlampe das eigentlich Spannende? Der Nervenkitzel, zumindest für mich und deGreyter!
Unser Haarnadeltanz war vergessen. Das Schattenspiel hatte begonnen und
drehte sich jetzt um den Riss. Das war mein Konflikt. Ich beäugte
ihn von allen Seiten, fuhr mit dem Zeigefinger entlang bis hinunter auf
Nabelhöhe, dann hoch bis über meinen Kopf. Ich zog die klaffende Naht
mit den Fingern zusammen, winkte Helene heran und reichte ihr den
Tacker. Mit jedem Tackergeräusch wurde der Riss kleiner. Nur das obere
Drittel konnten wir nicht erreichen. Schulterzuckend sahen wir uns an.
Helene schaute sich um und zeigte zum Bühnenrand. Ich holte die
Stehleiter, stellte sie vor den Riss und stieg hinauf. Sie kletterte
hinter mir die Sprossen hoch. Es wurde eng. Ich stieg höher, sie stützte
mich ab. Als ich den Fuß auf die oberste Sprosse setzte, kippelte die
Leiter und wir polterten zu Boden. Gelächter im Saal. Ich drohte den
Zuschauern mit der Schattenfaust.
Wir rappelten uns hoch, stellten die Leiter wieder auf. Diesmal stieg
Helene hoch und hielt die Naht zusammen, wir hörten das Geräusch des
Tackers, aber die Naht blieb offen: Die Krempen waren alle. Erneutes
Lachen. Ich zog eine Sicherheitsnadel aus der Hosentasche und verschloss
den letzten Spalt. Applaus.
Mit Siegergeste stellte Helene einen Fuß auf die oberste Plattform der Leiter. Beim
Absteigen rutschte sie ab, ihr Fuß verhedderte sich in der Leinwand,
und mit lautem Ratsch zerriss im Sturz die ganze Naht. Benommen lag sie
am Boden. Hatte sie sich verletzt? Ich betastete sie, half ihr auf, und
wir krochen durch den Riss nach vorn.
Wie ein Punktscheinwerfer strahlte die Projektorlampe nun genau in
deGroyters Gesicht. Ein dumpfer Knall, ein Paukenschlag, und wir
standen im Dunkeln. Der heiße Glühfaden der Projektorlampe hatte uns die Erschütterung der Bühne anscheinend übel genommen.
Totenstille im Saal.
Das Rampenlicht blendete auf, und Schlick erschien auf der Bühne. “Werte
Zuschauer. Statt des angekündigten Schattenspiels sahen Sie soeben aus gegebenem Anlass die
Stegreifpantomime DER RISS IN DER SCHATTENWAND.”
Jetzt erst setzte Applaus ein. Ich hatte das Gefühl, aus reinem Mitleid.
Mit gemischten Gefühlen stahl ich mich mit Helene nach der Vorstellung
ins Bankett. Am liebsten wären wir in den Boden versunken, aber Schlick
schleifte uns ausgerechnet an deGroyters Tisch.
“Hier sind sie”, sagte er.
DeGroyter musterte uns scharf: “Wussten Sie vor ihrem Auftritt, dass die Leinwand defekt war?”
Ich nickte.
“Wann haben Sie den Riss entdeckt?”
“Drei Minuten vor unserem Auftritt, etwa nach der zehnten Kehrtwende der
jagenden Hunde. Ich hatte gerade noch Zeit, einen Tacker und eine Leiter zu suchen.”
“Und wie erklären Sie sich den Riss?”
“Das ist uns selber ein Rätsel. Wir hatten die Naht doppelt genäht und die Leinwand sauber gespannt.”
“Arbeiten Sie immer so? Wie kann so was passieren?”
Mit breitem Grinsen zog Schlick ein Teppichmesser aus der Jackentasche. “Dieses Messer war daran schuld.”
Helene wurde leichenblass. Mit großen Augen starrte sie ihn an: “Sie? Aber warum? Was haben wir Ihnen getan?”
Er grinste noch breiter. “Als ich deGroyter genau vor der Naht im Parkett sitzen sah, ist mir einfach die Hand ausgerutscht.”
“Aber wir hatten doch den Haarnadeltanz ...”
“Ich weiß. Aber de Groyters hat ein Faible für Stegreifspiel.”
Jetzt grinste auch deGroyter. “Schon gut. Ich glaube Ihnen, Schlick.” Er
nippte an seinem Sektglas, dann meinte er zu Helene und mir. “Hättet Sie Lust, mit uns auf Tournee zu gehen? Ich bräuchte noch ein paar
Leute, die den Nerv haben, notfalls auf offener Bühne zu
improvisieren.”
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
20.09.11, 18:56 |
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1955: Fridolins Beweis
Fridolins Beweis
Es kam mit der Morgenpost. Ein ganz normales Paket in braunem Packpapier mit derber Schnur. Fridolin nahm es entgegen und entzifferte den Absender: “Weih-nachts-mann.” Nanu!? Von dem bekamen doch die Eltern keine Post! Jetzt las er Silbe für Silbe den Namen des Empfängers, wobei er lautlos Lippen und Zunge bewegte: “Fri-do-lin!” Er hatte ein Paket bekommen! Mit echter Briefmarke und Stempel! Zum ersten Mal, seit er lesen konnte.
Fridolin legte die Stirn in Falten wie Papa, wenn er Rechnungen bekam,
lief ins Wohnzimmer und bat seinen Papa um die Schere. “Wofür brauchst
du die?”
“Ich will was auspacken. Das ist verschnürt.”
Mit der Schere lief er in sein Zimmer, fegte den kunterbunten
Spielzeughaufen vom Tisch und stellte seinen Schatz darauf. Er betastete
ihn von allen Seiten. Da! Ein Knacken. Leise, aber deutlich ertönte
eine Stimme aus dem Paket: “Und jetzt singen wir gemeinsam: ‚Süßer die
Glocken nie klingen’ ...”
Gemeinsam? Das Paket und er? Seltsame Post! Aber als das Lied ertönte, sang er mit.
“... und jetzt packen wir Geschenke aus”, klang es aus dem Paket.
“Vorsicht! Nur die Schnur durchschneiden, nicht die Finger!” Mit der
Scherenspitze löste Fridolin behutsam den Knoten, rollte die feste
Kordel säuberlich zusammen und steckte sie in die Hosentasche. Als er
das Packpapier beiseite schlug, stand vor ihm ein Päckchen mit
Goldschnur, eingewickelt in Geschenkpapier, auf dem Engel mit Harfen und
Trompeten zu sehen waren. Wieder erklang die Stimme: “Heute sitzen wir
zusammen mit den Allerkleinsten hier im Rundfunk ...”
Oh!? Seine Bestellung vom Wunschzettel! Ein eigenes Radio, mit dem er
machen konnte, was er wollte! Bei dem großen Gerät von Opa durfte er
immer nur zuhören. Manchmal auch an den glitzernden Knöpfen drehen, in
denen sein Spiegelbild eine riesige Nase bekam, wenn er nahe heranging.
Oder an dem Knopf, bei dem sich das grüne Magische Auge und die
Geräusche veränderten. Aber das Wichtigste, das Allerwichtigste bei
einem Radio, durfte er nie!
Schnipp-schnapp! Im Nu war die Goldschnur durchgeschnitten, das
Engelspapier aufgerissen, der Pappkarton umgestülpt, und schon lag das
Radio auf dem Bauch. Ein länglicher Gegenstand in Geschenkpapier rollte
über die Tischplatte. Fridolin packte ihn aus und war völlig aus dem
Häuschen: ein Kreuzschlitzschraubenzieher, der genau zu den Schrauben am
Gehäuse passte!
Bei Opas Radio hatte er durch die Löcher der Rückwand eine ganze Stadt
entdeckt, mit silbernen Häusern und Türmen aus Glas, in denen gelbe und
rötliche Lichter brannten. Wenn jemand Geige spielte, versuchte er
herauszufinden, aus welchem Turm sie kam. Im linken Türmchen oben hing
die Triangel, im rechten unten stand das Xylophon. Die silbern
verzierten Glastürme hatten runde Dächer mit Blitzableitern. Warmer
Dunst, der eigenartig roch, kam aus dem Radio. Nur die Spieler hatte er
bisher nirgends entdecken können. Das mussten winzige Wichtel sein,
nicht größer als Marienkäfer oder Bienen. Aber Papa glaubte ihm nicht.
“Im Radio sitzen keine Wichtel”, sagte er immer. “Die Musik kommt aus
einem großen Saal.”
Endlich war die Rückwand abgeschraubt. Huch?! Keine Türme aus Glas mit
Triangel und Xylophon! Alles war viel kleiner als in Opas Radio und aus
Metall oder Plastik.
“Na, hast du deine Wichtel schon entdeckt?” Papa war leise ins Zimmer getreten. “Wo sitzen sie denn?”
Fridolin schaute in den Kasten und zeigte auf den großen runden Bau mit schrägem Dach. “Hier!”
“Komisch. Ich sehe keine Wichtel. Hab wohl die falsche Brille auf.”
“Die kannst du nicht sehen. Die sitzen doch innen drin.”
“Und wieso gerade dort?”
“Weil da die Musik rauskommt. Du hast doch selbst gesagt: Die kommt aus dem großen Saal.”
“Für mich ist das ein Lautsprecher. Die Musiker sitzen ganz woanders.”
“Wo sollen die denn sein?”
“In einem richtigen Orchestersaal. Der Flügel, den du gerade hörst, ist größer als unser Klavier.”
“Und wie kommt die Musik ins Radio?”
“Der Ton wird mit Mikrofonen aufgenommen und über Radiowellen gesendet,
die von der Antenne empfangen werden. Das ist diese große Drahtspule
hier. Die Wellen werden verstärkt und kommen als Ton aus dem
Lautsprecher.”
Fridolin beäugte erst die Drahtspule, dann den Lautsprecher. Konnte das
Radio wirklich ohne Wichtel Musik machen? “Aber wenn im Radio keine
Wichtel wohnen, Papa, wozu brauchen sie dann hier die ganze Stadt?” Er
zeigte auf die grüne Platte mit den vielen Türmen, Würfeln und
Flachbauten. “Hier wohnen die Wichtel, hier sind die Fabriken und die
Lagerhallen, und das hier sind die Öltanks und die Wassertürme.”
Papa schaute in den aufgeschraubten Kasten. “Ich sehe nur
Aluminiumkästen mit elektronischen Bauteilen. Das Schwarze sind
integrierte Schaltkreise und deine Öltanks und Wassertürme sind
Kondensatoren und Spulen, Widerstände und Transistoren. Siehst du dieses
runde Ding mit den vielen silbernen Scheiben? Das ist der
Drehkondensator. Damit stellst du den Sender ein. Pass auf!”
Papa drehte an einem Knopf, und plötzlich war keine Wichtelmusik mehr zu
hören, sondern eine Stimme: “Nun die Meldungen zur Verkehrslage ...”
Verdutzt schaute Fridolin in den Kasten. Da entdeckte er einen zweiten
Rundbau mit schrägem Dach. Von dort kam die Stimme: “... zwischen Bad
Homburg und Frankfurter Kreuz zwei Kilometer Stau.”
Fridolin überlegte. “Papa! Wenn im Radio keine Wichtel wohnen, wozu sind dann überall die Straßen?”
“Das sind Bahnen, auf denen der Strom fließt.”
“Ich sehe aber kein Wasser!”
“Ich meine elektrischen Strom, den siehst du nicht.”
Fridolin drehte an demselben Knopf, an dem Papa gedreht hatte, und sah,
wie sich die Metallscheiben bewegten. Jetzt waren wieder die
Weihnachtslieder zu hören. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er
die silbernen Bahnen. “Papa? Du hast doch gesagt, es gibt im Radio keine
Wichtel, weil du sie nicht sehen kannst.”
“Genau.”
“Also gibt ’s auch keinen Strom und keine Radiowellen.”
“Warum nicht?”
“Weil du sie nicht sehen kannst.”
“Nee, nee, so einfach ist das nicht. Du siehst zwar nicht die Radiowellen, aber du hörst die Musik.”
“Die machen doch die Wichtel. Vorhin haben sie selber gesagt, sie sitzen hier drin. Da: jetzt reden sie wieder.”
“... Sie hörten: Wichtel machen Musik. Unser Wichtelchor und das
Rundfunkorchester brachten Weihnachtslieder von den Kleinsten für die
Kleinsten. Und jetzt wünschen alle, die heute hier im Rundfunk
versammelt sind, unseren großen und kleinen Hörern da draußen: FRÖHLICHE
WEIHNACHTEN!”
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
20.09.11, 18:52 |
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2001: Der mathematische Trommelklang
Der mathematische Trommelklang
Ich war sprachlos. Nach Worten suchend
starrte ich auf den Bildschirm meines Computers, da klopfte es an der
Tür. Mein Neffe Matthias kam in seiner Motorradkluft herein. “Hallo,
altes Haus! Lebst du noch? Ich hab hier was Feines für dich.”
Ich beäugte das Bündel, das er mir überreichte: eine Art Taucheranzug mit Helm. “Was ist das?”
“Ein Cyberanzug.” Er steckte ein Kabel in meinen Computer, verband es
mit dem Anzug und schob eine CD ins Laufwerk. “Damit kannst du dein
Nervensystem mit dem Äthernetz verbinden und im Cyberspace leben.”
“Hast du ’s schon probiert?”
Er nickte. “Die Elektrodenstöpsel im Anzug einfach befeuchten und fest
auf die Haut drücken. Alles andere läuft von selbst. Ich komm nachher
noch mal schauen, ob du ’s überlebt hast. Viel Spaß.” Er grinste und
verschwand.
Ich untersuchte den Anzug und fand Elektrodenstöpsel für Kopf,
Brustkorb, Fingerspitzen und Fußsohlen. Einen Augenblick überlegte ich,
ob die Vernetzung gefährlich sein könnte, dann wurde mir bewusst, dass
ich eigentlich schon vor Jahrzehnten begonnen hatte, Teile meines
Innenlebens auf die Festplatte meines Computer auszulagern, und zwar mit
jedem Satz, den ich eintippte. Sobald der Computer streikte, war es mir
immer, als sei ein Teil meiner selbst lahmgelegt, und zwar ausgerechnet
der, in dem die kostbarsten und intimsten Daten gespeichert waren:
Erinnerungen, Empfindungen, Pläne, Wünsche, Vorstellungen,
unwiederbringliche Aufzeichnungen meiner Streifzüge in die entlegensten
Winkel menschlicher Fantasie.
Ich zauderte daher nicht lange, zog den Anzug an und klickte auf Start.
“Willkommen in Êhta-Mathê, der Welt des Äthers”, las ich auf dem
Bildschirm, und ein Männchen im Cyberanzug winkte und begrüßte mich:
“Hallo, altes Haus! Bevor ‘s richtig losgeht, müssen wir noch ‘ne kleine
Formalität hinter uns bringen. Würdest du das bitte mal lesen und
ausfüllen.” Damit breitete er folgendes Schriftstück auf dem Bildschirm
aus:
EINVERSTÄNDNISERKLÄRUNG
Ich, (Vor- und Zuname), geboren am (Datum), bin damit einverstanden,
dass mein Nervensystem für dieses Spiel mit dem Äthernetz verknüpft
wird, damit ich den Cyberspace als Wirklichkeit erlebe. Diese Verbindung
wird wieder aufgehoben, sobald ich die acht Silben des Mathematischen
Trommelklangs “MATHEMATIKI TAMEHTAM” dreimal wiederholt habe. Ich gehe
die Verknüpfung freiwillig und auf eigene Gefahr ein, um ein Abenteuer
auf Leben und Tod zu erleben. Sollte ich dabei scheitern, haben meine
Hinterbliebenen keinerlei Anrecht auf Schadensersatz oder
Schmerzensgeld. Durch Eintragen meiner Daten und Klicken auf “weiter”
akzeptiere ich diese Bedingungen.
Klasse, dachte ich, so gefällt mir das! Man bekommt tatsächlich das
Gefühl, jetzt wird es ernst. Ich las den Text ein zweites Mal und prägte
mir die acht Silben mit Hilfe eine Eselsbrücke ein: mathematíki –
mathematischer; Tam-eh-Tam – Tamm-und-Tamm – Trommelklang. Zusätzlich
griff ich zum Kuli und schrieb mir die acht Silben in großen Buchstaben
auf ein Blatt, das ich neben den Computer legte: MATHEMATIKI TAMEHTAM.
Sicher ist sicher, dachte ich. Ich trug meine Daten ein und klickte auf
“weiter”.
Sofort griff das Männchen auf dem Bildschirm nach dem Blatt, faltete es
zusammen und steckte es in die Tasche. “So, du Hornochse, jetzt kann ’s
losgehen. Ich bin Kit und verwalte deinen Werkzeugkoffer. Wie soll ich
dich nennen? Drecksack? Saftsack? Knallfrosch? Kröte? In Êhta-Mathê
braucht jedes Wesen einen Namen und eine Form. Bitte wähle ein Symbol.”
Er deutete auf zehn verschiedene Formen, die auf dem Bildschirm
erschienen: Wanze, Schnecke, Knallfrosch, Kröte, Drecksack, Saftsack,
Lachsack, Hornochse, Rhinozeros und schließlich ein altes, halb
verwittertes Herrenhaus in einem verwilderten Park. Ich bezweifelte,
dass ich mich als Wanze oder Drecksack wohl fühlen könnte, und klickte
auf das Bild des alten Hauses, das sofort eine unwiderstehliche
Anziehungskraft auf mich ausübte. Ich begann das windschiefe Dach zu
lieben, die schräg hängenden Fensterläden, die herbstlichen Laubbäume,
die sich wie zum Schutz ums Haus drängten, und bemerkte staunend, wie
sich meine Umgebung zusehends verwandelte: Zwar saß ich weiterhin im
Cyberanzug auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch am Computer, aber die
übrige Einrichtung, Wände, Bilder und die Aussicht sagten mir, dass ich
mich jetzt im alten Haus befand.
Es klopfte an die Tür, ich rief “Herein!”, und das Männchen im
Cyberanzug trat ins Zimmer, genauso leibhaftig wie vorhin mein Neffe.
“So, altes Haus, das Wichtigste ist geschafft. Von nun an ist das alte
Haus dein Ätherleib, in dem du dich bewegen kannst. Jetzt musst du dich
nur noch entscheiden, gegen wen du antreten willst. Zur Zeit spuken in
hier verschiedene Bösewichte durch den Äther.”
Er trat an meinen Schreibtisch, öffnete eine Hängekartei und zog vier
Akten heraus. “Da wäre zum Ersten ein Dornbusch namens Dschordsch
Dabbeljuh, zum zweiten ein Lindwurm namens Biegel, drittens ein
Giftzwerg namens Farma, viertens ein Mutator namens Gentek Fud ...”
Zu jedem Namen zeigte er mir einen Steckbrief mit Fahndungsfoto, und ich
entschied mich spontan für den Lindwurm, einen dunkelgrünen Feuer
speienden Drachen, gegen den zu kämpfen mir besonders heldenhaft und
abenteuerlich erschien. Kit klopfte mir auf die Schulter. “Bravo, altes
Haus, in dir fließt echtes Abenteurerblut. Mit dem Wurm ist allerdings
nicht zu spaßen. Ich rate dir dringend, vorher eine Sicherheitskopie
deines Gedächtnisspeichers anzulegen. Dauert knapp zwanzig Minuten.
