applepie
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Erstellt: 16.02.07, 18:29 Betreff: bewegte geschichten (die irgendwie mit x u. mannheim zusammenhängen...)
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Mit Sport aus der Sinnkrise Von Rainer Hein
Eines Tages, so heißt es in einer chassidischen Geschichte, entschloss sich Gott zu einer zweiten Sintflut. Die Muslime liefen daraufhin in ihre Moscheen und beteten zu Allah, er möge sie noch vor der Katastrophe ins Paradies holen. Die Christen gingen in die Kirchen, zündeten Kerzen an und baten ihre Heiligen, den Allmächtigen umzustimmen. Auch die Juden versammelten sich in ihren Synagogen. Dort beteten sie: „Herr, Du weißt, es wird für uns schwierig sein, zehn Meter unter dem Wasser zu leben.“ Stefan Selzer, Pfarrer von der katholischen Liebfrauengemeinde und Schulpfarrer an der Edith-Stein-Schule, hat diese rabbinische Erzählung nicht vorgetragen, um vor den Schülern der Jahrgangsstufe 11 Florian Sitzmann vorzustellen. Aber sie hätte gut zum Thema der Stunde „Sinnfindung in der Sinnkrise“ und zum eingeladenen Gast gepasst. Über Sitzmann schlugen die Wellen des Lebens 1992 zusammen, als er 15 Jahre alt war. Damals fuhr er mit seinem Freund Stefan von einem Kurzurlaub in Holland zurück nach Darmstadt. Auf der A 61 in Höhe von Bad Kreuznach verunglückten beide auf ihrem Motorrad. Während der Freund im Graben landete und unverletzt blieb, fuhr über Florian Sitzmann ein Lastwagen hinweg. Als er eine Woche später im Krankenhaus aus dem Koma erwachte und sich über seine schweren Beine wunderte, sagte ihm sein Vater die Wahrheit: Er hatte keine Beine mehr.
Leidenschaft für den Radsport
Vor den Schülern hat der mittlerweile bekannte Behindertenleistungssportler am Donnerstag ganz offen erzählt, wie sein Leben nach dem Unfall verlief. Er berichtete von seinem dreiwöchigen Überlebenskampf, den zwei Jahren im Krankenhaus, den Schmerzen, die die 50 Operationen verursachten. Und er erzählte von der Rehabilitation in Mannheim, wo er einem Menschen begegnete, der keine Arme mehr hatte. „Das war ein Schock für mich.“ Auf einmal habe er sich gefragt, wer eigentlich besser dran sei, er, der Mann ohne Beine, oder der andere, „der nicht mal in die Hände klatschen kann, wenn er sich freut“.
Von da an sei „neuer Schwung“ in sein Leben gekommen, sagt Sitzmann. Er entdeckt seine Leidenschaft für den Radsport, fängt an zu trainieren, nimmt in einem Spezialfahrrad am Gutenberg Marathon und anderen Wettbewerben teil, belegt vordere Plätze und wird schließlich Deutscher Meister und anschließend Vizeweltmeister in seiner Disziplin. Auch bei den paralympischen Spielen startet er. An dem Tag aber, an dem es für ihn in Athen „um alles ging“, versagt die Technik: Sein Sitzkissen im Rad verliert Luft, er muss das Rennen abbrechen, bevor es richtig begonnen hat.
Seinem Freund, der damals das Motorrad steuerte, hat Sitzmann nie einen Vorwurf gemacht. In seiner Erinnerung, so schildert er es den Schülern, treffe Stefan keine Schuld. So sind beide nach dem Unfall stets eng verbunden geblieben. Im vergangenen Jahr haben sie gemeinsam am Styrkeproven teilgenommen, einem 540 Kilometer langen Radrennen durch Norwegen. Sitzmann schaffte es als erster Handbiker der Welt, die Strecke in 30 Stunden zurückzulegen.
„Für mich gibt es nur einen Weg - geradeaus“
Aber Norwegen war nicht nur deshalb etwas Besonderes. Zum einen ging der durchtrainierte Darmstädter erstmals nicht in ein Rennen aus rein sportlichen Motiven, sondern startete für ein Straßenkinderprojekt der „Söhne Mannheims“, in dessen Verein er aktiv ist, seitdem er Xavier Naidoo kennenlernte. Und zweitens heiratete er zwei Wochen nach seiner grandiosen Fahrt seine Freundin Evelyn in der Bessunger Kirche.
Pfarrer Selzer wurde in den Vorbereitungsgesprächen zur Hochzeit nicht nur sehr berührt von dem besonderen Lebensweg des Bräutigams. Er dachte sich auch, dass für seine Schüler das beste Zeugnis für Sinnfindung ein „Lebenszeugnis“ sei, und lud deshalb kurzerhand den Spitzensportler in die katholische Schule ein. Sitzmann ist gerne gekommen. Seit seinem Unfall ist er als beinamputierter Mann mit durchtrainiertem Oberkörper ständig Fragen und Blicken ausgesetzt. Anfangs habe er darauf mit einem „Haben Sie ein Problem?“ reagiert. Irgendwann habe er jedoch gespürt, dass ihn auch die direkte Neugierde von Kindern nicht mehr schmerzlich berühre, sondern er durch seine Antworten anderen etwas geben kann.
Auf die Frage der Schüler, ob er nicht seine Beine vermisse, antwortet Sitzmann, er führe heute ein fast ganz „normales Leben“. Gibt es also selbst im Fall einer Sintflut, die einem die Beine hinwegspült, ein Leben danach? Als Fünfzehnjähriger, sagt Sitzmann, sei er ein „kompletter Durchhänger“ und „Nullpeiler“ gewesen. „Heute versuche ich das zu machen, was ich kann, was mir gegeben wird. Für mich gibt es nur einen Weg – geradeaus.“ Und Gott, will Pfarrer Selzer wissen. Im Krankenhaus, sagt Sitzmann, habe er so etwas wie Gottvertrauen gespürt. Irgendwann später habe er gedacht, dass ihm dieses Schicksal zugedacht sei. Heute sehe er es als Aufgabe, über seine Lebenserfahrungen zu erzählen. Neben dem Sport, mit dem er nie aufhören werde, sei das „ein Stück des Sinns meines Lebens“.
Text: F.A.Z.
15. Februar 2007 quelle
____________________ Die Neigungen des Herzens sind geteilt wie die Äste einer Zeder. Verliert der Baum einen starken Ast, so wird er leiden, aber er stirbt nicht. Er wird all seine Lebenskraft in den nächsten Ast fließen lassen, auf dass dieser wachse und die Lücke ausfülle. [ Khalil Gibran ]
In Deine Hände übergebe ich mein Leben...
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