Schläge statt Streicheln
Überforderte Pflegende greifen nicht selten zu Gewalt - Die Opfer sind oft nicht mehr in der Lage, Hilfe zu holen
Dünn ist die Mutter geworden, richtig klapprig sieht sie aus, und sie möchte trotzdem nichts essen. Vielleicht tut ihr das Schlucken weh? Die Tochter weiß es nicht. Sie redet gut auf ihre Mutter ein, doch das ändert nichts. In ihrer Verzweiflung hält die Tochter der alten Frau die Nase zu und stopft, kaum dass sich der Mund öffnet, das Essen hinein. Experten sprechen in solchen Fällen von häusliciher Gewalt. Sie wissen aber auch, dass es selten einen Schuldigen gibt. Denn wenn Pflegende zu brutalen Methoden greifen, sind sie oftmals der totalen Erschöpfung nah. Damit es gar nicht so weit kommt, ist rechtzeitige HIlfe notwendig.
Rund 1,44 Millionen Pflegebedürftige werden zu Hause versorgt, das sind etwa zwei Drittel aller gesetzlich anerkannte Pflegefälle, heißt es in einer Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIM). Hinzu kämen rund 3 Millionen Menschen, die zwar hilfsbedürftig sind, aber von der Pflegeversicherung keine Leistungen bekommen. Sie leiden beispielsweise an einer Demenz und können sich zwar noch allein anziehen, lassen dafür aber den Kochtopf auf dem Herd. Auch sie brauchen Unterstützung, oft 24 Stunden am Tag.
"Häufig sind es Frauen, die ihre Männer, Mütter oder Väter pflegen, und oft sind es die Schwächsten, die von der Famiie die Aufgabe übertragen bekommen", erklärt Prof. Rolf Dieter Hirsch, Vorsitzender von 'Handeln statt Mißhandeln' (HsM), einer Initiative aus Bonn gegen Gewalt im Alter. "Oft geben sie für die Pflege nicht nur den Beruf, sondern auch ihr Privatleben auf." Fast alle Angehörigen müssen ihr Leben völlig umstellen.
Aus der Erschöpfung resultiert die Gewalt, zumindest ist das eine Erklärung. "Viele sind total überfordert und wissen sich nicht mehr anders zu helfen", sagt Petra Stragies, Vorsitzende der Alzheimer Gesellschaft Pfaffenwinkel (Bayern), die ein Beratungs- und Beschwerdetelefon für Pflegebedürftige und Angehörige betreibt. So kommt es, dass zum Beispiel die Tochter ihre Mutter beim Weggehen einschließt, aus Angst, die vergessliche Frau könntee sonst in der Stadt herumirren. Freiheitsentzug nennen Fachleute das.
Gewalt gegen Pflegebedürftige bleibt meist lange Zeit unbemerkt. Obwohl es mittlerweile Beratungs- und Notruftelefone gibt, schweigen die meisten Betroffenen. "Die Opfer sind häufig nicht in der Lage sich Hilfe zu holen oder haben Angst vor Repressionen", sagt Prof. Hirsch, der als Chefarzt in der Gerontopsychatrie der Rheinischen Kliniken in Bonn arbeitet. Angehörige schämen sich, weil sie die Pflege nicht schaffen und sich nicht unter Kontrolle haben, beobachtet Stragies.
Neben dem wichtigen Austausch mit anderen brauchen Pflegende auch Zeit für sich allein. Doch die ist mager, da ihre Angehörigen meist rund um die Uhr die Betreuung benötigen. Unterstützung bieten ehrenamtliche Helfer der Alzheimer-Gesellschaften. Sie kommen auf Anfrage vorbei, damit der Pflegende mit gutem Gewissen weggehen kann. Eine weitere Möglichkeit ist die Tagespflege. Pflegebedürftige werden dort von morgens bis abends versorgt, an einzelnen Tagen oder die ganze Woche über. Laut Stragies übernimmt die Pflegeversicherung die Kosten. "Die Pflegenden tun sich aber schwer damit, ihre Angehörigen abzugeben." Die meisten nutzten solche Angebot erst, wenn sie völlig ausgebrannt sind. (gms)
Quelle: VAZ vom 11. Oktober 2006