Möchtest du diese Kopie jetzt erstellen?”
So ein Schwachkopf, dachte ich. Sollte ich etwa zwanzig Minuten tatenlos
herumsitzen und warten, bis mein Computer wieder spielbereit war? “Das
nennst du Abenteuer?”, fuhr ich ihn an. “Seit einem halben Jahrhundert
lebe ich glücklich und zufrieden ohne Haftpflicht-, Unfall- und
Lebensversicherung. Willst du mich jetzt zum Spießbürger trimmen,
ausgerechnet du?”
“Schon gut, schon gut.” Kit wehrte stirnrunzelnd ab. “Aber denk dran,
altes Haus: Ich habe dich gewarnt. Ich ziehe mich jetzt zurück und
überlasse dich deinem selbst gewählten Schicksal. Solltest du irgendwann
in Not geraten, kannst du nach mir rufen, sofern du dich an meinen
Namen erinnerst: Kit, das Werkzeugkoffer-Männchen. Und vergiss nicht:
Nur durch den Trommelklang findest du zurück in deine Welt. Ein letzter
Tipp: Oben auf dem Speicher liegt ein Werkzeugkoffer für dich. Im
Äthernetz gibt es eine Datenbank für indogermanische Sprachen. Lad sie
dir in den Koffer, dann hast du notfalls eine Referenzdatei im Haus.
Viel Spaß.” Er zeigte mir das Koffersymbol auf dem Bildschirm, das ich
anklicken sollte, grinste mit dem gleichen Ausdruck wie vorhin mein
Neffe und verschwand.
Nun saß ich allein vor dem Computer und schaute aus dem Fenster auf den
Park. Fern am Himmel bemerkte ich einen winzigen Punkt, der langsam
größer wurde. Von Aufregung und Abenteuer keine Spur. Ich klickte auf
das Koffersymbol zur Datenübertragung und verfolgte die Namen der
heruntergeladenen Sprachfamilien: Babysprache, Altindisch, Iranisch,
Griechisch, Slawisch, Romanisch, Keltisch, Germanisch ...
Plötzlich piepste der Computer. Auf dem Bildschirm erschien ein Fenster
mit der Meldung: “Virus BEAGLE W32 im Ordner ‚Sprachen‘ gefunden.
Starten Sie bitte unverzüglich Ihr AVG-Antivirusprogramm.”
Mist, dachte ich, ausgerechnet jetzt, klickte aber sofort auf AVG. Ein
Fenster nach dem anderen öffnete sich, immer mit der gleichen Warnung,
bis der gesamte Bildschirm mit übereinander geschobenen Fensterrahmen
bedeckt war. Anscheinend ließ sich der Virus nicht so leicht beseitigen.
Auch draußen vor dem Fenster tat sich was: Der schwarze Punkt am Himmel
entpuppte sich als der von mir bestellte Lindwurm, der jetzt mit seinem
Feuer speienden Atem die herbstlichen Bäume in Brand setzte. Ein Sturm
erhob sich, riss die angelehnten Fensterflügel auf und wehte das Blatt
mit dem achtsilbigen Trommelklang vom Tisch.
Ich sprang hoch und wollte es greifen, aber der Sturm fegte es aus dem Fenster in Richtung der brennenden Bäume.
Jetzt wurde es brenzlig. Ich lief zurück zum Computer, der immer neue
Warntöne von sich gab: “Virus BEAGLE W32 im Ord ...” Die Schrift stockte
und ich spürte, wie sich neben dem Gefühl der Panik eine völlig
ungewohnte Leere und Stille in meinem Gehirn ausbreitete.
“Kit”, rief ich. “Kit!”
Die Tür ging auf und Kit kam rein. “Was kann ich für dich tun, altes
Haus? Irgendwas nicht in Ordnung?” Er sah aus dem Fenster auf die
brennenden Bäume, dann auf den Bildschirm des Computers und schlug sich
mit beiden Händen an den Helm. “Ach du lieber Himmel! Da hilft nur eins.
Lauf schleunigst zum Speicher hoch und rette deinen Koffer mit der
Sprachreferenz. Du hast sie doch runtergeladen, oder? Dort hinten ist
die Wendeltreppe. Wie viele Silben weißt du noch? Sag mir schnell,
welche Silben des Trommelklangs du noch im Gedächtnis hast.”
Ich versuchte mich zu erinnern: “...matiki Tam...”
Kit nickte. “Gut, das reicht. Beeil dich! Bevor der Dachstuhl in Flammen
aufgeht und deine Daten gelöscht werden, musst du den Speicherschlüssel
finden und deinen Koffer retten.”
“Wo finde ich den Schlüssel?”
“In den Silben des Trommelklangs. Sobald du das Passwort aussprichst, öffnet sich die Speichertür.”
“Und wie heißt das Wort?”
“Das kann ich dir nicht sagen. Mach schnell!”
Ich stürzte in die Richtung, die Kit mir gewiesen hatte, fand die
Wendeltreppe und eilte die Stufen empor, die kein Ende nehmen wollten.
Eine Umdrehung nach der anderen, so hoch konnte das Haus doch gar nicht
sein! Über mir hörte ich Gepolter, als rollten Steine und brächen
Dielen. Endlich stand ich auf dem obersten Podest vor einer wuchtigen
Tür. Der Krach verriet mir, dass dahinter etwas wütete: der Sturm, das
Feuer, der Lindwurm? Alle drei waren keine besondere Ermutigung für
mich, die Tür zu öffnen. Dennoch musste ich versuchen, den Koffer zu
retten. Ich spürte bereits, wie mir der Trommelklang Buchstabe für
Buchstabe entglitt. Was war mir geblieben? “...atiki...” Wie fand ich
das Passwort? Plötzlich ein Geistesblitz: “attic key” – der
“Speicherschlüssel” auf Englisch! Das musste es sein! Ich rief “atik-ki”
und die Tür sprang auf.
Vorsichtig lugte ich durch den Spalt, sah aber weder Lindwurm noch
Feuer. Nur der Sturm heulte durch die zerbrochenen Dachluken. Ich betrat
den Boden und suchte nach dem Koffer. Hinter dem Kaminschacht leckten
bereits rot-gelbe Zungen nach mir. Der Dachstuhl stand in Flammen,
Balken krachten, beißender Rauch legte sich auf meine Lungen. Wo war der
Koffer? Wo war K...? Wie hieß noch mein Helfer? Was suchte ich
eigentlich? Warum war ich hier? Wer war ich überhaupt?
“Tickticktickticktick ...”
Aus einer Ecke ertönte ein Ticken, das Feuer flackerte auf, neben einem
staubbedeckten Spinnrad sah ich den Werkzeugkoffer liegen. Richtig, den
suchte ich! Ich kletterte über Kisten, Truhen und Kommoden, ergriff den
Koffer und eilte zurück zur Treppe.
“Ticktick ... ticktick ... tick ...”
Hitze und dicker Qualm schlugen mir jetzt auch vom Treppenhaus entgegen,
das Podest hing schräg in der Luft. Ich suchte nach Halt, nach dem
Namen meines Helfers. “Ticktick ... tick ... ick ... ick ...”
Plötzlich ein tosendes Prasseln auf dem Dach: ein Wolkenbruch. Das war
die Rettung! Die Schleusen des Himmels als Feuerlöscher! Lieber Gott,
wünschte ich mir, lass eine Sintflut regnen.
“Ick ... ick ... kkk ...”
In diesem Augenblick brachen die Balken unter dem Podest, ich schwankte,
der Werkzeugkoffer sprang auf, ein dreigezacktes Werkzeug fiel heraus,
ich versuchte, es zu fangen, verlor das Gleichgewicht und fiel ...
Ж
Als ich die Augen öffnete, lag ich am Boden einer anderen Welt. Alles um
mich her war dunkelgrün. Die Luft war kühl und fühlte sich flüssig an.
Ich schaute mich um und erblickte einen Schatten neben mir, der aussah
wie ein Anker. War das nicht das dreigezackte Werkzeug aus dem Koffer?
Es ruckelte hin und her, als hinge es an einer Ankerkette. Wieder spürte
ich die Leere im Gehirn. Völlige Sprachlosigkeit. Hatte der Schreck mir
die Sprache verschlagen? Musste ich mit Kaltstart neu beginnen?
Irgendwie kam mir der Anker vertraut vor. Plötzlich glaubte ich, ein “K”
darin zu sehen. Oder besser ein Spiegel-K, ein “K” in beide Richtungen.
Und in der Mitte ein Strich, ein großes “I”. “KI?” dachte ich und
glaubte, das französische “qui” zu hören.
“Qui Ik? Wer – Ich?”
Das waren die ersten Worte, die ich wiederfand. Neben dem Anker wuchsen zwei Stangen aus dem Boden.
l Ж l
“IK KI”, las ich. War das wieder eine Frage: “Ik qui?” Oder eine
Feststellung: “Ik – key.” War es ein Kauderwelsch aus Englisch,
Niederländisch und Französisch: “Ik, qui Ik-key.” Purzelten in meinem
Hirn schon alle Sprachen durcheinander? Wie war das Wort für
Werkzeugkoffer? “Tick it: Ti kit.”
T l Ж l T
Zu meiner großen Erleichterung bemerkte ich, wie neue Zeichen aus dem
Boden wuchsen, sobald ich neue Wörter fand. Kit! So hieß doch mein
Helfer, das Koffermännchen!
“Kit!” rief ich.
Nichts rührte sich.
“Kit!”
Von oben kam ein Schatten näher, ein Mann im Taucheranzug, der mit
schwimmenden Bewegungen zu mir herunter tauchte. Was war geschehen? Lag
ich wirklich unter Wasser?
Es war Kit. Ich sah sein Gesicht durch den Taucherhelm und hörte seine Stimme: “Tick it!”, rief er. “Ti cit!”
Ich schaute ihn fragend an, er deutete auf das Wasser: “Cit –
Bewusstsein.” Dann zeigte er neben den Buchstaben auf den Meeresgrund.
“Tick it!”, rief er. “Ti Ick-Kit!”
“Ick-Kit”, plapperte ich nach wie ein Baby, das die ersten Wörter lernt.
Da tauchte vor meinen Augen aus dem Meeresgrund der Werkzeugkoffer auf.
Meine Worte schienen die Form zu erzeugen. Stück für Stück fand ich
neue Wörter und die dazugehörigen Bilder.
“Tick it!” rief Kit. “Attic-Città!” Neue Zeichen erstanden aus dem
Boden, dahinter Türme, Kuppelbauten, Tore, eine dunkelgrüne
Unterwasserstadt.
A T I Ж I T A
Kit nahm mich an die Hand und führte mich durchs Wasser zu dem
Ortsschild: “Attic-Città – die Speicherstadt”. Was war geschehen? fragte
ich mich. Wo war das alte Haus, der Lindwurm, wieso war ich auf dem
Meeresgrund? Aber ich fand keine Worte, um Kit fragen zu können.
“Mati”, sagte er und deutete auf seine Stirn, “der Intellekt, der Unterscheider zwischen ma und ti.”
“Mati”, plapperte ich nach, “ma – ti.” Vor meinen Augen sah ich neue Zeichen.
M A T I Ж I T A M
Kit führte mich in eine Schenke, wo mir ein von Pflanzen umwucherter
Wassergeist einen Humpen reichte: “Meht!” sagte Kit und bedeutete mir zu
trinken. Ein seltsames Gefühl, unter Wasser Met zu trinken, aber die
Wirkung ließ mich alles andere vergessen: mir dämmerte ein
Trommelrhythmus, eine Melodie, ein Metrum, und die Buchstabenschlange
vor meinen Augen wurde immer länger:
T H E M A T I Ж I T A M E H T
“Themmat ti, qui tameht?”, fragte mich Kit. Das waren schon sechs
Silben. – “Dämmert dir, wer sich verdichtet?” Silbe für Silbe dämmerte
mir der Trommelklang, und meine Muttersprache kehrte langsam in mein
Gedächtnis zurück. “Wieso sind wir am Meeresgrund?”
“Das Antivirusprogramm wollte das Feuer durch einen Wolkenbruch
löschen”, erklärte Kit, “aber irgendwas ist schief gelaufen. Plötzlich
brach eine Sintflut vom Himmel und überflutete das ganze Tal. Die Stadt
stand in der Nähe deines alten Hauses, das der Brand zerstört hat. Jetzt
brauchst du einen neuen Körper. Deswegen gab dir unser Wirt den Met zu
trinken, der sich im Äther zu einem Metrum und zu einem neuen Ätherleib
verdichten kann. Welchen Körper möchtest du annehmen? Wanze, Schnecke,
Knallfrosch, Kröte ...?”
Ich schaute ihn entgeistert an.
“... Drecksack, Saftsack, Lachsack, Hornochse, Rhinozeros?”
Ich verstand: Nur die Formen, die ich anfangs auf dem Bildschirm gesehen
hatte, standen mir in Êhta-Mathê zur Verfügung. War ich nicht
eigentlich ein Mensch? Konnte ich nicht einfach in die Erdenwelt
zurückzukehren und in meine eigne Haut schlüpfen? War ich etwa tot, weil
mein Haus abgebrannt war? Auf jeden Fall brauchte ich zur Rückkehr in
die Menschenwelt alle acht Silben des Trommelklangs. Wie war meine
Eselsbrücke? Trommelklang – Tamm-und-Tamm – Tam-eh-Tam ... Ja, das war
‘s. Und mathematisch? Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz: der
mathematische Trommelklang schloss sich zu einem Kreis, zu einer
unendlichen Schleife mit dem Anker ganz rechts, dem Spiegel-K, das mir
auf dem Meeresgrund als einzige Referenz geblieben war. Und obwohl die
Buchstabenschlange nur aus einem Wort ohne Anfang und Ende bestand,
erschien es mir, als enthalte sie ganz viele Wörter.
Ich wiederholte die acht Silben immer wieder: MATHEMATIЖITAMEHTAM MATHEMATIЖITAMEHTAM ...
“Mach dich heim zum Ich!” rief Kit mir zu: “Ma the hêm at Ik!”
Als ich mich umsah, saß ich wieder in meinem Zimmer am Computer, und
durch meinen Kopf schwirrten seltsame Sätze: “Ta mathematíki Támehtam
âthemat îki. Der mathematische Trommelklang atmet in mir. Mâ themmat Ik.
Mir dämmert das Ich. Mathemà ti Ik! Erkenne dein Ich! Tick it: ti Ik!”
Auf dem Bildschirm hatten sich viele Fenster übereinander gestaffelt mit
der Meldung: “Virus BEAGLE W32 im Ordner Sprachen gefunden. Um den
Virus zu beseitigen, starten Sie bitte umgehend Ihr Antivirusprogramm.”
Hatte ich jetzt einen Dachschaden? “Tick-tick-tick ...”, hämmerte es in
meinem Kopf, und ich hörte: “... hemmat tick-tick-tick. Ma the hêm at
ick-ick-ick. Ki Ick? Kkk ... Ж ...
Ich war sprachlos. Nach Worten suchend starrte ich auf den Bildschirm
meines Computers, da klopfte es an der Tür. Mein Neffe Matthias kam in
seiner Motorradkluft herein. “Hallo, altes Haus! Lebst du noch? Ich hab
hier was Feines für dich.”
Glossar
at – lat.-engl. zum
âthemat – atmet
attic – engl. Speicher
attic-key – engl. Speicherschlüssel
Attic-Città – engl-ital. Speicherstadt
cit [tschit] – sanskr. Bewusstsein
città [tschi'ta] – ital. Stadt
êhta – Äther
Êhta-Mathê – mat. Äther-Materie, die Ätherwelt
hêm – heim
hemmat – hämmert
ick – ndl.-mat. das Ego, das kleine, selbstsüchtige Ich
Îk – ndl.-mat. ich, das Ich, das große Selbst
îki – im Ich, im Selbst, in mir (lokativ)
Ik-key – ndl.-engl. Schlüssel zum Ich
Ik-kit – ndl.-engl. der Werkzeugkoffer des Ich
it – engl. es
Kit – engl. Name des Werkzeugkoffermännchen
kit – engl. Werkzeugkoffer
ma! – babysp. mach!
ma – frz. mein
mâ – mir
mathê – Materie
máthema – gr. Erkenntnis, Wissen, Erfahrung, Unterricht
mathemá! – erkenne!
mathematíki – gr. mathematischer
máti – skr. das Gedachte, der Intellekt
meht – Met
mehta – Meter, Metrum
qui – franz. wer; derjenige, welcher
ta – mat. der, die, das
tameht – skr.-mat. verdichtet sich, verfestigt sich
támehtam – lautmal. Trommelklang, Tammtamm
the – frz. te dich
themmat – dämmert
ti – dein, dir
tick – Tick, Spleen, Einbildung, Vorstellung
tick! – ticke, hake ab, begreife, stell dir vor!
Erstveröffentlichung im Oktober 2004 auf schreib-lust.de Ausgezeichnet im monatlichen Geschichtenwettbewerb als "Beste Idee"
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Jan |
20.09.11, 18:41 |
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0033: Verrat
Verrat Nacht in Jerusalem. Im Palast der
Hohenpriesters Kaiphas flackert helles Licht. Bis vors Hoftor drängt
sich die gaffende Menge und lauscht den Gesprächsfetzen, die aus der
Halle dringen: “Ich kann bezeugen, dass er gesagt hat: ‚Brecht diesen
Tempel ab, und in drei Tagen will Ich ihn wieder aufbauen!‘”
Vor dem verschlossenen Hoftor steht ein älterer Mann im weißen Leinengewand mit
schütterem Haar und verfolgt das Geschehen. Aus dem Palast tritt ein
junger, hochgewachsener Mann im weißen Gewand und schaut sich suchend im
Hof um, wo Söldner und Wachen um ein Feuer stehen und sich wärmen. Der
Ältere am Tor winkt ihm, ruft leise: “Johannes!” Der junge Mann geht
ans Tor, verhandelt mit der Pförtnerin. Sie fragt den Älteren: "Gehörst
du nicht auch zu den Leuten aus Galilea, die dem Nazarener gefolgt
sind?"
Der Mann zuckt zusammen. “Gott bewahre, was redest du? Ich kenne ihn nicht.”
Die Pförtnerin lässt ihn ein. Er folgt Johannes in den Palast, kommt
aber gleich darauf wieder heraus und mischt sich im Schatten des Hofes
unter die Knechte. Dort steht eine zweite Gestalt im weißen Gewand,
tippt ihm auf die Schulter und flüstert: “Wie sieht ‘s aus, Simon? Hat
er es ihnen gezeigt?”
Simon gibt keine Antwort. Für ihn ist der andere Luft. Der jedoch gibt
keine Ruhe. “Du warst doch eben in der Halle. Ist er noch immer
gefesselt?”
“Lass mich in Ruhe! Wir kennen uns nicht.”
“Aber Simon. Wir müssen zusammenhalten. Jetzt mehr denn je.”
“Das sagst ausgerechnet du!”
“Scht! Seid doch still!” Ein Knecht zischt die beiden an. “Man versteht kein Wort von der Verhandlung.”
