Allein heißt nicht unbedingt einsam. Manche(r) fühlt sich in seinem stillen Kämmerlein wohl – keine Verpflichtungen, keine nervenden Konflikte um Haushaltsgeld und störende Gewohnheiten. Andere wiederum fühlen sich einsam, obwohl der Ehepartner ständig neben ihm sitzt und eine kreischende Kinderschar seine ganze Aufmerksamkeit erfordert.
Das Wort "allein" beschreibt den Zustand des Fürsichseins. "Einsam" bezeichnet das seelische Empfinden, von aller Welt vergessen, von niemand Wichtigem gebraucht, isoliert und außerhalb der menschlichen Gemeinschaft zu leben. "Allein" und "Einsam" sind also nicht dasselbe. Dennoch: Da wir von unseren Erbanlagen und von unserer Erziehung her auf ein Zusammenleben mit anderen Menschen geeicht sind, bringt Alleinsein häufig Einsamkeitsgefühle hervor.
Solange andere Menschen uns umgeben, setzen wir uns mit ihren Wünschen, Erwartungen und Angeboten auseinander. Solange wir uns mit Angelegenheiten anderer beschäftigen, müssen wir nur wenig über uns selbst nachdenken. Die zwischenmenschlichen Beziehungen bescheren uns ständig neue Ziele und Aufgaben. Sie tauchen uns in ein Wechselbad von Gefühlen wie Freude, Ärger, Anspannung oder Erleichterung. Sie halten uns in Bewegung.
Sind wir mit uns selbst allein, fehlen diese Anregungen. Der einzige Mensch, der mir nun Ziele, Aufgaben, Freude und neue Abenteuer bieten kann, bin ich selbst. Wer es nicht gelernt hat, sich selbst diese Anregungen zu liefern, fällt schnell in ein Loch der Sinnlosigkeit. Dann erscheinen die fehlenden Kontakte zu anderen als ein Makel des eigenen Charakters. Wenn niemand nach mir fragt – heißt das nicht, daß ich überflüssig und unbeliebt bin? Daß die Menschheit sehr gut ohne mich auskommt?
Kein Wunder, daß Verlassenheit Depression und Selbstmordgedanken auslöst. Angst vor dem Alleinsein (von den Psychologen Monophobie genannt) ist eine ernstzunehmende Zivilisationskrankheit – die Kehrseite der fröhlichen Singlegesellschaft.
Die meisten entfliehen dem Alleinsein durch eine zwanghafte Suche nach neuen Kontakten. Da jede(r) zweite wiederholt unter Einsamkeit leidet, hat diese Suche gute Erfolgschancen. Mehrere Leute, die die Einsamkeit fürchten, schließen sich zu einem Freundeskreis zusammen, einer Schutzgemeinschaft gegen die soziale Isolation. Diese Strategie ist allerdings mit Risiken behaftet. Kontakte geben uns nicht unbedingt Geborgenheit. Echte Freundschaft und Liebe muß wachsen: durch verbindende Erlebnisse, Gemeinsamkeiten, durch das Gefühl, füreinander einzigartig und unentbehrlich zu sein. Sonst zerbrechen die Kontakte bald wieder, und Einsamkeit wird zum Dauerzustand.
Besser ist es zu lernen, mit sich selbst glücklich zu werden. Die einzige Person, mit der Sie ständig in Kontakt stehen werden, sind Sie selbst. Auch wenn Sie verheiratet und mit vielen Kindern und Verwandten gesegnet sind – das ist keine Garantie, daß Sie in zwanzig Jahren nicht völlig auf sich allein gestellt sein werden. Die Schritte zum mit sich selbst sind längst erforscht. Wir stellen sie Ihnen vor:
Bestandsaufnahme. Was können Sie an sich leiden, was nicht? Worauf sind Sie stolz, was würden Sie gern ändern? Machen Sie Pläne und stellen Sie sich Ziele, deren Umsetzung Sie ohne größere fremde Hilfe allein bewältigen können. Gehen Sie systematisch daran, sich Wünsche zu erfüllen, zu denen Sie nicht kamen, solange Sie Rücksicht auf andere nehmen mußten: eine große Reise, eine Fremdsprache lernen, regelmäßigen Sport, ein Buch schreiben ... Entwerfen Sie einen genauen Plan für die Verwirklichung, reservieren Sie eine bestimmte Menge Zeit dafür und fangen Sie an.
Genießen lernen. Das beste Mittel gegen Langeweile: Tun Sie die Dinge, die in Ihrem Alltag anfallen, mit bewußter Freude und Konzentration. Kochen Sie sich etwas Schönes, auch wenn es lange dauert. Decken Sie festlich Ihren Tisch. Gehen Sie spazieren und beobachten Sie aufmerksam Ihre Umgebung. Lassen Sie Blumenduft, Vogelgesang und Schaufensterdekorationen auf Ihre Sinne einwirken. Wer sich bloß irgendwie die Zeit vertreibt, leidet. Wer aber aktiv wird und seine Sinne öffnet, gewinnt Geschmack am Leben.
