christina
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Erstellt: 10.01.04, 12:40 Betreff: Re: Suche Kontakt zu Betroffenen |
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Liebe Brita!
Vielen Dank für deine Email. Wenn ich kann, helfe ich euch gerne. Für einen Austausch stehe ich auf jeden Fall jederzeit zur Verfügung.
Ich weiß nicht, wie genau du die Einträge im Forum gelesen hast und ob du schon auf meine Erzählung von meinen Kindheitserinnerungen gestoßen bist (die Erinnerungen, die die Zeit in Essen betreffen). Im Anschluss daran findest du eine kleine Biografie von mir. Der Eintrag insgesamt heißt "Erinnerungen eines RB-Kindes" und zugegeben, der literarische Text muss vor allem für eine Mutter sehr erschreckend sein. Ich glaube, meine eigene Mutter hatte immer die Hoffnung, dass ich, so klein wie ich damals war, vieles vergessen würde. Dass aber diese frühen Kindheitserlebnisse auch so viele Jahre später noch immer so präsent in meinem Gedächtnis sind und wohl auch recht prägend für meine Persönlichkeit waren, hatte sie weggeschoben. Ich glaube, es ist kein spezielles Problem von Kindern mit RB, sondern eine allgemeine Erfahrung, die Kinder machen, die lange Klinikaufenthalte und anstrengende, schmerzhafte und demütigende Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Als ich letzten Sommer "zu Besuch" in der Uni-Klinik in Essen war (sozusagen um mich meiner Vergangenheit zu stellen), habe ich das ganz deutlich erlebt: Diese Kinder, die dort auf der Kinderstation liegen, sind alles kleine Erwachsene, die viel zu früh erleben, wie schwer das Überleben sein kann und dass sogar ihre Eltern sie nicht vor allen Gefahren beschützen können, sondern genauso hilflos und verzweifelt sind wie sie. Als kleines Kind - mit vier oder fünf Jahren - hatte ich das Gefühl, meine Mutter trösten zu müssen, für sie stark sein zu müssen. Das geht vielen Kindern so, wie ich gehört habe. So lässt sich wohl auch die überdurchschnittliche Reife erklären, die du bei deiner Tochter feststellst und die auch mir immer wieder bescheinigt wird. Oft wird man durch solche Reife von den Altersgenossen ausgeschlossen bzw. schließt sich selbst aus. Das hat nichts mit mangelnder Akzeptanz oder eigener Unfähigkeit zu sozialen Kontakten zu tun. Ich habe oft einfach das Gefühl, auf einem anderen Level zu denken, die Dinge um mich her manchmal tiefer zu durchschauen als meine Altersgenossen. Da ist einfach ein Vorsprung da, der in Kindergarten und Grundschule meist nicht so stark auffällt, aber sich in der Pubertät und bei mir dann ganz stark in der Oberstufe des Gymnasiums ausprägt. Teilweise kam ich mir durch diesen Unterschied ausgeschlossen vor, konnte mit den Unterhaltungen und Interessen der Altersgenossen nicht viel anfangen. Es war eine zeitlang sehr schwer für mich, mich einfach anders zu fühlen als alle anderen. Mein größter Wunsch war, in der Masse untertauchen zu können, nicht überall "bunter Hund" oder eine Art "Wunderkind" zu sein, nicht immer so viel zu denken und so tief blicken zu müssen, sondern auf einer Stufe mit den anderen zu stehen. Dementsprechend hatte ich auch einfach Angst, ihnen zu zeigen, wer ich wirklich war, das wusste ich selbst nicht so genau, aber wer weiß das schon mit 14? Inzwischen empfinde ich diese Reife als ein Geschenk. Es ist nicht immer leicht zu tragen, aber ich würde es nicht zurückgeben wollen.
Das Problem mit RB-Kindern ist meines Emfpindens nach, dass, sobald die regelmäßigen Behandlungen vorbei sind, alles verdrängt wird und die Bearbeitung dieser Erlebnisse erst Jahre oder Jahrzehnte später folgt. Ich war unglaublich froh, als mir das zweite Auge entfernt wurde. Sehen konnte ich nichts mehr, zumindest war mir der Unterschied von "vorher" und "nachher" nicht bewusst. Wichtig war für mich die Gewissheit, dass ich nie wieder nach Essen fahren musste und endlich in den Kindergarten gehen und den ganzen Tag spielen konnte. Ich glaube, ich war im Alter deiner Tochter, als ich ab und zu darüber nachdachte, wie es wäre, sehen zu können. Die eigentliche Auseinandersetzung und Versuch einer Verarbeitung der Erlebnisse in Essen kam aber viel später, begann vielleicht so mit 14 und fand dann bei mir sehr stark in den letzten zweieinhalb Jahren statt. Die Situation deiner Tochter ist etwas anders als meine, da sie ein Auge behalten durfte und deshalb vielleicht andere Probleme haben wird als ich. Trotzdem glaube ich schon, das ein Austausch hilfreich sein würde. Von wem geht im Moment die Initiative aus? Beschäftigt sich deine Tochter im Moment selbst viel mit ihrer Behinderung und ihrer überdurchschnittlichen Sensibilität oder bist es eher du, die sie beobachtet und sich ihre Gedanken darüber macht? Wenn du willst, kannst du mir auch eine private Nachricht schreiben.
Herzliche Grüße
Christina
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