Simon rückt von dem anderen ab und stellt sich zu den Wachsoldaten ans
Feuer. Einer fragt ihn: "Bist du nicht auch einer von seinen Jüngern aus
Galiläa? Man hört ‘s an deiner Sprache.”
Simon hebt ängstlich die Hände: “Ich schwöre euch, Leute, ich kenne den Menschen nicht!” In der Ferne kräht ein Hahn.
Die Gestalt neben ihm schüttelt den Kopf und zieht Simon aus der Menge
in eine Ecke, wo sie ungestört reden können. “Wie kannst du ihn nur
verleugnen, Simon? Er ist unser Meister!”
“Gerade du musst das sagen! Wer hat ihn denn ausgeliefert?”
“Aber das war doch von ihm so gewollt. Erinnerst du dich? In Bethanien,
als ihn Maria mit dem kostbaren Salböl einrieb, sagte er: Die Stunde ist
gekommen, jetzt soll der Menschensohn verherrlicht werden. Dann nickte
er mir zu und sprach: ‚Was du tust, tue es bald.‘”
“Das war anders gemeint. Du solltest als Kassenwart den Einkauf fürs Passahfest regeln.”
“Das glaubst du. Ich hatte ihn anders verstanden. ‚Einer von euch wird
mich ausliefern‘, hatte er gesagt. Und als Bartholomäus fragte: ‚Bin ich
es?‘ sagte er: ‚Dem ich den Bissen reichen werde, der ist es.‘ Dann
tauchte er den Bissen ein und reichte ihn mir, und ich fragte: ‚Rabbi,
bin ich es?‘ Und er sagte: ‚Du hast es gesagt.‘ Zuerst bin ich
erschrocken, aber ich weiß, er wird ein Wunder tun, um sich aus ihren
Händen zu befreien.”
“Zur Zeit sieht es anders aus. Sie wollen ihn kreuzigen.”
“Das schaffen sie nie! Als sie ihn in Kapernaum zur Bergspitze führten
und herunterstoßen wollten, blieb er unantastbar. Keiner konnte ihm je
etwas anhaben. Er ist einfach unbesiegbar. Die Kraft des Vaters schützt
ihn gegen alle Sünder. Auch jetzt wird er ihnen entkommen und allen
seine Größe zeigen und das Reich errichten, von dem er gesprochen hat.”
“Das redest du dir jetzt ein, um dein Gewissen rein zu waschen. Ich bin
sicher, sie schlagen ihn ans Kreuz. Bei Lazarus in Bethanien sagte er:
‚Maria hat die letzte Ölung für mein Begräbnis vorweggenommen. Ich werde
nicht mehr lange bei euch sein.‘”
“Aber warum hat er sich dann freiwillig gestellt? Als ich mit den
Soldaten über den Kidron zum Garten Gethsemane kam, lief er dem Trupp
entgegen und fragte: ‚Wen sucht ihr?‘ Sie sagten: ‚Jesus von Nazareth.‘
‚Das bin ich!‘, sagte er. Und alle Bewaffneten wichen ehrfürchtig zurück
und fielen zu Boden. Dreimal fragte er, wen sie suchen, und dreimal
sagte er: ‚Ich bin es, den ihr sucht.‘ Er hat es darauf angelegt,
ausgeliefert zu werden, um seine wahre Größe zu beweisen.”
“Warum hast du ihm dann die Wange geküsst? Damit sie sicher waren, dass er ‘s war!”
“Aber mich hat er nicht getadelt, Simon, sondern dich: Weil du dem
Knecht mit dem Schwert das Ohr abschlugst. Und jetzt verleugnest du ihn
schon zum zweitenmal und verrätst seine Lehre.”
“Ich ihn verraten? Das ist die Höhe! Du bist der Verräter, Judas! Und
als solcher wirst du in die Geschichte eingehen. Das prophezeie ich
dir.”
Simon rückt von Judas ab und drängt zum Hoftor. Ein Knecht sieht ihn und
ruft. “Wahrhaftig, dich habe ich doch im Garten Gethsemane bei ihm
gesehen! Du warst es, der meinem Neffen das Ohr abschlug."
Simon hebt die Hände und schwört: “Nein, nein, ich kenne den Menschen
nicht!” Draußen kräht zum zweitenmal der Hahn. Simon drängt sich aus dem
Hof ins Freie, setzt sich unter einen Olivenbaum und weint.
Inzwischen tritt Johannes wieder aus dem Verhandlungsraum, sieht Judas
im Hof am Feuer stehen und tritt leise zu ihm. “Sie werden ihn
kreuzigen.”
Judas erschrickt. “Du meinst, er lässt es wirklich mit sich geschehen?
Das ist Verrat! Wie kann er mir so was antun? Am Ende gelte ich noch
als der Sündenbock!”
“Ja.” Johannes senkt den Kopf. “Ich kann dich verstehen, Judas. Ich weiß, warum du es getan hast.”
Judas ergreift seinen Arm. “Du verstehst mich, Johannes? Ich danke dir.”
“Für dreißig Silberlinge, Judas! War es das wert?”
“Oh Gott!” Judas hält sich die Handballen vor die Augen. “Selbst du
begreifst mich nicht! Was schert mich das Geld? Es geht mir um den Sieg.
Um die Verherrlichung des Meisters.”
“Zu spät, Judas. Sie werden ihn kreuzigen.”
“Bin ich denn der Einzige, der an ihn glaubt? Wie oft schon wollten sie
ihn binden, steinigen, von Mauern stürzen, immer blieb er unversehrt,
geschützt von der Kraft dessen, der ihn gesandt hat. Denke an Lazarus,
der schon vier Tage tot war: ‚Lazarus, komm heraus!‘, rief er, und in
Leichentücher gewickelt kam Lazarus aus der Grabkammer. Wer solches
vollbringt, wie kann er es zulassen, ans Kreuz genagelt zu werden?”
“Diesmal ist es anderes, Judas. Erinnerst du dich, als du im Haus des
Lazarus beim Abendmahl gefragt hast, warum das Passahlamm nicht
geschlachtet wird, das du gekauft hast? Er sagte: ‚Wenn ich aufs Kreuz
gehoben werde, dann wird das Lamm geschlachtet sein.‘”
“Aber er sagte auch: ich werde den Tempel niederreißen und nach drei
Tagen wieder errichten. Selbst wenn sie ihn kreuzigen, bin ich mir
sicher: Nach drei Tagen wird er wieder auferstehen. Genauso, wie er
Lazarus wieder zum Leben erweckte. Dann weißt du, warum ich ihm die
Wange küsste: Um aller Welt seine wahre Größe zu zeigen.”
“Erinnere dich, Judas. ‚Wehe dem, der das Lamm den Schlächtern in die
Hände liefert‘, sagte er. ‚Es wäre besser für ihn, er wäre nie geboren.‘
Damit meinte er dich.”
Judas schaut still zu Boden. Schließlich blickt er Johannes offen ins
Gesicht. “Sagte er nicht auch: ‚Wer bereit ist, sein Leben vorbehaltlos
für Gott einzusetzen, wird es für alle Ewigkeit erhalten. Wer mir dienen
will, der soll mir auf diesem Weg folgen. Denn wo ich bin, soll auch er
sein.”
“Ja, das sagte er.”
“Dann weiß ich, was ich tun muss. Gott segne dich, Johannes, ich muss fort.”
“Wohin gehst du?”
Johannes bekommt keine Antwort.
Eine Woche später, in der Herberge am Ölberg, trifft er Simon-Petrus,
der ihn fragt: “Weißt du schon, was mit Judas Ischariot geschehen ist?
Er brachte den Hohepriestern die dreißig Silberschekel zurück und sagte:
‚Ich habe mich versündigt, dass ich unschuldiges Blut verraten habe.‘
‚Das ist deine Sache‘, sagten sie, ‚was geht uns das an?‘ Da warf er die
Silberschekel in die Almosenkasse vom Tempel und stürzte hinaus.”
“Ich sah ihn in Golgatha. Er wollte die Absperrung um die Richtstätte
durchbrechen, aber die Wachen wiesen ihn zurück. Mit stieren Augen sah
er der Kreuzigung zu. Als er die Hammerschläge der Kreuzigung hörte,
schrie er laut auf und rannte davon.”
“Er hat sich auf dem Weg ins Tal mit seinem Gürtel an einem Feigenbaum
erhängt. Gestern fanden sie seinen von Hyänen angeknabberten Leichnam
und haben ihn verscharrt.”
Johannes senkt den Kopf. “Ich weiß, warum er das getan hat. Beim Palast
des Kaiphas zitierte er den Meister: ‚Wer mir dienen will, der soll mir
auf diesem Weg folgen. Denn wo ich bin, soll auch er sein.‘ Ob er sich
da nicht verrechnet hat?”
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
20.09.11, 18:34 |
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1993: Wie ich verdoppelt wurde
Wie ich verdoppelt wurde
“Aus Brüssel sind Sie?” Der Portier des
Wolkenkratzers gab mir den Zimmerschlüssel für mein Apartment. “Was
machen Sie in New York?”
“Ich halte ein Referat. Auf der Tagung für Spitzenköche.”
“Worüber?”
“Über den Nutzen des ayurvedischen Würzens in der französischen Küche.”
“Oho! Dann kennen Sie bestimmt das Twins?”
“Was ist das?”
“Ein Nobelrestaurant. Ein ganz besonderes. Dort können Sie sich duplizieren lassen.”
“Wie bitte!?”
“Sie bekommen eine lebende Dublette. Letztes Jahr war ich mit meinem
Double Windsurfen in Florida. Sagenhaft! Natürlich, so ein Double nervt
auch manchmal. Es zeigt einem hautnah, welche Nervensäge man ist. Auf
der anderen Seite: dieses tröstliche Gefühl, jemanden zu haben, der
einen ganz und gar versteht. Ohne Worte. Blick genügt ... Einfach
fantastisch.”
“Sie sollten Geschichten schreiben.”
“Wieso?”
“Weil Sie mir so was auftischen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber bitte, reden Sie weiter. Wo ist Ihr Double jetzt?”
“Recycled. Ich hatte es nur für ‘ne Woche. Mehr konnte ich mir nicht leisten – als Student. Portier bin ich nur nebenher.”
“Double für eine Woche?” Ich musste schmunzeln. “Sie haben Talent.”
“Sie glauben wohl, ich sauge mir das alles aus den Fingern? Wetten, dass
Sie anders denken, sobald Sie Ihrem Double gegenüberstehen?”
“Ich sage Ihnen Eines: Machen Sie mit so was keine Scherze. Heute wird
genug geklont, gepfuscht, an Genen rumgeschnippelt. Jedes Wesen hat doch
sein eigenes Schicksal, seine Seele, seine ganz persönlichen Aufgaben
und Wünsche.”
“Genau so hab ich auch gedacht. Bis ich selber ...” Er stockte, sah mir
ins Gesicht und schaute dann neben mich, als stünde dort noch jemand.
“Stellen Sie sich vor, Sie stehen doppelt da. So was können Sie im Twins
erleben. Heute Abend um acht. Okay? Bitte kommen Sie mit. Ich wette
eine große Flasche Bourbon, es wird der tollste Abend Ihres Lebens.” Er
schob meinen Koffer in den Aufzug, drückte Stockwerk 54 und reichte mir
die Hand. “Ich heiße Arthur.”
“Angenehm. Hendrik mein Name.” Ich schlug ein. “Ich lass mich überraschen.”
Nach dem Duschen lag ich auf der Couch, um den Jetlag auszuschlafen, da
klingelte das Telefon. “Hendrik, hier ist Arthur, der Portier. Hätten
Sie was dagegen, wenn noch zwei Gäste mitkämen? Linda und Robert Brown.
Sind gerade aus Neuseeland eingeflogen.”
“Meinetwegen.”
Das Paar aus Neuseeland gefiel mir auf Anhieb: Robert, ein kleiner,
drahtiger Anwalt mit graumeliertem Schnauzer, Linda, seine üppige junge
Frau mit wallendem, kastanienbraunem Haar. Und das Ambiente des Twins
erinnerte tatsächlich an ein Nobelrestaurant. “Austern und
Weinbergschnecken sind hier der Hit”, meinte Arthur, als uns der Ober
die Karte brachte. “Bis das Zeug fertig ist, können wir nebenan
zuschauen.”
Gespannt schlug ich die Karte auf. Aber noch vor Salaten und Vorspeisen blieb mein Blick an folgender Preisliste hängen.
Ihr lebendes Duplikat
5 Minuten 1000 Dollar
30 Minuten 2000 Dollar
1 Stunde 3000 Dollar
1 Tag 5000 Dollar
1 Woche 10000 Dollar
1 Monat 20000 Dollar
Auf Lebenszeit 1 Million Dollar
Kinder unter 12 die Hälfte
Drittkopie 30 Prozent Rabatt
Linda und Robert starrten genauso wie ich. “Wie ist das zu verstehen?”, fragte Linda.
“Die Technik ist neu”, erklärte Arthur. “Der Rohstoff ist wahnsinnig
teuer und zerfällt sehr schnell. Wir gehen gleich mal nach drüben und
schauen zu.”
Nachdem wir bestellt hatten, führte uns Arthur in einen Warteraum, in
dem Kunden saßen und gebannt nach vorne schauten. In einer Art
Telefonzelle saß eine zittrige, weiß gepuderte Dame, zog ihre Ringe ab
und legte sie in ein Schälchen. Die Nebenzelle war leer. Der Bereich vor
den beiden Zellen war durch eine Trennwand aus getöntem Glas in zwei
Hälften unterteilt. Videokameras filmten das Geschehen. Eine Kamera
schwenkte zu uns. Ich sah mein Gesicht auf dem Bildschirm.
Eine Assistentin nahm der Dame die Schale ab. “Sonst noch Metall am Körper, Mrs. Watson? Halskette, Uhr, Schlüssel, Münzen?”
“Mein Oberschenkelbruch wurde genagelt.”
“Das ist in Ordnung. Nur was Sie ablegen können.”
“Und mir kann wirklich nichts passieren?”
“Keine Bange, Mrs. Watson. Sie müssen nur stillsitzen, während der
3D-Scanner läuft. Würden Sie bitte Ihr Kinn hier auflegen.” Die
Assistentin klappte eine Kinnstütze nach vorn und stellte sie ein, bis
die Kundin aufrecht saß. “Solange das rote Lämpchen blinkt, bitte nicht
bewegen.”
Sie schloss die Kabine von außen, bat uns, an der Wand Platz zu nehmen,
und griff zu einer Armatur, die an einem dicken Kabel von der Decke
hing. In den Zellen ging das Licht aus. Nur das rote Lämpchen blinkte.
Alle starrten auf die beiden Zellen. Anfangs dachte ich, es geschähe
überhaupt nichts. Bis ich merkte, dass in Zelle zwei unmerklich die
Beleuchtung zunahm und das Ebenbild der Dame immer deutlicher sichtbar
wurde. Das rote Licht erlosch, die Assistentin öffnete die Zellen, schob
die Kinnstütze zur Seite und reichte das Schälchen zurück. “Das war ’s
schon, Mrs. Watson. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie bitte heraus.”
Während die Kundin ihren Schmuck anlegte, bewegte sich ihr Double wie
ihr Spiegelbild. Es griff in ein unsichtbares Schälchen und legte sich
nicht vorhandenen Schmuck an. Dann standen beide auf, traten vor die
Zelle und betrachteten sich durch die Scheibe.
“Der Augenblick der Selbstbegegnung ist für viele ein Schock”, flüsterte
Arthur. “Ihr Spiegelbild hinter der Scheibe dagegen sind Sie gewohnt.
Erst wenn Sie gefasst genug sind, schreiten Sie um die Trennwand und
reichen Ihrem Double die Hand. So war ’s jedenfalls bei mir.”
“Und wie fühlt man sich dabei?”
“Als träte Ihr Spiegelbild leibhaftig aus der Scheibe.”
Die beiden Damen standen sich wie angewurzelt gegenüber. Eine Ewigkeit
verging. Dann gaben sie sich einen Ruck und schritten zitternd zum Ende
der Trennwand. Dort blieben sie nochmals stehen, zögerten, machten einen
Schritt nach vorn und lagen sich in den Armen. Die Assistentin gab dem
Original, das den Schmuck trug, ein Kärtchen. “Achten Sie bitte auf den
Rückgabetermin, Mrs. Watson. Kommen Sie lieber etwas früher als zu spät.
Nach dem Verfallsdatum übernehmen wir keine Garantie. Das Video vom
Augenblick Ihrer Selbstbegegnung erhalten Sie an der Kasse. Ich wünsche
Ihnen eine wunderschöne Zeit zu zweit. – Mr. Barley, bitte in Kabine
eins.”
Der Ober kam auf uns zu und meldete, das Menu sei angerichtet.
“Wie funktioniert das?” Robert pulte seine Weinbergschnecken aus dem Gehäuse.
“Ich bin kein Ingenieur”, erwiderte Arthur. “Ich weiß nur: Das Gefühl ist sagenhaft.”
“Ich dachte”, warf ich ein und stocherte in meiner Vorspeise, “ein Klon wächst langsam wie ein Embryo.”
“Das Duplizieren hat nichts mit Klonen zu tun. Es beruht auf
Sensormodulationen. Das dauert nicht länger als eine
Kernspin-Tomografie.” Arthur fischte sich vom Nebentisch ein Faltblatt
und las. “Durch reflexive Photosynthese, atmosphärische
Überdruckkompression und projizierte Ätherfeldanregung wird die Kopie
sichtbar, greifbar und hörbar.” Er legte das Faltblatt beiseite und
machte sich über seine Salatplatte her. “Vor zwei Jahren fing der
Erfinder an, mit dieser Methode Freunde und Kollegen zu verdoppeln.
Dabei stellte er fest, dass es mit gebürtigen New Yorkern am leichtesten
ging. Vielleicht, weil Double und Original den gleichen Geburtsort
hatten.”
Linda löffelte ihre Schildkrötensuppe. “In Neuseeland haben wir noch nie davon gehört.”
“Der Erfinder will erst testen, ob es weltweit funktioniert. Sobald er
weiß, dass sich Menschen aller Kontinente problemlos duplizieren lassen,
beginnt die Serienproduktion für den internationalen Markt.”
Der Gedanke, dass so ein Apparat bald schon in Brüssel stehen sollte,
gefiel mir gar nicht. “Sofern sich Europäer darauf einlassen.”
“Sie sagen es. Genau das ist der Knackpunkt. Bisher wurden nur
Amerikaner verdoppelt. Wie wär ‘s? Wollen Sie der erste Europäer sein?”
“Nein danke. Was geschieht, wenn ich bei der Rückgabe in der falschen
Zelle lande? Lacht sich dann mein Duplikat ins Fäustchen? Lebt es
weiter? Übernimmt es meine Aufgaben im Leben? Oder sind wir beide –
ausgelöscht?”
“Europäer nehmen so was viel zu ernst. Wir Amerikaner sind da lockerer.”
“Sie sagten, Sie hatten letztes Jahr ein Double auf Zeit.” Ich legte die
Gabel beiseite. “Sind Sie sicher, dass Sie nicht Ihr eigener
Doppelgänger sind?”