Lernen. "Lebenslang lernen" heißt ein Schlagwort der modernen Arbeitswelt. Es ist auch ein vorzügliches Mittel gegen das Gefühl der Isolation. Wenn Sie an andere Menschen nicht herankommen – sie kommen zu Ihnen über Bücher, Fernsehen und Internet. Bilden Sie sich weiter: Sprach- und Literaturkenntnisse, Neues aus der Wissenschaft und der Informationstechnologie – Hauptsache, es ist spannend und läßt Sie an der Veränderung unserer Welt teilhaben. Mit solchen Kenntnissen ausgerüstet, können Sie nun auf Kontaktsuche gehen. Suchen Sie Gleichgesinnte – bei Weiterbildungskursen, auf Messen und Ausstellungen oder in Chatrooms im Internet. Wählen Sie solche Gelegenheiten, wo Leute nicht beliebige Kontakte suchen, sondern Seelengefährten, mit denen sie Kenntnisse und Erfahrungen zu bestimmten Gebieten austauschen können. Treten Sie bei neuen Kontakten grundsätzlich als Fragender auf, nicht als Belehrender, dann werden Sie bald neue Freundschaften schließen.
Arbeit. Die bisher genannten Maßnahmen erfordern zumindest einige Wochen Zeit. Was tun, wenn Sie Knall auf Fall verlassen werden? Dann haben Sie keinen Nerv für eine Bestandsaufnahme und neues Lernen, weil alle Gedanken um die Enttäuschung kreisen. In diesem Fall hilft Ablenkung. Stürzen Sie sich in die Arbeit. Machen Sie freiwillig Überstunden. Feilen Sie an Ihrer Karriere. Decken Sie sich so mit Arbeit zu, daß Ihnen keine Zeit zum Grübeln bleibt. Sollten Sie arbeitslos und schwer zu vermitteln sein: Sprechen mit dem Arbeitsamt, daß Sie einen Computerkurs machen wollen und lassen Sie sich zum Programmierer ausbilden.
Achten Sie jedoch darauf, daß diese intensive Phase nicht länger als einige Monate dauert. Solange, bis Sie den seelischen Schmerz einigermaßen überstanden haben. Sonst drohen Streßfolgen und Arbeitssucht.
Unter Menschen gehen. Mit Absicht stellen wir die Kontakte ans Ende. Erst wenn Sie mit sich selbst Freundschaft geschlossen haben, empfehlen wir Ihnen, neue Freundschaften und Liebe zu suchen. Vielen Einsamen sieht man die Not an. Sie lauern förmlich auf Leute, die bereit sind, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Über die Körpersprache nehmen andere diese Not wahr und schrecken zurück. Bleiben Sie also immer freundlich-distanziert. Gehen Sie lieber so vor:
- Zunächst begeben Sie sich nur an Orte, wo viele Menschen sind. Gehen Sie in Einkaufsstraßen, Ausstellungen, Theater, auf Universitätsgelände. Bewegen Sie sich unter ihnen, beobachten Sie. Werden Sie angeschaut, lächeln Sie kurz und grüßen mit einem Nicken. Dann gehen Sie weiter. Kein lechzendes Hinterherstarren – es werden neue Gelegenheiten kommen.
- Achten Sie auf Kontaktgelegenheiten. Sitzt Ihnen zum Beispiel jemand mit einem Lehrbuch in der U-Bahn gegenüber und Sie können erkennen, worum es geht, stellen Sie eine kurze Frage, etwa: "Studieren Sie Finanzökonomie?" Achten Sie bei der Antwort, die Sie erhalten, auf die Körpersprache. Nur bei einer aufgeschlossenen Antwort setzen Sie das Gespräch fort, indem Sie weitere interessierte Fragen stellen.
- Stellt Ihnen Ihre Kontaktperson Gegenfragen, und Sie gewinnen den Eindruck, daß sie den Kontakt gern fortsetzen möchte, tauschen Sie Telefonnummern oder verabreden Sie sich.
Alte Freundschaften reaktivieren und ausbauen. Rufen Sie alte Bekannte an, auch wenn Sie sie jahrelang nicht mehr gesehen haben. Sagen Sie, daß Sie ihn/sie nicht vergessen haben. Erkundigen Sie sich nach Neuigkeiten. Verabreden Sie sich, alle ein, zwei Wochen wieder zu telefonieren. Nach einiger Zeit verabreden Sie sich. Wenn Sie Geburtstag haben, laden Sie alle Bekannten ein. Nach einiger Zeit werden Sie Einladungen zu deren Geburtstagsfeiern erhalten und dort neue Leute kennen lernen, die Sie wiederum einladen können. So ergeben sich selbst für Kontaktscheue mit der Zeit stabile Beziehungsnetze.
http://www.berlinx.de/ego/0701/art2.htm