Frickibär
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Erstellt: 13.03.06, 06:38 Betreff: Gefallene Engel zelebrieren die Lust am Leiden |
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Gefallene Engel zelebrieren die Lust am Leiden POP: Depeche Mode und fast 12 000 Fans lassen das "Bösfeld-UFO" SAP Arena beinahe abheben Von unserem Redaktionsmitglied Jörg-Peter Klotz
Gigantisch. Anders kann man das nicht bezeichnen, was Depeche Mode und fast 12 000 Fans in der seit Monaten ausverkauften SAP Arena zelebrieren. Mannheim erlebt eine Feier der Lust am Leiden: Das mitreißende "A Pain That I'm Used To", das erste Stück des neuen Albums "Playing The Angel", ist der programmatische Anfangspunkt, in dem Sänger Dave Gahan darum bettelt, dass diese sinnlose Welt ihn wenigstens nur mit Schmerzen plagen möge, an die er schon gewöhnt ist. Nach zwei Selbstmordversuchen und einer überstandenen Heroinsucht ist das einiges.
"Pain and suffering in various countries" - das Untermotto der "Touring The Angel"-Europatournee, könnte auf eine Art Masochistenmesse hindeuten. Das Gegenteil ist - trotz der für viele Fans nervenzehrenden Anreise - der Fall: Das am schnellsten ausverkaufte und am besten besuchte Konzert der jungen Arena-Geschichte verbreitet auch die bisher größte Euphorie. 90 Minuten lang. Plus zwei mal 15 Minuten Verlängerung. Einer der Gründe dafür: Lange hat man die beiden über Jahre verfeindeten Hauptdarsteller - Frontmann Gahan und Martin L. Gore, musikalisches Rückgrat und kreativer Kopf der Band - nicht mehr so liebe- und respektvoll miteinander umgehen sehen. Der Sänger durfte nach einem erfolgreichen Solo-Trip sogar erstmals drei Songs zu einem Album beisteuern; zwei davon landeten im Live-Programm. Seine allzu schleppende Ballade "I Want It All" ist allerdings der einzige wirkliche Hänger des Abends - was Gahan mit seinem Arena-füllenden Bühnen-Ego aber locker wettmacht.
Ansonsten bewegen sich Depeche Mode auf einem beängstigend hohen Qualitätslevel und übertreffen sogar ihr fabelhaftes letztes Mannheimer Gastspiel mit der "Exciter"-Tour im November 2001. Das liegt nicht nur am besseren Sound und Ambiente der SAP Arena im Vergleich zur Maimarkthalle. Das Trio hat die Fusion aus altgedienten Electropop-Melodien mit Industrial-Elementen und den organischen Sounds aus Blues oder Rock noch weiter perfektioniert. Egal ob alt oder neu - fast alle Songs werden so zu betörend schönen Cyborgs, die das Beste der Maschinenwelt mit Seele versehen.
Die beiden Gastmusiker befördern diese Synthese zusätzlich; vor allem Drummer Christian Eigner. Im Vergleich zu 2001 spielt der Österreicher eine dominantere Rolle, gönnt sich ab und an eine Art Led-Zeppelin-Punch und verwandelt so zum Beispiel den Schluss von "The Sinner In Me" in ein verstörendes Rammstein-Gemetzel. Keyboarder Peter Gordeno ist dagegen für die harmonischeren Momente zuständig und übertrifft den wie immer stoischen Andrew Fletcher an Wirkung.
Doch der neuerliche Qualitätssprung verdankt sich in erster Linie Martin Lee Gore, der ungeahnte "Rampensau"-Qualitäten entwickelt. Er inszeniert sich optisch als gefallener Engel mit verkümmerten, schwarzen Gargoyle-Flügeln in futuristischer "Mad Max"-Garderobe (Rufus Wainwright lässt grüßen) - und konzentriert sich überwiegend auf die Gitarre. Der geläuterte Synthie-Sünder zaubert aus den Saiten die schönsten Zahnarztbohrer-Effekte seit The Edge und macht mit pointierten Slide-Einsätzen den Ry Cooders dieser Welt Konkurrenz. Seine bewegenden Gesangseinlagen im Background und solo ("Home", "Macro") verraten, dass er zuletzt viel vom dramatischen Gospel-Tremolo à la Antony & The Johnsons mitbekommen hat. Aber das Publikum reagiert darauf derart sensibel, dass es in der ersten Zugabe mit dem selten gehörten Gore-Song "Leave In Silence" (1982) belohnt wird. Dafür entfällt das eigentlich vorgesehene Superhit-Medley.
Aber das ist völlig egal: In dieser Form und in diesem Stil hätten Depeche Mode auch "Schnappi" spielen können. Neue Songs wie das grandiose "John The Revelator" oder "Preciuos" wurden genauso ehrfürchtig aufgenommen, mitgesungen und betanzt wie die Klassiker. Aber es gibt natürlich Spitzen in der Stimmungskurve: Was bei "Policy Of Truth", "Behind The Wheel" oder "Personal Jesus" abgeht, sollte man einmal im Leben gesehen haben. Dann weiß man, warum sich die deutschen DM-Fans "Devotees" (die Hingebungsvollen) nennen. "Words are very unnecessary" heißt es in "Enjoy The Silence" - und Gahan konnte sich die Worte dabei wirklich sparen, denn das Singen des vielleicht schönsten DM-Stücks übernahm die Arena. So hingebungsvoll, dass man hätte weinen können.
Besonders engagierte "Devotees" hatten tausende Din-A3-Kopien des Slogans "We Just Can't Get Enough" in der Halle verteilt. Als der dazugehörige Hit des Jahres 1981 anfing, überraschten die Fans ihre Helden damit - ein weiterer Gänsehautmoment. Vor allem als die Bildregie diesen Effekt in Anton Corbijns Video-Installation über seiner "Raumschiff Enterprise"-Bühne integrierte. Doch der Schluss übertraf alles: Gore und Gahan im Duett, Arm in Arm am Ende des Catwalks mitten unter den glühendsten Fans - so schön kann Leiden sein.
© Mannheimer Morgen - 13.03.2006
Quelle: www.morgenweb.de
"die Mundart is en geile Beat, wie Dynamit so explosiv..." (Christian "Chako" Habekost - "2 Mann und Xavier Naidoo")
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