Er überhörte meine Frage, denn der Ober brachte das bestellte Steak mit
gebackenen Kartoffeln. Arthur schlang es hinunter, als hätte er seit
Jahren nichts gegessen. “Und wie steht ’s mit Ihnen, Linda?”
“Reizen würde mich das schon. Aber die Preise!”
“Kein Problem. Ich kenne den Geschäftsführer. Da ich als Portier ständig
Ausländer kennen lerne, bat er mich um Hilfe. Sie wären ja nicht nur
Kunde, sondern gleichzeitig Versuchsperson. Ein Fünf-Minuten-Duplikat
reicht völlig aus, um festzustellen, ob Neuseeländer kopierbar sind. Mit
200 Dollar sind Sie dabei.”
“Fünf Minuten? Unsinn! Mindestens eine Stunde. Robert, was meinst du?”
Robert strich sich den Schnauzer. “Ich ähm ... ich glaube, ich würde das
nicht aushalten. Zwei Lindas – nichts gegen dich, meine Liebe – aber
wenn ich mir vorstelle, beide reden unaufhörlich auf mich ein. Ähm ...
Hättest du was gegen zwei Roberts mit zwei Brieftaschen?”
“O ja, zwei Roberts mit Brieftasche und zwei Lindas.”
Arthur grinste. “Und dann Partnertausch!”
“Ob sich das Double genauso anfühlt wie das Original?”, überlegte Linda. “Was würde das kosten, Arthur?”
“Ich frage mal den Geschäftsführer.” Arthur verließ den Raum.
“Hendrik”, Linda faltete die Hände. “Lassen Sie sich diese Chance nicht
entgehen. Ich sehe schon die Schlagzeilen: das doppelte Geburtstagskind
... mehr Urlaub durch Dublette ...Hochzeitsnacht zu dritt ... Robert,
wir sollten die Generalvertretung für Neuseeland übernehmen.”
“Abwarten.” Robert war einsilbig. “Mit uns geht ’s todsicher schief.”
“Wieso?”
“Neuseeländer sind Originale. Die lassen sich nicht kopieren.”
“Aber schau dich doch mal um! Die Duplikate sehen genauso aus wie die Originale.”
Linda wies auf die Tische ringsum. Überall saßen Kunden mit ihrem
Double, das ihnen ähnelte wie ein Ei dem anderen. Arthur kam in
Begleitung eines rundlichen Herrn mit Glatze und abstehenden Ohren
zurück. “Darf ich vorstellen. Mr. McDole.”
“Zwei Stundendubletten für 400 Dollar”, sagte McDole.
“Wenn Sie mir 400 Dollar draufzahlen”, meinte Robert, ““würde ich ’s mir überlegen.”
“Wo denken Sie hin!? Versuchspersonen werden nicht bezahlt.”
“In Neuseeland werden Personen, die sich freiwillig für derart riskante Tests zur Verfügung stellen, entschädigt.”
“Aber Mr. Brown! Sie neigen zu Nostalgie.” McDole breitete die Hände
aus. “Seit Jahren sind solche Tests in Branchen wie dieser weder
freiwillig noch kostenlos.”
Ich nickte. “Man denke nur an Gentech-Nahrung, Klonen, an In-vitro-Fertilisation menschlicher Eizellen ...”
Robert wischte sich den Mund ab. “Neuseeländer sind keine Versuchskaninchen!”
“Also gut”, meinte McDole. “Ein Neuseeländer für eine Stunde – gratis!”
Robert zwinkerte uns zu. “Meinetwegen.” Er schien mit seinem Deal zufrieden.
“Eines wüsste ich noch gerne, Mr. Brown”, sagte McDole. “Glauben Sie, dass es bei Ihnen funktioniert?”
“Auf keinen Fall.”
“Danke, das genügt. Wir wollen testen, ob die innere Einstellung dabei
eine Rolle spielt.” Lächelnd verschwand McDole im Nebenraum.
“Wenn wir drüben sind, Linda,” Robert lehnte sich zurück, “werfen wir
einen Quarter, wer von uns beiden in die Zelle steigt. Zahl oder Adler?”
Lindas Hände zitterten leicht, während sie ihr Omelette mit Spargelspitzen aß. “Adler”, sagte sie.
Im Nebenraum stand eine junge Frau mit zwei gleich aussehenden Mädchen.
Die Assistentin führte die Mädchen zu den Kabinen. “Das Original bitte
hier rein.” Sofort liefen beide zu Zelle eins. Die Assistentin lachte.
“Keine Angst. Ihr bleibt doch beide am Leben. Nach der Fusion seid ihr
beide nur im selben Körper.” Dennoch wollte keines der Mädchen in Kabine
zwei. “Das Duplikat hält sich höchstens bis morgen. Es ist besser, eine
von euch geht freiwillig in Zelle zwei. Schon wegen der
Wiederverwertung der Rohstoffe. Das Haltbarkeitsdatum darf auf keinen
Fall überschritten werden. Nun kommt, Kinder, der Nächste wartet.”
Die Zwillinge umarmten sich, küssten sich auf die Wange und schlichen,
während sie sich umschauten und winkten, in die Zellen links und rechts
der Trennwand. Die Assistentin schob die Kinnstützen zurecht, bat die
Mädchen stillzuhalten, schloss die Türen und bediente ihre Armatur.
Langsam, fast unmerklich, wurde es in den Zellen dunkler, bis nichts
mehr zu sehen war. Als das Licht wieder an ging und die Kleine den
leeren Stuhl in Zelle zwei sah, fing sie bitterlich an zu schluchzen.
Ihre Mutter kam und nahm sie in den Arm. “Komm, Sheila. Länger als ein
Monat war nicht drin. Wenn du gute Noten kriegst, fragen wir Papa, ob du
zum Geburtstag nächstes Jahr wieder in die Zelle gehen darfst.”
“Oh ja!”
“Zahl!”, rief Robert, während Arthur mit der Assistentin sprach. “Tut
mir leid, Linda, für die nächste Stunde musst du zwei Roberts ertragen.
Ich meine, falls es klappen sollte. Das kann ich mir aber beim besten
Willen nicht vorstellen.”
“Mr. Brown!” Als Robert ohne Portemonnaie, Schlüsselbund und Armbanduhr
in Zelle eins saß und das Licht erlosch, starrten wir gebannt auf Zelle
zwei. Robert war nüchtern, skeptisch, ein kerniger Typ. Ich war mir
sicher, der Stuhl würde leer bleiben.
Ich muss genauso große Augen gemacht haben wie Linda, als in Zelle zwei
immer deutlicher ein zweiter Robert sichtbar wurde. Spiegelsymmetrisch
verließen beide ihre Zelle und schritten die Trennwand ab. “Hallo,
Robert, how are you?”
Zwei Roberts kamen auf uns zu. “Seltsam”, meinten beide im Chor. “Darauf
müssen wir anstoßen. Linda, schau auf die Uhr. Wir haben genau eine
Stunde.”
“Robert, bist du ’s? Lass dich umarmen.” Linda trat zaghaft an Robert
zwei, der lediglich durch die fehlende Armbanduhr vom Original zu
unterscheiden war. Er umarmte sie, als wäre er der Echte.
“He”, meinte Robert. “Nimm die Finger weg von meiner Frau!”
“Aber Robert! Das bist doch du!”
“Ich glaube, Linda, da verwechselst du was. Das bin nicht ich, das ist mein Abklatsch.”
Robert zwei lief puterrot an. “Ich bin Neuseeländer”, sagte er in Roberts knappem Tonfall. “Ich hasse Abklatsch.”
“Neuseeländer? New Yorker! Keine fünf Minuten alt. Ein Baby!”
“Hört auf, hört auf!” Linda stellte sich zwischen Robert und Robert.
“Kannst du ... könnt ihr denn nie aus eurer Haut ... wenigstens für eine
Stunde! Lasst uns den feierlichen Augenblick lieber begießen.”
Sichtlich verstimmt setzten sich die beiden Roberts an den Tisch und stießen mit uns an.
“Kalifornischer Weißwein.” Linda beäugte Robert zwei wie ein Wunder. “Schmeckt er dir?”
“Hm”, Robert zwei zuckte die Schultern. “Was heißt denn schmecken?”
“Oh, ich muss euch was erklären. “Arthur sprach zu Linda und mir, als
wollte er etwas sagen, was nicht für alle bestimmt war. “Das Duplizieren
klappt noch nicht für alle Sinne. Nur Sehen, Hören und Tasten werden
kopiert. Das Double sieht genauso aus, fühlt sich genauso an und hat
dieselbe Stimme. Zum Schmecken und Riechen aber müsste man das Erd- und
Wasserelement kopieren. Wenn das so einfach wäre, gäbe es längst
Kinofilme mit Geruch.”
“Typisch Amerika.” Robert eins verzog die Mundwinkel.
“Kein Geschmack”, entfuhr es mir. Sofort bereute ich meine Bemerkung,
als ich sah, wie Robert zwei erbleichte und jeden Gesichtsausdruck
verlor. Linda berührte seine Hand. “Bitte nimm das nicht persönlich,
Robert zwei.”
“Wie?!” Robert zwei riss plötzlich Mund und Augen auf, griff sich an die
Brust und klappte zusammen. Arthur sprang ihm zur Seite und fing ihn
auf. Auch Robert eins wurde kreidebleich und kippte mir in die Arme.
Arthur gab mir ein Zeichen mit dem Kopf. “Schnell in die Kabinen.” Wir
schleiften sie in die Zellen. Sofort ging die Assistentin an die Arbeit.
Linda und ich verfolgten gespannt, wie sich Robert zwei wieder in
Nichts auflöste, während Robert eins langsam zu Kräften kam. Die
Zellentür sprang auf, und Robert trat aufatmend neben Linda. “Was hab
ich gesagt? Neuseeländer sind eben Originale. Und wie steht ’s mit
Europäern?” Er sah mich herausfordernd an.
“Danke, ich werde mich hüten. Sie haben ja selbst erlebt, was dabei rauskommt.”
“Hendrik, Sie enttäuschen mich. Ich hab mich auch getraut.”
“Ja”, meinte Arthur. “Sie könnten auch gratis ...”
“Keine zehn Pferde bringen mich in die Zelle!”
Als Arthur merkte, dass ich standhaft blieb, holte er McDole herbei, der
gerade mit dem Ober sprach. “Eigenartig”, sagte McDole. “Kein Europäer
will sich testen lassen. Dabei sind Europäer nicht schwächer als
Amerikaner. Ich sehe da überhaupt keinen Grund. Auch in mir fließt
europäisches Blut. Meine Vorfahren stammen aus Irland.”
“Warum testen Sie sich dann nicht selber?”
“Das bringt nichts. Ich bin gebürtiger New Yorker. Ich wäre sogar
bereit, Ihnen eine Entschädigung zu zahlen, damit ich endlich etwas
testen kann, was mir schon seit Jahren in den Fingern juckt.”
“Warum ausgerechnet mit mir?”
“Weil Sie nicht nur Europäer, sondern auch Spitzenkoch sind. Einer der
besten der Welt. Ich habe von Ihnen gehört, Hendrik. Ich bewundere Ihre
Kochkunst. Dürfte ich Sie für einen Augenblick unter vier Augen
sprechen?”
Ich hatte keine Ahnung, was der Test mit meinem Beruf zu tun haben
sollte. Das begriff ich erst, als er mir persönlich eine Platte mit
bestem belgischem Käse servierte. “Es ist Ihr Geschmack, Hendrik, der
Sie einmalig macht. Ich möchte testen, ob Ihre Dublette vielleicht doch
etwas schmecken kann. Wenigstens zehn Prozent der Geschmacksempfindung
ihres Originals. Das würde schon reichen. Dann könnte ich in dieser
Richtung weiter forschen. Menschen wie Sie findet man nicht alle Tage.”
Ich kam ins Schwanken. “Wer garantiert mir, dass es keine Nebenwirkungen hat?”
“Dafür lege ich meine Hand ins Feuer, Hendrik.”
Mein Widerstand war gebrochen. Als das Licht in den Zellen nach dem
Erlöschen langsam wieder aufblendete, sah ich mein Ebenbild durchs
dunkle Glas. Die Zellentür sprang auf, und langsam, Schritt für Schritt,
näherten wir uns dem Ende der gläsernen Wand. Hinter meinem Double sah
ich die Kameras, die meine Selbstbegegnung auf Video bannten. Ich gab
mir einen Ruck und schritt zum Rand der Trennwand. Der Schatten meines
Ebenbilds erschien am Boden. Meine Arme zitterten, meine Knie wurden
weich ... Dann wusste ich nichts mehr ...
Als ich die Augen aufschlug, saß ich auf dem Stuhl in Zelle eins. Robert
stand neben mir und drückte mir die Hand. “Bravo! Ich hab ’s gewusst.
Ein Europäer lässt sich nicht kopieren!”
Er stützte mich und half mir aus der Zelle. Benommen steuerte ich den
nächsten Stuhl an. Alle umringten mich. Robert, Arthur, Linda, die
Assistentin und sogar die Kameramänner. McDole kam mit dem Ober,
Sektgläser wurden herumgereicht, alle hoben die Gläser und strahlten
mich an. “Applaus für Hendrik”, prostete Robert, “das nicht zu
kopierende Original.”
Alle klatschten. Plötzlich sah ich in der Runde Robert zwei. Mir wurde
übel. “Darf ich vorstellen”, sagte Robert, “mein Zwillingsbruder
Ronald.”
McDole hielt mir ein Klemmbrett mit Stift hin. “Hendrik, als Europäer
haben Sie doch sicher Sinn für Humor. Würden Sie mir bitte
unterschreiben, dass Sie nichts dagegen haben, wenn wir den Ulk am
Samstag Abend senden. In unserer Serie VORSICHT KAMERA.”
Ich unterschrieb, ohne meine Brille aufzusetzen. Man drückte mir ein
Glas Champagner in die Hand. Ich trank. Alle starrten mich an, als wäre
ich der erste Mensch.
“Kalifornischer Sekt,” sagte Linda. “Schmeckt er Ihnen?”
“Hm”, ich zuckte die Schultern. “Was heißt denn schmecken?”
Alle lachten – außer mir.
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
20.09.11, 18:31 |
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1958: Fremder im Dorf
Fremder im Dorf Ich nahm das verzinkte Kabelrohr zusammen mit der leeren Kanne in die Linke und schwang mich aufs Rad. Vorsichtshalber eine Viertelstunde früher als sonst. Um diese Zeit war es noch hell, ich konnte die Böschung gut sehen. Bevor die Böschung
begann, hatte ich nichts zu befürchten. Da ging die Straße frei durch flaches Feld.
Zwei Kilometer bis ins Dorf. Wie lang sich diese Strecke plötzlich zog!
Während ich in die Pedale trat, ging mir immer dieselbe Frage durch den
Kopf: Was wollten sie von mir? Was hatte ich ihnen getan? Was konnte ich
dafür, dass wir von einer Gegend in die andre zogen wie Nomaden –
Sachsen, Bayern, Hessen, Schweiz – von dort wieder ausgewiesen wegen
Überfremdung, und jetzt in diesem Nest gelandet waren, an der Schweizer
Grenze? Dass ich statt Fußballspielen lieber Marionetten bastelte und
Bühnenbilder malte?
An der Kurve mit den Büschen, wo die Wiese absank, suchten meine Augen
wachsam den Straßenrand ab. Hier, dachte ich, war die Gefahr am größten.
Im Gebüsch, im Straßengraben, hinter der Böschung hätten gut und gerne
dreißig Kerle Platz.
Alles blieb still. Das Schlimmste war geschafft!
Bei der Brücke über den Fischbach fuhr ich genau auf dem Mittelstreifen,
möglichst weit vom Geländer entfernt. Darunter könnten fünfzehn Kerle
auf mich lauern.
Wieder blieb alles ruhig. Hatte sich Hedi verhört?
Jetzt die Rechtskurve, die am Waldrand vorbei führte. An dieser Stelle
hielt ich einen Überfall für unwahrscheinlich. Hinter dem Ortsschild
standen schon die ersten Häuser, dann der Hof vom Bauer Isele.
Erleichtert fuhr ich durch die Toreinfahrt, lehnte mein Rad an die Wand
und trat in den Flur.
“Und?” Hedi nahm mir die Milchkanne ab.
“Alles friedlich wie immer.”
Hedi verschwand mit der Kanne und brachte sie kuhwarm zurück. “Aafm Hoimweg”, meinte sie. “I kenn den Joschi.”
“Danke”, sagte ich. “Wenn du nicht wärst ...”
Hedi wurde rot. “Un wos isch dees?”
“Mein Blasrohr.”
“Des bringt nix. So was hent die aa. Bloib lieber hier.”
“Spinnst du? Dann denken die ...”
“Na und? Du bischt nur oiner gege vierzig, fuchzig!”
“Aber warum? Was hab ich denn getan?”
“Du bischt halt fremd. Und gohscht wo andersch in die Schul. Pass acht!”
“Mach ich. Bis morgen.”
“Hoffentlich!”
Hedi berührte meine Hand und schaute zu, wie ich mein Rad durchs Tor schob und davonfuhr.
Mit der vollen Kanne fuhr ich unbeholfener. Blasrohr und Kanne hielt ich
in der Linken, mit der Rechten lenkte ich das Rad. Als ich den Dorfrand
erreichte, war die Dämmerung hereingebrochen. Mit den Augen suchte ich
den Waldsaum ab. Nach der Kurve kam die Wiese, düster, schwarz. Kalter
Wind zog mir durchs dünne Hemd. Bei der Brücke fuhr ich wieder auf dem
Mittelstreifen. Wenn ich unbehelligt bis zur nächsten Kurve käme, hätte
ich‘s geschafft!
Wie aus dem Boden geschossen standen sie quer auf der Straße! Sechs,
acht düstere Gestalten! Ich hörte meinen Herzschlag. Der Kraftprotz in
der Mitte musste Joschi sein. Keinen einzigen von ihnen hatte ich je
gesehen. Ich hielt an. Der Dicke lachte heiser.
Ein heller Lampenstrahl blendete mich, zwanzig Augenpaare starrten aus
der Böschung. Ob sie das Schlottern meiner Arme, meiner Knie sehen
konnten, weiß ich nicht. Keiner sprach. Sie starrten mich nur an.
Die Fahrradstange zwischen den Schenkeln, hängte ich die Kanne so
gelassen wie möglich an den Lenker und hielt mein Blasrohr hoch. Es
glitzerte im Schein der Lampe.
“Wisst ihr, was das ist?”
Joschi winkte lässig mit der Hand. Wie auf Kommando hob jeder sein
Blasrohr hoch und legte auf mich an. Fast dreißig Rohre aus
Holunderholz. So war das also! Sie lasen hier im Dorf wohl auch den
"Stern", mit dem "Sternchen" und der Bastelecke.
Langsam, wie gelähmt, griff ich in die Tasche, zog einen Blasrohrpfeil
heraus und hielt ihn hoch: ein Streichholz, mit Stecknadel verlängert
und am Übergang mit Klebeband so dick umwickelt, dass es genau ins Rohr
passte. Drei solcher Pfeile hatte ich dabei.
Joschi lachte und gab den anderen ein Zeichen. Alle hielten ebensolche
Pfeile hoch, steckten sie ins Mundstück ihres Blasrohrs, grinsten
hämisch.
In meiner Magengrube kam ein mulmiges Gefühl auf. Schon sah ich mich im
Fischbach liegen, Hals und Beine gebrochen, Kopf unter Wasser.
Schlagzeile: Sturz im Dunkeln.
Was hatte ich dieser Horde nur getan? Waren sie sauer, dass ich mich
außer zum Milchholen so gut wie nie im Dorf blicken ließ? Dass ich schon
morgens in den Zug nach Waldshut stieg und ins Gymnasium ging, während
sie die Dorfschule besuchten? Glaubten sie, ich käme mir besonders
schlau vor? Was half mir jetzt das ganze Bücherwissen?
Ich sah auf die Nadelspitze des Pfeils in meiner Hand. Im Licht der
Taschenlampe blitzte sie gelblich. “Seht ihr diese gelbe Spitze?”
Das war neu. Wo gab es Stecknadeln mit gelber Spitze? “Wisst ihr, was das ist?”
Das fragte ich mich selbst. Ich schaute in die reglosen Gesichter, bis ich die Antwort wusste: “Schlangengift! Aus Afrika.”
Joschis Lampenstrahl blieb fest auf mich gerichtet.
“Wer das abkriegt, der ist eine Woche lang gelähmt.”
Gemurmel. Drei aus der Sperre traten außerhalb der Schussweite. Ich
schöpfte Mut, griff wieder in die Tasche, hielt den zweiten Pfeil ins
Licht. “Und hier, die rote Spitze!” Ich drehte sie nach allen Seiten,
zeigte sie nach links und rechts, denn ich wusste, keiner konnte sehen,
ob sie wirklich rot war. “Wer die abkriegt, der kann einen Monat lang
nicht reden und nicht schlucken: Kehlkopflähmung!”
Der neben Joschi wollte sich verdrücken. Joschi hielt ihn zurück: “Der blufft doch bloß!”
“Tja!” Betont gelassen kramte ich den dritten Pfeil aus meiner
Hosentasche. “Wenn alles nur Bluff ist, dann haut dich auch der grüne
Pfeil nicht um. Mein großer Bruder hat das Zeug erst letzte Woche
mitgebracht, von den Buschnegern aus Swasiland.” Mein Bruder, der in
Hessen wohnte, war tatsächlich hier gewesen. Jeder im Dorf hatte den
bärtigen Hünen gesehen. Er lernte Suaheli, weil er später nach Afrika
wollte. “Er sagt, den darf ich nur im Ernstfall schießen, nur aus
Notwehr.” Bedächtig steckte ich den Pfeil ins Rohr. “Wer den abkriegt,
der spürt am Anfang nichts als einen Piks und bleibt drei Wochen ganz
normal. Dann kriegt er Fieber, Schreikrämpfe und rote Flecken.” Fast
glaubte ich es selbst. Ich suchte Joschis Blick. “Und eine Woche später
ist er tot. Aber beweisen, dass es an dem Gift liegt, kann man nicht. So
sagt mein Bruder. Ob‘s stimmt, das weiß ich erst nach einem Monat.”
Ich legte das Rohr an die Lippen und zielte auf Joschis Brust.
Totenstille. Keiner rührte sich. Ohne Kommentar erlosch die Taschenlampe. “Giftmischer!” fauchte Joschi. “Hau ab, du feige Sau!”
Nichts war mir lieber. Als ich an Joschi vorbeikam, schoss mir ein
Schwall ohnmächtiger Wut entgegen. Er musste ahnen, dass mein
Schlangengift erfunden war. Aber das Wagnis, die Ungewissheit waren zu
groß. Plötzlich war mir klar: Er schämte sich vor seiner Bande. Ehe er es sich anders überlegte, fuhr ich mit schlotternden Knien so schnell wie möglich nach Hause.
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
20.09.11, 18:23 |
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1990: Nándini
Nándini
Hellgrün tanzten die Blätter der Birken in der heiteren Juniluft. Im
Schlosspark des Zauberers Dschânaka erklang die Mittagsglocke, und eine
Mädchenschar rannte zum Frauenflügel, aus dessen Innerem würziger
Essensduft drang. Vor dem Speiseraum stand mit hochgezogenen Augenbrauen
die Gouvernante und prüfte bei jedem Mädchen, ob die Fingernägel sauber
waren. Dschânakas Tochter Nándini kam als Letzte aus dem Garten, sah
das hagere Gesicht der Gouvernante unter dem schwarzen Dutt, und der
Appetit war ihr vergangen. Nein, heute wollte sie keine Fingernägel
vorzeigen! Sie machte auf dem Absatz kehrt, setzte sich auf eine Bank im
Park, verzog die Unterlippe und wischte sich mit dem Ärmel über die
Augen.
Da erklang vom Treppenhaus des Männertrakts ein fröhliches "Huhu!" Ihr
Zwillingsbruder Sahakâri stand am offenen Fenster und warf ihr einen
goldenen Ball zu. Nándini fing ihn auf und warf ihn zurück. Eigentlich
waren Männer- und Frauenflügel streng getrennt. Die Wiese, auf der die
Jungen spielten, war auf der anderen Seite des Palastes. Aber Sahakâri
konnte Nándini nicht traurig sehen. Übermütig warf er ihr den Ball zu,
dass er weit über ihren Kopf flog und auf der Wiese an den
dichtbepflanzten Streifen rollte, der den Park umgrenzte. Dort wuchsen
die riesigen fleischfressenden Pflanzen, die den Park gegen Räuber
abschirmten. In kräftigem Rot blühend, verströmten sie einen betäubenden
Duft.
Nándini lief dem Ball nach, konnte ihn aber nicht finden. Noch nie war
sie den verbotenen Pflanzen so nahe gekommen und hatte deren Duft
gerochen. Eine Pflanze streckte ihr einladend ihre gescheckten Blätter
entgegen, und als ihr Nándini mit offenen Armen entgegenlief, setzte ihr
die Pflanze sanft ihre klebrigen Fühler auf die Brust.
Mit aufgerissenen Augen gewahrte Sahakâri, was er angerichtet hatte.
"Nándini!”, rief er. ”Komm zurück!" Oft schon hatte er miterleben
müssen, wie ein Räuber, der den Pflanzen zu nahe gekommen war, ihnen
freudestrahlend die Arme entgegenstreckte und den Duft einsaugte. Bald
aber hing er betäubt und schlaff in den Ranken, dann schloss die Pflanze
ihre Blütenblätter um ihn, bis er nicht mehr zu sehen war. Wochen
später, wenn sich die Blüte wieder öffnete, stand im Blütenkelch nur
noch das blanke Gerippe, das zu Boden fiel und nach und nach vom dichten
Laub begraben wurde.
Nándini drehte den Kopf zu ihm um. "Ich kann nicht”, rief sie. "Ich will nicht weg. Oh, es ist so süß.”
Sahakâri sah sich verstohlen im menschenleeren Treppenhaus um. Alle
waren inzwischen beim Essen. Niemand bemerkte ihn. Er ergriff ein
Schwert, das zur Zierde an der Wand hing, sprang aus dem Fenster und
rannte über die Mädchenwiese zu seiner Schwester. Da lag der verflixte
Ball, weit genug vom Pflanzengürtel entfernt. Warum hatte sie ihn
ausgerechnet dort gesucht? Er hob ihn auf und steckte ihn in die Tasche.
Nie wieder wollte er ihr Bälle zuwerfen, wenn es ihm nur gelang, sie zu
befreien! Er lief zu der Pflanze, die Nándini gefangen hielt, und
schlug mit dem Schwert auf die Fühler an ihrer Brust.
"Bist du wahnsinnig?”, schrie sie auf. ”Du zerstichst mir das Herz!"
Jetzt erst wurde sich Sahakâri bewusst, dass die Pflanze bereits
begonnen hatte, mit Nándini zu verschmelzen. Jeder Schlag auf den Fühler
schnitt ihr ins Herz. Er ließ das Schwert sinken, warf sich ins Gras
und hielt die Hände vors Gesicht.
Der betäubende Duft aber stieg auch ihm in die Nase, schon spürte er den
Drang, sich der nächsten Blume in die offenen Blätter zu werfen. Er
wollte sich aufrichten und dem Dunstkreis entfliehen, aber bei jeder
Bewegung in Richtung Haus waren seine Glieder wie gelähmt. Wandte er
sich dagegen zu den Pflanzen, lief ihm ein Kribbeln durch den Körper und
machte ihn leicht und beschwingt. Er wartete, bis der Wind abdrehte und
den Duft verwehte, dann schob er sich Ellenbogen um Ellenbogen, Knie um
Knie zurück in Richtung Haus.
Dort kletterte er durchs offene Fenster und lief in den Keller zur
unterirdischen Zauberkammer seines Vaters. Vor der Tür begann sein Herz
wie wild zu flattern und er setzte sich in den Flur, um sich zu sammeln.
Eine sanfte Stille lag in den Gewölben vor der Kammer. Sahakâri schloss
die Augen und sah im Geist die furchtbaren Szenen vor sich: das
Ballspiel, seine suchende Schwester, die unheilvolle Umarmung der
Pflanze.
Da erinnerte er sich an die Geschichte, die er als Kind oft gehört aber
nie recht verstanden hatte. Die fleischfressenden Pflanzen waren in
Wahrheit verzauberte Menschen, die aus ihrem schrecklich-schönen Dasein
erst erlöst wurden, wenn sie mitsamt der Wurzel in den Innenhof des
Palastes verpflanzt und von einer liebenden Menschenseele gegossen
wurden. Dann verloren sie ihre fleischfressende Eigenschaft und
erschienen so schlicht und unscheinbar, dass sie niemand mehr beachtete.
In diesem Zustand aber reifte ihre Seele, bis sie den Bann aus eigener
Kraft durchbrechen und ihre menschliche Gestalt zurückerlangen konnten.
Plötzlich wusste Sahakâri, was er zu tun hatte. Ohne den Vater zu
stören, schlich er in sein Turmzimmer, nahm ein Tuch aus dem Schrank und
tränkte es in Sandelöl. Er kletterte aus dem Treppenfenster auf die
Wiese, holte aus dem Schuppen des Gärtners Spaten und Schubkarren, band
sich das Tuch vor die Nase und trat in den Duftgürtel. Als er mit dem
ausgraben begann, stöhnte Nándini. "Was tust du? Lass mich, ich will
hier bleiben."
Sahakâri gab keine Antwort.
"Sahakari, hör auf! Du zerstörst das Glück meines Lebens."
Er biss die Zähne zusammen und grub weiter. Bald wurde Nándinis Stimme
schwächer, dann hing sie schlaff und betäubt in der Pflanze.
Nach einer halben Stunde lag die Wurzel frei. Sahakâri setzte die
Pflanze mit der schlafenden Nándini in die Schubkarre und brachte sie
durch die Hinterpforte in den Innenhof des Palastes. Dort legte er sie
ins Gras und hob eine Grube aus.
Als er die Pflanze mit der Wurzel in die Grube setzte, hatte sie bereits
an Klebrigkeit verloren. Mit einem Eimer lief er zum Goldfischteich und
holte Wasser zum Gießen. Da lösten sich die Fühler von Nándinis Herz,
sie griff sich an die Brust und stöhnte. Dann schlug sie die Augen auf
und fuhr sich über die Stirn. "Ich habe geträumt?"
Sahakâri sah ihr in die Augen, und die Tränen rannen ihm übers Gesicht. "Komm", sagte er, "Vater wartet."
“Ich traue mich nicht vor seine Augen.”
“Wir müssen zu ihm.”
Durch einen Seitengang liefen sie in den Keller. Auf dem Flur zur
Zauberkammer schlug sich Nándini an die Brust. "Was soll ich sagen, wenn
er fragt, wie alles kam?"
"Mach dir keine Gedanken." Sahakâri zog sie weiter, doch sie sträubte sich.
"Sieh nur, wie schmutzig meine Fingernägel sind. So kann ich mich nicht zeigen."
Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie zur Tür. Er wusste,
dass ihr Vater, wenn er in der Zauberkammer saß, durch seine
Kristallkugel alles beobachten konnte. Und er wusste auch, dass sich die
Tür öffnen würde, sobald er mit Nándini davor stand.
"Ich kann nicht", sagte Nándini. "Ich kann ..."
Es knackte leise und die Tür sprang auf. Sahakâri schob das schwere Holz auf und trat mit Nándini ein.
Dschânaka saß in seinem Stuhl und tat, als habe er das Knarren nicht
bemerkt. Erst als Nándini neben ihm stand und ihre Hände hinter dem
Rücken verbarg, sah er sie an, schlug seinen weinroten Mantel auf und
nickte. Da verlor sie ihre Scheu und fiel ihm in die Arme. Als sie
anfing zu schluchzen, zog er den Mantel über ihr blondes Köpfchen. Bald
war sie im Schoß des Vaters eingeschlafen.
Sahakâri setzte sich auf den Boden daneben. Dschânaka würdigte ihn
keines Blickes. Erst als Nándini wieder erwachte, schaute ihn der Vater
an und sagte: "Ihr müsst Hunger haben. Geht etwas essen."
Da flitzten sie los, durch Kellergänge und Treppenhaus, in den
Speisesaal der Mädchen, wo jetzt keine Gouvernante mehr aufpasste. Alle
Kinder hatten jetzt Unterricht. Aber auf dem Tisch standen noch
Ingwersaft und Erdbeersahne, und im Wärmeofen fanden sie zwei große
Teller mit Teignudeln in Soße, Oliven und Gurken.
Nándini pflegte täglich die Blume im Innenhof, gab ihr Wasser und
befreite sie von welken Blättern, Woche für Woche, Jahr für Jahr. An dem
Tag, als sie achtzehn wurde, erwachte die Menschenseele der Pflanze,
trat als Prinz vor Dschânaka und bat ihn um Nándinis Hand.
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
25.06.11, 01:37 |
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2000: Der Durchbruch
Der Durchbruch „Wer hat dir denn diesen Bären aufgebunden?“ Amtsleiter Hölzel gab
Schmuddel-Buddel den Zeitungsausschnitt zurück. „Die Erde ist keine
Hohlkugel, sondern voll glühendem Lava und Eisen. Und an den Polen gibt
es keine Löcher. Bohr deine Abwässerschächte und verschone mich mit
deinem Spleen!“ „Das ist ja der springende Punkt: Keiner glaubt’s! Zu schön, um wahr
zu sein!“ Schmuddel Buddel nahm zwei Fotos aus seinen Unterlagen und
legte sie Hölzel auf den Schreibtisch. „Hier, schau dir das an! Die Erde
ist hohl wie ein ausgeblasenes Ei, mit Löchern oben und unten, aber die
Regierungen halten das streng geheim, aus militärischen Gründen. Diese
NASA-Fotos wurden mir unter der Hand zugespielt.“
„NASA-Fotos! Dass ich nicht lache. Von einem Loch im Nordpol! Das sind
Polaufnahmen von Wettersatelliten. Was aussieht wie ein Loch ist der
Polarschatten im Winter.“
„Und was sagst du zu dem geheimen Bordbuch von Admiral Byrd? Der steht
als Polforscher in jedem Duden.“ Schmuddel-Buddel drückte Hölzel ein
dünnes Heft in die Hand. „Als Byrd 1947 im Auftrag der Navy den Nordpol
überfliegen sollte, ist er durch die Polöffnung auf der Innenseite
gelandet. Weil sich die Erdkruste am Nordzipfel Grönlands, genau beim
83. Breitengrad, nach innen krümmt.“
„Das ist Science-Fiction! Seismografische Messungen von Erdbeben
beweisen eindeutig, dass die Erde kein Hohlkörper, sondern ein
Festkörper ist.“
Schmuddel-Buddels Augen flackerten wild. „Ich schwöre dir: Auf der
Innenseite der Erdkruste ist genau so viel Platz wie außen. Das
Nordlicht ist der Schein der Zentralsonne durch das Polarloch. Durch die
Zentralsonne herrscht auf der Innenseite ein subtropisches Klima.
Weintrauben werden dort so groß wie Orangen. Da laufen heute noch
Mammuts rum, die durchs Polarloch bis nach Sibirien geschwemmt werden.
1898 servierten Polarforscher in Moskau frisches Mammutfleisch. Das sind
alles bewiesene Fakten.“
„Schmuddel-Buddel, wann wirst du endlich erwachsen? Schon als Junge
wolltest du nach Schätzen graben. Ich sehe dich noch bei strömendem
Regen im Schlamm bei der Kiesgrube buddeln. Nur dein Kopf sah heraus.“
„Ja, damals hast du mich Schmuddel-Buddel getauft. Ich bestreite nicht,
dass buddeln meine Leidenschaft ist. Deswegen bin ich ja Unternehmer für
Tiefbau geworden.“
„Aber das berechtigt dich nicht, in der Wiesbadener Fußgängerzone einen
Bohrturm aufzustellen, als wolltet du in der Nordsee nach Öl bohren!“
Hölzel trat ans Fenster und sah auf die Baustelle schräg gegenüber. „Das
geht entschieden zu weit.“
„Das weiß doch keiner außer dir.“ Schmuddel-Buddel stellte sich neben
ihn. „Sag doch selbst: Von hier oben sieht’s aus wie ein Silo.“
„Wenn die Presse Wind davon bekommt, dass du zwischen Hertie und Fink
einen Tunnel ins Innere der Erde bohren willst, wird ganz Wiesbaden
ausgelacht. Und ich selber kann einpacken. Ich habe meine Hand für dich
ins Feuer gelegt. Du bist mein Schulfreund und absolut zuverlässig, habe
ich bei der Ausschusssitzung gesagt. Du kannst den Bauauftrag nicht
eigenmächtig ändern. Das ist strafbar.“
„Es wäre sträflich, diese einmalige Chance ungenutzt verstreichen zu
lassen.“ Schmuddel-Buddel nahm Hölzel das Heft weg und raffte die Fotos
vom Schreibtisch. „Ich werd’s euch allen beweisen. Die Menschheit wird
mir noch dankbar sein. Ich bereue nur, dass ich dich eingeweiht habe.
Ich hätte einfach heimlich ...“
„Kommt nicht in die Tüte. Raus jetzt! Ich habe zu tun.“
Als Schmuddel-Buddel das Büro verlassen hatte, griff Hölzel zum Telefon.
Aber Tiefbauamt, Bauamt, Stadtplanungsamt, selbst das
Bundeskriminalamt, keiner fühlte sich zuständig, etwas zu tun. „Der hat
Sie veräppelt, Herr Hölzel. Sie sind doch sein Schulfreund. Schauen Sie
mal aufs Datum!“ Beschämt, doch erleichtert bemerkte Hölzel auf dem
Kalender: Es war der erste April!
Seine Besorgnis wuchs jedoch erneut, als er geraume Zeit später von der
Wach- und Schließgesellschaft die Nachricht erhielt, in der
Fußgängerzone unter dem Silo seien nachts Bohrgeräusche zu hören, selbst
an Wochenenden. Nach mehreren schlaflosen Nächten begab sich Hölzel am
Sonntag gegen Mitternacht selbst in die Kirchgasse und legte sein Ohr an
das Silo. Tatsächlich! Leise, aber deutlich dröhnte es durch den Stahl.
Er rief den Notruf an und ließ sich mit der Hauptwache verbinden. „So
leid es mir tut. Wir müssen Schmuddel-Buddel auf den Eichberg bringen.
Er ist durchgedreht.“
Als die Beamten der Funkstreife in die Baustelle eindrangen und
Schmuddel-Buddel festnahmen, war dieser sofort bereit, sich freiwillig
in die Klapsmühle zu begeben. „Es ist vollbracht!“, lächelte er beseelt.
„Ihr werdet sehen: Bald bin ich der meistgefragte Mann in allen
Talkshows! Und die Menschheit erfährt die Wahrheit über das innere
Paradies.“
Die Beamten tauschten Blicke mit Hölzel und lächelten ebenfalls. – Bis der Bauzaun fiel.
Am Tag der Eröffnung, pünktlich um 11 Uhr 11, rückten in der
Fußgängerzone die Medien an. ZDF, Hessenschau, Sat 1, Kurier, Tagblatt,
Reuter, FAZ, alle wollten das Spektakel miterleben. Schmuddel-Buddels
Firma hatte kräftig die Werbetrommel gerührt: „Einweihung der ersten
Passage zur Inneren Erde. Wir durchschneiden das rote Band der Brücke
zwischen Außenwelt und Innenwelt. Unser Überschall-Lift bringt Sie in
wenigen Minuten zur anderen Seite des Tunnels. Magnolien- und Feigenduft
aus der Inneren Erde wird in die Wiesbadener Innenstadt geleitet, dass
es eine Lust zu atmen ist. Ausgebuddelte Goldklumpen dekorieren
Schaufensterauslagen mit Tropenfrüchten, größer als in Findhorn. Alle
landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus der Inneren Erde sind biologisch
gewachsen und garantiert frei von Gentechnik. Und der Hit: Kinder reiten
gratis auf einem lebenden Mammut.“
Alle, auch die Bauzaungäste, waren sich einig: Jetzt erst machte der Einkaufsbummel richtig Spaß. Veröffentlicht als "Bauzaunroman" im Buddelbuch der Stadt Wiesbaden, Buch Habel, Wiesbaden, 2000. Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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30.03.11, 17:39 |
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Wie der Weihnachtszwerg zu uns kam
Als kleinen Weihnachtsgruß hier eine Schilderung, wie ich vor
knapp 20 Jahren als Weihnachtszwerg ein Jugenderholungsheim bescheren
sollte. Die Geschichte ist mit Bildern hier in meinem Zeichenforum zu lesen.
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04.01.11, 21:23 |
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Jannis kleine Dichterschule: Zügel für mein Flügelpferd
Jannis kleine Dichterschule Zügel für mein Flügelpferd
Inhalt Vom Flügelpferd Vom Soma Vom Wolkenritt Von der Dichte
Vom Rhythmus Vom Versmaß Vom Ausklang
Vom Reimschema Vom Stab- und Endreim Von Rein und Unrein Vom Reimefinden Vom Feststecken Von der Reimverlockung Vom Reimefimmel
Vom Lauschen Von der Lücke Vom Zeit Gemäßen Vom Kunstprodukt Von der Form Vom Infragestellen Vom Hinunther Vom Bemühen Vom Mühelosen
Vom Leser Die einzelnen Kapitel sind in meinem Zeichenforum hier zu lesen.
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21.12.10, 23:49 |
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1986: Selige Sehnsucht
Selige Sehnsucht
Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet: Das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet. In der Liebesnächte Kühlung, die dich zeugte, wo du zeugtest, überfällt dich fremde Fühlung, wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen in der Finsternis Beschattung, und dich reißet neu Verlangen auf zu höherer Begattung. Keine Ferne macht dich schwierig, kommst geflogen und gebannt, und zuletzt, des Lichts begierig, bist du, Schmetterling, verbrannt. Und solang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde. – Johann Wolfgang von Goethe
Eine Nacht im November 1986. Aufgewühlt liege ich im Bett und rätsele, wo meine Schwester jetzt sein könnte. Seit Tagen kreisen meine Gedanken nur um sie. Still und heimlich ist sie gegangen. Nichts ist uns geblieben außer einem großen Fragezeichen: Warum? Ihr Fortgehen zermürbt uns alle. Zu makaber war das, was wir in ihrem Badezimmer vorfanden. Könnte ich sie nur erreichen, mit ihr reden! Unter ihrem Abschiedsbrief stand „Pfüati“. Aber der Grund, den sie genannt hat, entbehrt jeder Logik. – Lisa, wo bist du? – frage ich ins Dunkle. – Bitte melde dich! – Da höre ich ihre Stimme in meinem Kopf: "Hallo? Bist du ’s?" – Lisa! – Es hat geklappt. Ihre Stimme klingt so nah, als säßen wir uns gegenüber. Ob es Einbildung ist oder Wirklichkeit, wer kann das sagen? Wichtig ist nur, dass ich mich gut dabei fühle. Von klein auf hatten wir beide das Gefühl, uns seit Jahrtausenden, seit eh und je zu kennen. Als ich drei Jahre nach ihr auf die Welt kam, soll sie mich mit den Worten begrüßt haben: „Da bist du ja endlich.“ – Lisa, erzähl mir doch, warum du gegangen bist. Was ist nur in dich gefahren an diesem Tag? "Also, ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, war völlig überdreht und gegen alles empfindlich. ‚Was mach ich bloß?’, dachte ich. ‚Wie soll das nur weitergehen?’ Ein Leben ohne Bühne, ohne Proben, ohne Premieren, stattdessen Bestrahlungen, Wartezimmer, weiße Kittel und Krebspatienten, die mir in allen Einzelheiten ihre Krankengeschichten erzählen. Das hatte mit mir und meinem Leben nichts mehr zu tun." Ihre Stimme klingt bedrückt, die Sätze kommen stockend, mit langen Pausen. "Mein Hauptbuch war vollgeschrieben bis zur letzten Seite, da dachte ich, jetzt klappst du ’s einfach zu." Ihr Hauptbuch, dieser sieben Kilo schwere Foliant, liegt jetzt kalt und schwer in unserer Garage zwischen Kisten voller Bücher, Fotos und besprochener Kassetten. Ihr Eintrag auf der ersten Seite schildert, wie sie hinter dem Wandregal einer Mansarde eine Tür zur Rumpelkammer ihrer Wirtin öffnete und neben einem Spinnrad dieses Buch von 1885 fand, mit 365 leeren Doppelseiten „Soll und Haben“. Manchmal in grüner Tinte, meistens in Violett füllte sie die Seiten mit Briefen, Gedichten und Tagebuchnotizen. Ein viertel Jahrhundert lang war dieses Buch ihr stiller Lebensgefährte und nahm ihre Beichten über Liebesfieber und Liebeskummer geduldig entgegen. Eingeklebte Bühnenfotos, Kritiken und Ausschnitte aus den Programmheften zeigen sie als Ehrbare Dirne Lissy bei der Landesbühne, als Effi Briest im Kleintheater, als Mutter Courage im Theater der Altstadt. Alle ihre Hauptrollen und Spielzeiten sind dokumentiert, von Bruchsal über Köln und Bern bis Stuttgart. Nur von ihrer Zeit in München gibt es keine Bilder. Dort hat sie lediglich ab und zu Hörspiele für den Bayrischen Rundfunk gesprochen. Ohne Bühnenarbeit verkroch sie sich immer tiefer in sich selbst, verliebte sich in die Stille ihres Zimmers mit dem sonnigen Balkon zum Garten und ging fast nur noch zum Einkaufen hinaus in den Straßenlärm. Vor sechs Wochen schrieb sie mir nach Indien, sie habe Gebärmutterkrebs und müsse operiert werden. – Du hättest ein neues Hauptbuch aufklappen können. Der Krebs war doch weg. – "Das war noch nicht sicher. Laufend sollte ich zu Nachuntersuchungen kommen. Schon vor der Operation hatte ich mich darauf eingestellt, dass meine Zeit auf Erden abgelaufen war. Eine Patientin im Krankenhaus hatte mir zwei Adressen gegeben: Vereinigung für freiwillige Euthanasie und Gesellschaft für humanes Sterben. Ich hatte sie angeschrieben und um Prospekte gebeten. Als ich später zur Bestrahlung bestellt wurde, ging ich einfach nicht hin. ‚Das ist der Anfang vom Ende‘, dachte ich, ‚ein Teufelskreis.‘ Da kamen die Prospekte. Es klang alles so vernünftig: kein Dahinsiechen, keine Belastung der Krankenkasse und der Familie. Es schien tatsächlich das Sinnvollste zu sein, jetzt von der Bühne abzutreten." Sie schweigt und gibt mir Gelegenheit, mich an die Zeit mit ihr zu erinnern. Als ich zwei Jahre alt war, sah sie mich mit dem Gesicht unter Wasser in einem Bach liegen und rettete mich vor dem Ertrinken. Als meine Mutter starb, übernahm sie für mich deren Rolle, später führte sie mich in Künstlerkreise ein, machte mich mit Schauspielern, Schriftstellern und Malern bekannt. Wir lasen zusammen Rilkes Malte Laurids Brigge, und seitdem empfand sie den Tod als etwas Heiliges, als das große Einswerden mit dem göttlichen Licht. Alle ihre Liebschaften scheiterten früher oder später an dieser seligen Sehnsucht nach jenem geheimnisumwitterten Gesellen, den die meisten Menschen fürchteten und flohen, ohne ihm je entkommen zu können; dem Freund der Lyriker und Denker, der vor keinem Würdenträger Halt machte. Ihn, den sie ihr Leben lang verehrte, rückte der Krebs nun in greifbare Nähe. "Drei Tage zuvor hatte ich es schon mit Tabletten versucht. Aber am nächsten Morgen wachte ich nur mit einem dumpfen Druck im Kopf auf und fühlte mich wie gelähmt. ‚Es muss doch irgendwie gehen, ich bräuchte ein Buch’, dachte ich. Also hab ich jemanden angerufen, so einen jungen Kerl." – Wen? "Den Namen sage ich nicht, sonst kriegt er noch Ärger. Ich hab ihn gefragt: ,Kannst du mir nicht ein Buch besorgen, wo drin steht, wie man ’s machen muss?‘ Er wollte erst nicht, aber ich ließ nicht locker, bis er sagte: ,Is gut. Aber vorbeibringen du i ’s net.‘ ,Warum nicht?‘ ,Naa, naa! Do will i nix mit z’ due ham.‘ Ich traf ihn am U-Bahnhof, er gab mir das Buch, ich versteckte es unterm Mantel und wurde auf einmal ganz ruhig. Ich drückte es ans Herz und sah alles mit anderen Augen: Wie die Leute alle hin und her rannten ... mit sorgenzerfurchter Stirn! Zu all dem hatte ich plötzlich einen ganz großen Abstand. Das war vorbei, das ging mich nichts mehr an. Als ich über die Straße lief, hätte mich beinahe ein Auto überfahren. Der Fahrer hupte und fing an zu schimpfen: ,Bassen ’s doch auf, des wär fast daneben ganga!‘ Und ich dachte: ‚Na wenn schon. Das ist doch genau, was ich will. Wenn der wüsste, welchen Schatz ich unterm Mantel trage!‘ Ich bog in meine Straße ein und sagte mir: ‚So. Jetzt gehst du zum letzten Mal diese Straße entlang, steigst zum letzten Mal die Treppe hoch, schließt zum letzten Mal deine Wohnungstür auf.‘ Wenn du aus einer Gegend wegziehst, in der du lange gewohnt hast und wo du so manches erlebt hast ... Vieles kommt dir dann in den Sinn. Ich dachte an die stillen Stunden in meinem Zimmer mit Nachmittagssonne und Vogelgezwitscher, an die Freunde, die ich hier hatte ... an deinen Besuch ... an unseren Zukunftstraum von der Wanderbühne mit eigenem Schattentheater ... Von all dem nahm ich jetzt Abschied. Ich war ganz ruhig und fühlte mich federleicht, so als wär’ ich schon ohne Körper. Im Zimmer blätterte ich in dem Buch und dachte: ‚Das ist mein Tor zum Licht. Bald wird es hell um mich sein.‘ Ach, furchtbar, was es für Todesarten gibt und was man alles dazu braucht! Ich hatte doch nichts, keinen Strick, keinen Haken an der Decke, keinen Revolver. Ich war schon ganz ratlos. Da sah ich auf einmal die Überschrift: ,Mit Messer und Hammer‘ . Ein Brotmesser hatte ich doch, genau in der richtigen Länge, und einen Hammer auch. Um die Wohnung nicht zu verschandeln wurde empfohlen, sich in die Badewanne zu setzen. Schon vor dem ersten Versuch hatte ich den Brief an dich geschrieben und zusammen mit meinen Ersparnissen in einen Umschlag gesteckt. Das lag alles noch da wie vor drei Tagen. Jetzt schrieb ich noch einen Zettel, wie in dem Buch geraten wurde, damit kein anderer verdächtigt wurde: ,Ich scheide aus dem Leben, weil ich Krebs habe.‘ Ich legte eine Kassette mit ruhiger Musik in den Recorder und stellte das Band auf endlos. Eine feierliche Stimmung überkam mich, eine Art heiliger Rausch. Ich war richtig glücklich. Endlich war es so weit. Ich stand vor dem Ziel meiner Wünsche. Ich nahm Messer und Hammer und stieg in die Wanne. Das Buch legte ich neben mich auf den Stuhl. Dann ging alles sehr schnell. Ich setzte mir das Messer auf die Brust und nahm den Hammer in die andere Hand. In dem Buch war genau gezeigt, wo das Herz sitzt und durch welche Rippen man drankommt. Ich drückte das Messer zwischen die Rippen und schlug mit dem Hammer drauf. Als er mit lautem Krach zu Boden fiel, erschrak ich und dachte: Hoffentlich hat das keiner gehört und kommt jetzt rein. Da merkte ich, es hatte geklappt, und dachte: ‚Endlich erlöst.‘ Dann wurde ich bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich das Gefühl, durch eine lange, dunkle Röhre gezogen zu werden. Es war wie ein Sog zum hellen Ende eines Tunnels. Dort stand eine Frau, die sah mich traurig an und sagte: ,Siehst du, das ist dein Körper.‘ Da sah ich meinen Körper in der Badewanne. Der Kopf war zur Seite gekippt, die Augen standen offen, die Kinnlade hing herunter, ich konnte die Zähne sehen. Das Blut floss noch als dünnes Rinnsal aus der Wunde. Ich bekam einen Schreck: ‚Mensch, es hat wirklich geklappt. Jetzt gibt es kein Zurück.‘ Und wie ich meinen toten Körper so betrachtete, schüttelte ich mich und dachte: ‚Wie ekelhaft der jetzt aussieht. Gut, dass du den endlich los bist.‘ Ich blieb lange im Bad und sah, wie das Blut aufhörte zu fließen und gerann. Da klingelte das Telefon. Aber ich konnte ja nicht mehr abheben und sagen: ,Es hat geklappt. Ihr könnt meinen Körper abholen. Er liegt in der Badewanne.‘ Ewig hat es geklingelt, später wieder, tagelang. Außer dem Schrillen des Telefons war nur das Knarren der Dielen von oben zu hören und der feierliche Gesang, den ich auf endlos gestellt hatte. Und im Bad brannte die ganze Zeit Licht, die Heizung war aufgedreht, es wurde stickig und stank. Die Wangen fielen ein, die Nase wurde spitzer. Niemand kam. ,Siehst du, das ist dein Körper‘ , sagte die Frau. Sie stand immer noch hinter mir, als wäre nur ein Augenblick verstrichen. ,Ich habe mich selbst ermordet.‘ ,Leider ja.‘ Sie hatte Verständnis und nickte mir zu. ,Es tut mir Leid für dich. Aber jetzt ist es zu spät.‘ “ Lisas Stimme schweigt in meinem Kopf. Ich denke daran, was mein Vater, meine Stiefmutter und meine Geschwister inzwischen erlebt haben. – Nach einer Woche haben sie dich gefunden. Deine Nachbarin rief bei uns an und fragte, ob du bei uns wärst. Seit Tagen wärst du nicht mehr aufgetaucht, ans Telefon gingst du auch nicht. Sie versuchten immer wieder, dich zu erreichen. Als du den Hörer nie abnahmst, wurden sie stutzig. Schließlich sind sie nach München gefahren und haben mit der Polizei die Wohnung aufgebrochen. Der Schock sitzt ihnen jetzt noch in den Knochen. Ich selber hab ’s erst Tage später erfahren, am Flughafen Frankfurt. Ich rief zu Hause an, da sagte Baba: ,Endlich meldest du dich. Lisa ist tot. Sie hat sich ein Messer in die Brust gerammt.‘ – Ich sehe mich im Geiste wie vor den Kopf geschlagen in die S-Bahn steigen. Auf dem Weg nach Hause denke ich an die Kartenlegerin, die Lisa aufsuchte, als sie siebzehn war. “Du wirst viele Charakterrollen spielen“, prophezeite sie ihr, “aber erst im Alter berühmt werden.“ Darauf sagte Lisa: “Ich will kein altes Weib werden. Wenn ich über Vierzig bin, bring ich mich um.“ Vierundvierzig ist sie geworden. Warum bin ich nicht eher zurückgeflogen? Schon seit Wochen hatte ich mich hundeelend gefühlt und wollte unbedingt nach Deutschland, ohne zu wissen warum. – Seit Tagen sehe ich alles wie durch einen Schleier, als stünde ich mit einem Fuß bei dir im Jenseits und schaute von dort auf die Erde. Im Vergleich zur Ewigkeit ist hier alles so hektisch und lächerlich. Wie Eintagsfliegen schwirren die Menschen durch die Gegend. Ich bin froh, dass ich dich hören kann. Wenigstens geistig bleiben wir verbunden. "Nur wenn du mich rufst. Ich selber kann mich nicht melden. Wir haben nur Verbindung, wenn du im Stillen an mich denkst." – Und wo bist du jetzt? "Im Dunkel." – Wie fühlst du dich? "Dunkel." – Was siehst du? "Dunkel." – Bist du in einem Raum? "Ja." – Kannst du dich bewegen? "Nein." – Wie furchtbar! Was ist los mit dir? "Ich bin in der Dunkelkammer." – Wieso? "Meine Ankunft war nicht vorgesehen, erst Jahrzehnte später, nachdem ich mit Charakterrollen berühmt geworden wäre. Bis dahin sitze ich im Dunkeln, weder hüben noch drüben." Unser Gespräch bricht ab. Erschüttert liege ich im Bett und finde keine Ruhe. Das alte Sprichwort ‚Wie du säst, so wirst du ernten‘ geht mir durch den Sinn. Wie grausam! – Gibt es irgendwo im Universum eine Instanz –, frage ich ins Dunkle hinein, – an die ich mich wenden kann, um meiner Schwester zu helfen? – Ja. – Eine fremde Stimme meldet sich in meinem Kopf. – Wie heißt diese Instanz, wie kann ich sie erreichen? – Du sprichst bereits mit ihr. – Was kann Lisa tun, um sich aus der Dunkelkammer zu befreien? – Nichts. Sie erntet nur die Früchte ihrer Handlung. – Aber sie kann doch nicht Jahrzehnte in der Dunkelkammer bleiben! Gibt es keinen Ausweg? – Doch! Jetzt entspinnt sich in meinem Kopf ein Gespräch, das mir am nächsten Morgen wie ein Spuk vorkommt. Habe ich geträumt? Ist meine Einbildung mit mir durchgebrannt? Das darf ich niemandem erzählen! Auch Lisa nicht. Die Ereignisse des Tages bringen mich zurück ins Diesseits. Ich fahre mit meinem Vater zum Notar, um die Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Für die kommende Woche ist eine Trauerfeier in der Kirche bestellt. Die nächsten Tage, besser Nächte, vermeide ich es, mit Lisa zu sprechen. Ich habe Angst, sie weiterhin in der Dunkelkammer vorzufinden. Ich sichte und ordne ihren Nachlass und reise nach der Trauerfeier ab, um zu der Gruppe zurückzukehren, zu der ich gehöre. Das letzte halbe Jahr war ich mit einer Meditationsgruppe, die höhere Bewusstseinszustände erforscht, in Indien. Jetzt ist die Gruppe wieder in Europa und wohnt in einer früheren Klosterschule. Der Tod meiner Schwester hat meine Ankunft um eine Woche verzögert. „Du kommst zur Unzeit“, sagt der Rezeptionist. „Alle Zimmer sind vergeben. Vor einer Woche wäre noch was frei gewesen.“ „Ich konnte nicht früher. Irgendwo wirst du doch ein Zimmer haben.“ Er schaut den Belegungsplan durch und schüttelt den Kopf. „Kein einziges Zimmer mit Bad, keines mit Dusche, höchstens eine Abstellkammer unterm Dach, einen schmalen Schlauch voller Gepäck und alter Möbelstücke. Das Gerümpel könntest du in den Speicher räumen, dann hättest du ein Zimmer. Aber ein Bad gibt ’s dort nicht. Da musst du runter gehen ins Schwimmbad hinter der Turnhalle.“ Die Kammer hat eine schräge Dachluke, die vom Schnee verdunkelt wird. Ich fühle mich beengt und abgeschoben, doch mein allabendliches Zwiegespräch mit Lisa tröstet mich: Während ich in dieser Abstellkammer hause, hat sie inzwischen die Dunkelkammer verlassen. Ein Jahr lang schreibe ich begierig mit, wie sie mir die helle, weite Landschaft schildert, ihre erwachende Begeisterung für klassische Musik und Opern, wie sie mir von einem Mann vorschwärmt, der sie betreut, oder das Gleichnis vom Salz in der Küche erzählt: "Du gehst in die Küche, um Salz zu holen, und siehst dort Rosinen und Mandeln, Erdnüsse, Kuchen, Käse und saure Gurken. Du fängst an zu naschen, kommst zurück ins Zimmer, setzt dich an den Tisch und merkst: ‚Ach, das Salz hab ich vergessen!‘ Also musst du noch einmal in die Küche." – Was willst du damit sagen? "Jede Seele entscheidet sich vor der Geburt, was sie auf Erden erreichen will. Wenn du das Salz vergisst, musst du noch einmal geboren werden, um es zu holen. Lass dich nicht vom Alltag überschatten, vergiss nie den Grund, warum du in einem Körper wohnst." Sie macht eine Pause, dann sagt sie: "Erinnerst du dich? Ich war doch anfangs in der Dunkelkammer. Jetzt habe ich erfahren, dass mir jemand geholfen hat, sonst säße ich heute noch dort. Einer, der auf Erden lebt. Das kannst nur du sein." – Wie kommst du darauf? "Wer denn sonst? Wie hast du das gemacht?" Ich berichte ihr, was in der Nacht nach dem ersten Gespräch mit ihr geschah, als sie in der Dunkelkammer war. – Gibt es keinen Ausweg? – hatte ich die fremde Stimme in meinem Kopf gefragt. – Doch. Du kannst die Wirkung ihrer Handlung übernehmen. – Ich? Wie macht sich das bei mir bemerkbar? – Das wirst du sehen. – Was muss ich dafür tun? – Formuliere deinen Entschluss in einem Satz. – Ich kam mir vor, als stünde ich vor einem Tribunal. – Wozu verpflichte ich mich dadurch? Werde ich es bereuen? – Nein. Du lebst in einem Erdenkörper und kannst mit jeder neuen Tat etwas bewirken. Lisa ist nicht mehr in der Lage, ihr Karma zu verändern. Niemand kann ihr helfen außer einem Menschen, der auf Erden lebt. – Im Geiste stellte ich mich vor das Tribunal und formulierte meinen Antrag. – Bist du sicher, dass du diesen Antrag stellen willst, mit allen seinen Folgen? – Ja. – Dann wiederhole ihn in vollem Wortlaut, damit du dir im Klaren bist, was du beantragst. – Ich wiederholte den Antrag in vollem Wortlaut, dann schlief ich ein. Am nächsten Morgen kamen mir Zweifel: Gab es im Jenseits tatsächlich ein solches Tribunal? War meine Vorstellung nicht viel zu irdisch? Würde ich die Wirkung spüren? Würde es Lisa tatsächlich helfen? Das durfte ich niemandem erzählen! Auch ihr nicht. Ein Jahr lang hat sie nichts davon erfahren. Am Tag nach diesem Gespräch mit Lisa erklärt mir der Rezeptionist: „Heute wird ein Zimmer für dich frei, mit Bad und Balkon!“ Seither sind meine Gespräche mit Lisa selten geworden. Ich bin beruhigt, dass sie im Jenseits ihren Platz gefunden hat. Sie braucht mich nicht mehr. Aber irgendwann, das weiß ich, sehen wir uns wieder. © 2004 Jan Müller
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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Jan |
17.12.10, 00:02 |
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1998: Wie die Göttin zu mir kam
Wie die Göttin zu mir kam Am 22. Dezember 1998 kam ich kurz vor Mittag vom Einkaufen nach Hause und öffnete die Haustür. Da sah ich sie. Nougatbraun, den Blick gesenkt, stand sie im Treppenhaus und sprach kein Wort. Unfähig, sich vom Platz zu rühren, stand sie da und fror. Wie bestellt und nicht abgeholt. In ihrer stillen Bescheidenheit schöner denn je. Als ich sie neben der Haustür erblickte, wusste ich: Limes hatte sich von ihr getrennt. Er musste gespürt haben, dass sie sich zu mir hingezogen fühlte. Wie hatte sie ihm das nur beigebracht? “Komm, meine Liebe”, sagte ich und nahm sie in die Arme, “wir gehen zu mir. Bitte nicht erschrecken über meine Junggesellenbude. Ich wusste ja nicht, dass du kommst.” Als wir uns zum erstenmal begegnet waren, stand sie in Limes’ Wohnung am Kamin, und ich hatte mich sofort in sie verliebt. “Meine Göttin aus Kathmandu”, nannte er sie. “Macht sich doch gut in meiner Wohnung, oder?” Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sie nicht als Göttin, sondern eher wie ein Möbelstück behandelte. Ich dagegen hatte gleich den Wunsch verspürt, sie zu schmücken, zu verehren, zu verwöhnen. Jetzt hatte sie den Weg zu mir gefunden. “Unsere Göttin sucht ein neues Heim”, stand auf einer Karte. “Vielleicht kannst du ihr ein Zuhause bieten. Es ist so schwer, allein im Dunkeln zu leuchten. Limes und Lona” Während ich sie in meine Dachstube brachte, bemerkte ich, daß ihr an der rechten Hand der kleine Finger fehlte. “Oh Gott, wie sie dich zugerichtet haben”, sagte ich und streichelte ihre verkrüppelte Hand. “Ich verspreche dir: Ich schnitz dir einen neuen.” Im Zimmer räumte ich den Nachttisch frei, legte eine Tischdecke darüber und stellte sie neben mein Bett. Kokett stand sie da, nicht größer als ein fünfjähriges Kind, die Rechte vor der Brust gewinkelt, die Linke zur Krone weisend, das Spielbein locker geknickt, und zeigte mir stolz ihre festen, mattglänzenden Brüste. “Göttin aus Kathmandu”, dachte ich, “still und bescheiden, aber schön. Du bist die ideale Partnerin für mich. Du wirst mir keine Scherereien machen wie Dolores.” Seit meiner Scheidung war ich Junggeselle und hatte nie mehr vor zu heiraten. Aber wie sollte ich meiner Mutter erklären, dass jetzt eine Göttin bei mir wohnte? Auf leisen Sohlen schlich ich mich in die Küche. “Des is ja 'n Riesenschinken da im Treppenhaus. Des sperrige Ding! Isch hab gerufen: Stelln Se’s bitte ab, isch bin im Bad! Hast du des bestellt?” “Nöö.” “Wieso kommt des zu uns? Und wohin damit, wenn du nit da bist? Auf’n Speicher kommt die mir nit. Der Schornsteinfescher hat sich schon beschwert. Da darf nix Brennbares stehen.” “Die kommt zu mir. Künstler brauchen doch eine Muse, die sie küsst.” “Och! Hör mer uff mit dem Kram! Nix wie Ferz im Kopp! Wozu soll ’n des gut sein? Was stellt die überhaupt dar?” “Keine Ahnung. Vielleicht die Göttin des Reichtums.” Nach dem Mittagessen mit meiner Mutter fragte ich mein Goldstück: “Sag mal, welche Göttin stellst du dar? Stehst du für Reichtum, Glück und Liebe? Für Weisheit, Kunst und Wissenschaft? Oder bist du eine Zauberin? Wild und gefährlich?” Bei dem Wort Zauberin schien es mir, als zucke ein Lächeln um ihren Mund. Tatsächlich verzauberte ihr bloßes Dasein mein Zimmer, gab ihm ein Flair von Wohnlichkeit und Fülle. Ich stellte Windlichter und eine Duftlampe vor sie hin, die ich gerade vom Weihnachtsmarkt mitgebracht hatte, zündete die Lichter an und betrachtete die Holzfigur in aller Ruhe. Der geschnitzte Schmuck war staubig und spröde. Vom Arbeiten mit Holz wusste ich: Holz braucht Öl für Glanz und Haltbarkeit. Ich holte Sesamöl, nahm einen weichen Aquarellpinsel und tauchte ihn ins Öl. Als der Pinsel ihre Stirn berührte, fingen ihre Züge an zu leuchten. Ihre Augen, fast geschlossen, wurden feucht. Vor dreißig Jahren hatte Limes sie aus Nepal mitgebracht und seither nie geölt. Durstig saugte ihre Haut das Öl auf. Wangen, Schultern, Oberarme trieften. Als der Pinsel ihre Brustspitzen bestrich, erbebte sie. Aus Bauch und Stirn und Schenkel brach der Schweiß. Vom Scheitel bis zur Sohle eingeölt, glänzte sie zufrieden, dankbar, satt. Wie beim Aktzeichnen und -modellieren genoss ich die zu Kopfe steigende Erregung. Torkelnd wie ein vom Winde gekraulter Ahorn spürte ich das Prickeln in den Gliedern. Zum Einmassieren des Öls nahm ich sie in die Arme. Während meine Hände ihre glatten, festen Brüste kneteten, brauten sich meine Lebenssäfte zusammen. Das glatte, eingeölte Holz fühlte sich an wie seidenweiche Haut. Nach dieser Ölmassage stand sie zufrieden lächelnd auf dem Nachttisch an der Ostwand. Ich schmückte ihren nougatbraunen Hals mit meiner Korallenkette und merkte plötzlich: sie sah nackt aus. Unerträglich nackt. In dieser Nacht, als sie zum erstenmal neben meinem Bett stand, träumte ich von einer nackten Nepalesin. “Ich brauche Kleider”, hörte ich am nächsten Morgen ihre Stimme. “Und zwar für jeden Wochentag in der Farbe des Planeten. Dazu Früchte, Kerzen, Ketten, Ohrringe, Armbänder, Steine, Süßigkeiten. Überhaupt: wie sieht’s hier aus? Keine Blumen im Zimmer, keine Decken! Wie kann man nur in einer solchen Rumpelkammer hausen!” Ihre Stimme hörte ich in meinem Kopf. Aber so klar und fordernd, dass ich das Verlangen spürte, alles, was sie wollte, sofort zu erfüllen. Dabei war nicht auszumachen: War es ihr Wunsch oder meiner? Ich las ihr alles von den Lippen ab. Gleichzeitig hörte ich meine eigene Stimme innerlich rebellieren: “Ich wohne hier doch nur noch eine Woche. Kurz nach Weihnachten fliege ich wieder in die Apallachen. Dort wohne ich zwischen Chirokesen, Pumas und Wasserfällen mitten im Wald. Eisiges Schweigen. Dann: “Und deine Mutter? Im Winter tun ihr doch die Knochen weh. Willst du sie einfach hier alleine lassen?” Ich hob meine Göttin auf den Arm und schätzte ihr Gewicht: mit Sockel sicher über zwanzig Kilo. Und als Handgepäck zu sperrig. “Habe verstanden”, sagte ich: “Du bist fürs Flugzeug zu zerbrechlich und zu schwer. Aber mein Flug ist schon gebucht, was sagst du jetzt? Für den 28. 12. 11 Uhr 40. “Du lässt also deine Mutter im Stich?! Du bist ja Schlimmer als Limes!” “Was redest du von meiner Mutter? Sie fällt in Ohnmacht, wenn ich mich hier oben häuslich niederlasse. Ich müsste das ganze Dachgeschoss auf den Kopf stellen.” “Besser ein Zimmer durcheinanderbringen als Gefühle! Du gehst sofort zum Telefon und stornierst deinen Flug. Und dann gehst du bitte zur Bank, ins Blumengeschäft, in die Stoffabteilung vom Warenhaus ...” “Moment mal! Das Stornieren des Tickets kostet mich 300 Mark! Ich bin kein Krösus!” “Keine Widerrede! Wer seine Göttin in die Rumpelkammer abschiebt, statt sie täglich zu verehren, bekommt meinen Fluch zu spüren. Was meinst du, warum mich Limes auf einmal loswerden wollte? Entscheide dich: Willst du mit mir leben oder ohne mich. Wenn du mir dienst, mach ich dich reich und glücklich. Wenn nicht, dann trennen wir uns besser heute als morgen.” Ich brauchte keine Zeit zum überlegen. Ich nickte nur. “Gut”, sagte sie. “Du brauchst als erstes eine Werkstatt. Einen großen Tisch mit Lampe. Frag deine Mutter, wo du so was findest. Und wo du Blumen her bekommst. Unser Heim muss zur Oase werden. Ein Platz zum Träumen, Lieben und Vergessen.” “Wem sagst du das? Es fehlt mir nur das Geld.” “Wer etwas will, der fragt nicht nach dem Geld, der tut es einfach. Alles andre kommt von selbst. Auch Geld.” Als ich im Kaufhaus nach Halstüchern stöberte, die ich meiner Göttin als Sari umbinden wollte, stand plötzlich Limes neben mir. “Hallo, lange nicht gesehen. Wie gehts, wie stets?” “Oh Limes! Vielen Dank für die phantastische Figur.” “Keine Ursache. Mein Sohn wird zwölf und spielt jetzt Tischtennis. Da brauchten wir im Keller Platz für die Platte. Auf den Sperrmüll wollten wir sie nicht bringen. Das brachten wir nicht übers Herz. Da dachten wir: Du bist der Richtige für sie.” “Da ist was Wahres dran. Und warum habt ihr sie nicht in der Wohnung behalten?” “Die Kinder haben sie laufend umgeworfen, bis ihr ein Finger abgebrochen ist. Da brachten wir sie in den Keller. Und? Fährst du wieder nach Amerika?” “Vorläufig nicht.” “Hattest du nicht schon gebucht?” “Da wusste ich noch nicht, dass meine große Liebe plötzlich in mein Leben tritt. Seit gestern bin ich verheiratet.” “Ach was?! Und uns hast du kein Wort gesagt! Herzlichen Glückwunsch!! Ich hab mich schon gewundert, für wen ein Junggeselle Seidentücher kauft? Deswegen warst du gestern nicht da, als ich die Figur vorbeibrachte. Dann war das also mein Hochzeitsgeschenk. Was sagt denn deine Braut zu der Figur?” “Die hat für Holzfiguren nicht viel übrig. Sie liebt das Praktische und scheucht mich durch die Gegend: Wohnung einrichten, alles schön und gemütlich machen. Ich habe heute schon neue Möbel durchs Treppenhaus bugsiert und Blumenstöcke und lauter Firlefanz vom Weihnachtsmarkt besorgt: Bernsteinkette, Perlenarmband, Halbedelsteine ... Gerade wollte ich Seidentücher kaufen, aber dafür reicht mein Geldbeutel nicht mehr.” “Tja, die hält dich bestimmt auf Trapp, bis du sie mit Klunkern überschüttest. Und? Schreibst du noch Geschichten?” “Ich hatte grade was für Brigitte in Arbeit. Aber meine Frau meint, ich solle lieber über sie was schreiben. Seitdem sie da ist, braucht sie ständig Zuwendung. Alles dreht sich nur um sie.” “Das muss ja ein Powerweib sein! Freut mich für dich. Also: schönes Fest und frohes Schaffen! Und Grüße an die Frau Gemahlin. Die muss ich unbedingt mal kennenlernen.”
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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05.11.10, 21:20 |
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Genial zeichnen lernen - Probelektionen
Seit September 2006 gebe ich online Zeichenkurse für Genialisch Zeichnen. Hier finden Sie eine Vorschau mit Probelektionen des Workshops, der in meinem Zeichenforum regelmäßig stattfindet.
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05.11.10, 17:03 |
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Warum wir anders schreiben als wir sprechen
Der folgende Text ist ein Kapitel aus dem 2006 bei Ciando erschienenen E-Book von Vera F. Birkenbihl und mir das-falschschreib-spiel-fonetix--wir-schreiben-ohne-regeln-frei-nach-gehoer. Dieses Kapitel erklärt anschaulich 13 Grundprinzipien der deutschen Rechtschreibung, die dafür verantwortlich sind, dass unser Schriftbild nicht genau den Klang des gesprochenen Wortes wiedergibt.
Außerdem finden Sie hier die acht Hör- und Lesebeispiele für das darin erwähnte "Falschsprech-Spiel".
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05.11.10, 16:54 |
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1991: Brunnen für Devi-dschi
Brunnen für Devi-dschi
Ich kerbte mit dem Fingernagel gerade ihre Augenlider und gab ihrem Blick den letzten Schliff, da raunte jemand hinter mir: “Das gibt ’s doch nicht!” Ich fuhr herum. Ein Inder im dunklen Anzug war lautlos in meinen Lehmtempel getreten und starrte mit glühenden, dunkel umrandeten Augen auf die aus Ton modellierte Figur. “Was kostet das Ding?” Ich hätte ihn am liebsten weggejagt. Wie hatte er den Weg zu meiner Lehmhütte gefunden? Wieso hatte ihn Kumar hier hoch gelassen? Hatte er ihm nicht gesagt, dass ich seit Monaten nicht sprach? Wie sollte ich mich ihm verständlich machen? Ich konnte einen Zettel schreiben und ihn bitten, wieder zu verschwinden. Aber etwas in mir sträubte sich dagegen. Ich wies auf den Zimmerbrunnen neben mir mit mehreren nach oben kleiner werdenden Überlaufbecken, aus deren Mitte ein Kristallstab ragte, und öffnete einen Hahn. Aus der Spitze des Stabes sprudelte eine Fontäne, und der Aufbau mit den Überlaufbecken begann sich zu drehen. Dann knipste ich das Licht an, das den Stab von unten beleuchtete. Mit Gesten erklärte ich ihm, dass die Figur später über den Stab gestülpt und diesen Brunnen krönen würde. “Fantastisch”, sagte er und sah sich erstaunt nach einer Stromquelle um. Im Gegensatz zu dem indischen Englisch dieser Gegend klang sein Englisch eher amerikanisch. “Zum Transportieren allerdings zu groß.” Ich nickte. “Und die Figur? Wen stellt sie dar?” Er ließ nicht locker. Ich schluckte. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als mein Schweigen endgültig zu brechen. Mit einem Räuspern fischte ich meine Stimme aus der Tiefe. “Diese Devi”, begann ich flüsternd, “ist das Kernstück meines Tempelbrunnens. Sie ist die Göttin, der ich die schönste Zeit meines Lebens verdanke. Sie kommen genau in dem Augenblick, wo diese Zeit zu Ende geht.” “Wieso zu Ende?” “Das Tonmodell ist fertig. Es muss nur noch gegossen werden. Dazu fehlt mir allerdings das Geld.” Er zog die Mundwinkel nach unten. “Wie viel brauchen Sie? Ich gebe Ihnen das Doppelte, wenn ich dafür die Bronze bekomme.” Ich setzte mich auf den mit Kuhmist gehärteten Boden und legte die Hand vor die Augen. Hier war ein Mensch, der mir den Bronzeguss bezahlen wollte, und er kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Gleichzeitig verlangte er von mir, ihm die Figur zu verkaufen, noch bevor sie meinen Brunnen zieren konnte. “Das geht nicht. Sie gehört nicht mir. Sie ist die Krönung dieses Brunnens, das Herz meines Devi-Tempels.” “Ich baue Ihren Tempel nach”, meinte er leichthin. “Genauso wie er hier steht.” “Wo?” “Am Stadtrand von New York.” Ich starrte ihn an. ”Dort kann man keinen Tempel aus Lehm bauen, der mit bloßen Füßen gestampft wurde.” Mit einer Handbewegung wischte er meinen Einwand beiseite. “Warum nicht? Meine Villa steht in einem Naturpark mit See und Trauerweiden, voller Statuen und Kunstobjekte.” “Sie wohnen in New York?” “Ja. Ich bin dort verheiratet.” Er sagte das in einem Ton, als müsse er sich bei mir dafür entschuldigen, und legte die Hände zum indischen Gruß zusammen. “Ich heiße übrigens Devendra und kenne Kumars Familie seit meiner Kindheit. Als ich ihn vorhin besuchte, sagte er, ein Einsiedler habe sich oberhalb seiner Plantage zurückgezogen und baue einen Devi-Tempel aus Lehm.”
* * *
Die Sonne stand weiß am Himmel. Devendra war in die Kokosplantage hinabgestiegen und brachte von Kumars Frau Tonschüsseln mit Essen nach oben. Ich schöpfte Wasser aus dem Brunnenschacht, schürte das Holzfeuer vor der Hütte, walzte den Fladenteig und stellte eine Pfanne auf die Glut. Devendra schien in der Stille des Regenwaldes, die nur vom Kreischen der Affen und Vögel unterbrochen wurde, genauso aufzuleben wie ich. Plötzlich schrillte ein seltsamer Klingelton durch die Luft. Devendra zog ein längliches Gerät aus seiner Jackentasche, schob eine Antenne aus und bellte hinein: “Hallo Baby! Ja. Hab ich gefunden. Ein Meisterstück! Mindestens zwanzigtausend. Als kleiner Anfang. Klar. Lassen wir langsam anrollen. Aber kein Wörtchen zu meiner Frau. Wird ihr Geburtstagsgeschenk. Spätestens bis zum siebzehnten. Okay, das wär ‘s schon. Küsschen, Baby. Bye!” Ich hielt mir die Ohren zu. Da hatte ich mich nun in der Südspitze Indiens ans Ende der Welt verkrochen, hatte beim Bau der Hütte statt Eisennägel nur Kokosstrick und Palmblätter verwendet und Kuhmist in den Lehm gemengt, um die Götter anzulocken, und dieser Mistkerl brachte mit seinem Piepsding den tiefsten Sumpf der Welt in diese Stille! Ich streute Weihrauch auf eine Schippe voll Glut und machte damit eine Runde um die Hütte. Aus der Pfanne qualmte es verkohlt. Unsere Fladen waren angebrannt. Devendra sah mich schräg von unten an und biss sich auf die Lippen wie ein Lausbub, der auf Prügel wartete. Dabei wirkte er so rührend, dass ich lachen musste. Was hatte er getan? Ein Ferngespräch geführt! Na und? Ich legte neue Fladen in die Pfanne, breitete Bananenblätter auf dem Boden aus und verteilte darauf Reis mit Chutney und Gemüse. Während wir schweigend mit den Fingern aßen, ließ ich den Blick über die Ebene schweifen, vorbei am Backsteinhaus Kumars, über Palmen und Büsche bis zur diesigen Küste des Indischen Ozeans. “Sorry für die Störung.” Er bestreute eine Papaya mit braunem Palmzucker. “Wie haben Sie eigentlich den Brunnen zum Leuchten und Sprudeln gebracht?” Ich trat in die Hütte und zeigte ihm die eingebaute Autobatterie mit Lampe und den Gartenschlauch, der zur höher gelegenen Quelle führte und durch den Wasserdruck den Aufbau mit den Becken zum Drehen brachte. Er sah sich suchend um. “Haben Sie Skizzen vom Brunnen, Entwürfe, Zeichnungen?” Ich holte meine Skizzen hervor, er studierte sie und hakte bei den kleinsten Einzelheiten nach. “Wozu wollen Sie das alles wissen?”, fragte ich. “Sie denken sicher, ich hätte einen Spleen. Aber ich glaube, in Serie hergestellt müsste sich Ihr Brunnen gut verkaufen lassen.” “Dieser Brunnen? Wer will so was haben?” “Ich. Und Sie. Man muss die Menschen nur begeistern. Ich höre schon die alten Ladies in New York: Ihr Tempel mit der Brunnen-Devi, eine Wucht. Kann man so was irgendwo bestellen?” Ich spürte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen, trat aus der Hütte und setzte mich ins Gras. Devendras Augen sprühten vor Begeisterung. “Überschlagen wir doch mal ganz grob: Wenn wir für den Probelauf nur fünfzig Brunnen rechnen, in halber Größe, Stab und Figur aus Mattglas, Endpreis viertausend Dollar, davon zehn Prozent für Sie, was wäre das?” “Zwanzigtausend Dollar.” “Genau. Ihr Startkapital für weitere Figuren, Brunnen, Studienreisen ...” “... bis ich ein Bildhauer von Weltruf bin und von einer Vernissage zur nächsten jage.” “Und ich habe Sie entdeckt! Wie klingt das?” “Grauenhaft.” Sein Gesichtsausdruck versteinerte. Eine Wand stand plötzlich zwischen uns. Ich merkte, dass er meine Antwort nicht begreifen konnte. “Sie haben nur gesagt, was ich gewinne. Was ich verliere, haben Sie verschwiegen.” “Unsinn. Keinen Cent verlieren Sie. Auch den Bronzeguss bezahle ich.” “Und meine schöpferische Stille? Ohne die es keinen Tempel, keinen Brunnen, keine Devi gäbe? Und da wollen Sie mich aus der Stille reißen, bis ich Sklave eines Piepsdings bin wie Sie!” “Sie sehen das zu eng. Wenn die Sache erst einmal in Schwung kommt, läuft doch alles ganz von selbst. Sie brauchen sich nur zurückzulehnen und zu genießen. So geht das jedenfalls bei mir. Da kommt zum Beispiel ein Inder mit einem Säckchen voll Saphire nach New York und fragt mich: Devendra, wo kann ich die verkaufen? Ich erkläre ihm, an wen er sich wenden soll, aber er lässt nicht locker: Du kennst dich hier aus, sagt er, können wir den Deal nicht über dich laufen lassen? Ich sage: Mach deinen Deal alleine. Aber er will nicht. Und was springt dabei heraus? Wieder ne Million ... So geht das.” Er zuckte die Schultern. “Was soll ich dagegen machen?” “Legen Sie doch mal Ihr Piepsding weg.” “Hab ich schon versucht. Dann kommen mir meine Sekretärin und meine Frau auf den Hals. Ich sei ein Monster ohne Mitgefühl! ... Andererseits: Ich bin jetzt hart an der Schwelle, wo ich wieder langsamer treten sollte ...” Er stockte, sein Tonfall wurde nachdenklich, als spräche er zu sich selbst. “Wenn ich die Augen schließe, wird es dunkel. Früher sah ich viel mehr Licht, mehr Hoffnung. Als Junge war ich voller Ideale, voller Träume ... Das Spielchen mit der Macht fing eigentlich erst an, als sie mich abgewiesen hat. Dieser Tanz ums Goldene Kalb ... Wer zwingt mich eigentlich dazu? Geld hab ich längst genug.” Er sah schweigend in die Glut und schob Palmenstümpfe nach, dass die Funken in den Himmel stoben. “... Trotzdem, keiner kann mir reinreden, befehlen ... Irgendwann, vielleicht im Alter ... lande ich doch noch im Himalaya.” Immer deutlicher kam der Inder in ihm zum Vorschein und verdrängte den amerikanischen Geschäftsmann. “Und bei Ihnen ist es umgekehrt. Ihnen würde so ein Schwenk nach außen gut tun. Sie haben Angst vor Geld. Das ist grundfalsch. Geld ist wertneutral, ist reine Energie. Ob Sie damit Waffen oder Brunnen bauen, liegt bei Ihnen. Wie sind Sie eigentlich auf die Figur gekommen? Hatten Sie ein lebendes Modell?” Ich nickte. “Die Schwester von Kumar. Ich nenne sie Devi, denn ich sah in ihr das Göttliche. Sie studierte Tempeltanz und brachte mir in den Ferien das Essen aus Kumars Plantage hoch. Leider waren die Fladen dann schon kalt und schmeckten wie Leder! Eines Tages brachte sie eine Pfanne mit, legte ein paar Steine zusammen, schürte vor der Lehmhütte ein Feuer und buk frische Fladen. Von da an wurde die Feuerstelle von Tag zu Tag häuslicher. Bald lagen Kupferkessel und Tongefäße herum und sie kochte hier oben für mich. Sie respektierte mein Schweigen und bewegte sich so leise, dass ich kaum ihren Sari rascheln hörte. Nachmittags ging sie zum Ziehbrunnen, stellte ihre Tontöpfe ins Moos, unterhielt sich mit den Krähen, die nach Essensresten pickten, und scheuerte mit Sand und Wasser ihre Töpfe aus. Zu der Zeit baute ich den Brunnen. Sie schmückte ihn mit Lotusblüten und stellte Öllämpchen am Rande auf. Endlich war er fertig bis auf die Figur. Ich hatte schon mehrfach angesetzt, den Ton zu Formen, aber es wollte einfach nichts werden. Der Batzen Ton war nicht befruchtet. Es fehlte ihm der Same, das Modell. Ich brauchte eine Haltung, ein Gefühl.” “Und dann?” “Dann kam jene heiße Nacht, als mein Brunnen völlig ausgetrocknet war. Gegen Abend stapfte ich hinunter zu Kumar, dessen Brunnen noch Wasser hatte. In seinem Backsteinhaus herrschte drückende Schwüle. Die Familie saß auf Schilfmatten davor am Lagerfeuer. Kumars Brüder, die in Kalkutta Musik studieren, waren zu Besuch. Ich freute mich, auch Devi in der Runde zu sehen, und setzte mich dazu. Der Monsun hätte längst einsetzen müssen, aber der Regen ließ auf sich warten. Einer der Brüder brüstete sich, er könne durch bestimmte Ragas Regen machen. ,Leere Sprüche!', meinte Kumar. ,Beweise es, bevor unser Brunnen versiegt!' Die Brüder nickten sich zu, der Ältere packte seine Bambusflöten aus und setzte die größte an die Lippen. Vom ersten Ton an saß ich wie gebannt. Er blies so tief und wehmütig ins Rohr, als wollte er uns von der tiefsten und dunkelsten Zeit seines Lebens erzählen. Dann griff er zur mittleren Flöte. Sie klang heller, voller Tatendrang. Beim ersten Trommelschlag der Tabla fiel mein Blick auf Devi. Ein Zittern ging durch ihren Körper. Als die Tabla schneller wurde, hatte ich das Gefühl, mich rekeln und strecken zu müssen. Eine Fontäne aus Licht und Klang durchströmte meine Wirbelsäule. Im gleichen Augenblick hoben sich Devis Arme und bewegten sich. Erst langsam und schlangenhaft, dann wie eine Flamme im Wind. Beim Tablasolo stand sie auf und tanzte. Die Flöte zauberte Stufen aus Klang in die Luft, auf denen Devi in den Himmel zu steigen schien. Ihr langes Haar, das sie als Zopf ums Haupt gewunden hatte, löste sich, bis ihre Mähne wild um Brust und Hüften schwang. Als Flöte und Tabla mit kräftigen Sprüngen zum Höhepunkt eilten, hielt sie plötzlich inne, den Kopf nach hinten geworfen, die Lider gesenkt. Reglos stand sie da, das Antlitz dem Himmel entgegen gestreckt, als die Musik verebbte und Kumar anfing zu klatschen. Hinter ihr das tiefblaue Samt des Alls und das tropische Glühen der Sterne. Der Himmel färbte sich schwarz, ein dicker Tropfen klatschte auf meine Stirn. Dann prasselte der Regen herab, auf ihre Stirn, ihre Lippen, auf ihren rosa Sari, der am Körper klebte, auf ihre Hände, von denen das Wasser herunterfloss und segnend die Erde tränkte. Wie eine Bronze stand sie im Regen, die Linke empfangend zum Himmel gerichtet, die Rechte gebend zur Erde, bis das Feuer verlöschte. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.” “Und diesen Augenblick haben Sie verewigt. Ich spendiere Ihnen den Abguss. Ich möchte die Bronze unbedingt sehen, bevor ich zurückfliege.”
* * *
Devendra saß in meinem Tempel und folgte mit seinem Blick dem Lauf des Wassers, das in Strömen über breite Blattgewächse floss. Voll und warm senkte sich der Regen übers Palmendach und tauchte uns in weiches Dämmerlicht. Der Boden dampfte, roch nach Moos und Erde. Zur Feier des Tages hatte Devendra seinen CD-Spieler mitgebracht und indische Flötenmusik aufgelegt. Er trug ein weißes Tuch als Beinkleid und um die Schultern eine Kaschmirdecke. Die Bambusflöte mischte sich mit dem Prasseln und Quirlen des Regens. Im Brunnen drehte sich der Beckenaufsatz mit der Bronze. Der leuchtende Kristallstab ließ den Schmuck durch die winzigen Löcher in Krone, Halsband und Gürtel glitzern und das Wasser sprudeln. Mit dem Gefühl, mein Werk vollendet zu haben, lehnte ich mich zurück. Versonnen betrachtete Devendra die Figur, deren Glieder durch das fließende Wasser wie lebendig wirkten. “Ja, sie tanzt. Zur Flöte, zur Tabla, zum Regen, wie Ihr Modell. Wissen Sie, wo sie jetzt lebt?” “Nein. Ich habe nie mit ihr gesprochen. Am nächsten Tag brachte mir Kumars Frau das Essen hoch. Statt fertiger Fladen lag ein Leinentuch mit einem Klümpchen Teig im Korb. Daneben ein jasminduftender Zettel: 'Lieber Gyani, ab heute musst du dir die Fladen selber backen. Für mich beginnt ein neues Leben. Ach, es könnte so schön sein und ist doch so schwer! Ich muss ihm helfen, zu sich selbst zu finden. Ich hatte ihn abgewiesen, aber jetzt ... Früher war er so sanft, und jetzt ist er so hart. Meine Sehnsucht geht in die Berge, in die Weite des Himalayas, aber mein Weg führt nach Amerika. Leb wohl! Deine Devi.” “Sie hat mit ‚Ihre Devi‘ unterschrieben?” Devendra runzelte die Stirn. “Was ist aus ihr geworden?” “Soviel ich weiß, ist sie in Amerika verheiratet. Mit einem steinreichen Mann.” “Und Sie vermissen sie nicht?” “Vom Gefühl her hat sich nichts verändert. Ich spüre ihre Nähe wie zuvor. Im Herzen bleiben wir verbunden. Ihr Mann dagegen braucht ihre körperliche Nähe. Und sie will Mutter sein.” “Mögen Sie Kinder?” “Ja. Diese Brunnen-Devi ist mein schönstes.” “Schade. Ich hätte sie gerne nach New York entführt.” Devendra stand auf und legte die Hände zum Abschiedsgruß zusammen. “Sie haben sie wirklich täuschend echt getroffen. Bald wird sie Mutter sein. Und am 17. ist ihr Geburtstag.” Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hob die Bronze vom Sockel und legte sie in seine Arme. “Hier! Mein Geburtstagsgeschenk – für Ihre Devi.”
* * *
Als ich heute in den Tempel kam, lag ein Umschlag auf dem leeren Brunnenaufsatz. “Als Trost für die Entführung Ihrer Devi – Devendra.” Trost? Der Brunnen wirkte kahl und öde, der Tempel verlassen und verwaist ohne die Figur, die jetzt im Flugzeug auf dem Weg nach New York war. Ich riss den Umschlag auf: ein Scheck mit einer Zahl und vielen Nullen ... Es juckte mich in den Fingern, dieses kalte Stück Papier einfach ins Feuer zu werfen. Unschlüssig drehte ich den Umschlag um, da entdeckte ich auf der Rückseite folgende Zeilen: “Jetzt, da Sie die Figur verschenkt haben, kann ich es Ihnen sagen: Der Abguss, den Sie mir gestern gaben, war nur einer von dreien. Ich habe die Fotos Ihres Brunnens nach New York gemailt, und verschiedene Kunstsammler fragten bereits nach Brunnen in Originalgröße. Kleinere Modelle können in das Sortiment eines Herstellers für Park- und Zimmerbrunnen aufgenommen werden. Die Keramik wird in Thailand hergestellt, die Elektronik und Mechanik in Taiwan. Um das Geschäftliche brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Ich achte Ihre Stille. Unterschreiben Sie nur den Lizenz-Vertrag, der in der Kiste hinter Ihrem Ton liegt. Darunter finden Sie die Bronze für Ihren Brunnen. Unsre gemeinsame Liebe verbindet uns. – Herzlich Devendra”
Veröffentlicht im April 2005 auf schreib-lust.de
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
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05.11.10, 00:59 |
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1981: Und ... du bist leer
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05.11.10, 00:45 |
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1974: Das Schlangenseil
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05.11.10, 00:36 |
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1989: Der Pinselmax
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05.11.10, 00:22 |
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1982: Famielke Honigkeks
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04.11.10, 23:56 |
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