Abschottung ist kein Rezept für die Zukunft - Wer sich abkapselt, wacht eines Tages im Gefängnis auf - Von Christoph Braendle
Wir haben uns die Welt entdeckt. Jetzt müssen wir sie in Betracht ziehen. Ein Text zum Tag der Migranten.
"Wenn der Wind des Wandels weht,
bauen die einen Schutzmauern,
die anderen Windmühlen."
Aus China
Die Insel Gorée liegt in der Bucht von Dakar im Senegal. Auf Gorée
erlebte ich zum ersten Mal Afrika. Der Begegnung lag ein Irrtum
zugrunde. Ich war nach Dakar gekommen, um eine afrikanisierte Verfilmung
des Besuchs der alten Dame von Dürrenmatt zu begleiten. Am Tag meiner
Ankunft wurden die Aufnahmen abgebrochen, weil der Produktion das Geld
ausgegangen war. Die Crew verlief sich in Windeseile, und da stand ich,
allein auf diesem gewaltigen Kontinent. Ich setzte nach Gorée über und
schaute zwei Wochen lang aufs Festland und dachte: Irgendwann werde ich
Afrika richtig entdecken. Während dieser Wochen wurde ich beinahe
erdrückt vom Gewicht der Geschichte, das auf der Insel lastet, der
Geschichte der Sklaverei. Eine "maison des ésclaves" dokumentierte das
unermessliche Grauen dieses üblen Wirtschaftszweiges, und auf einer
Schautafel stand ungefähr Folgendes: Die Sklaverei konnte sich nur
deshalb so lange halten, weil zwar den meisten die grauenhaften Zustände
bekannt waren, sie aber trotzdem schwiegen, um weiterhin davon zu
profitieren. Die simplen Worte berührten mich, sie trafen etwas, das ich
damals noch nicht verstand.
Ich habe meine Kindheit und Jugend in der schönen, friedlichen und
behüteten Umgebung des Zugerlandes verbracht, das in der Schweiz liegt,
aber dem Salzkammergut ähnlich ist; unbelastet von den Fährnissen einer
Welt, die widrig und feindselig sein kann; und auch naiv bezüglich der
bestialischen Aspekte der Spezies Mensch. Trotzdem zog es mich hinaus in
die Welt, die zuerst Zürich hieß, und dann weiter, immer weiter. Ich
lebte an unterschiedlichsten Orten in Amerika, Asien, Afrika und
natürlich Europa und kam vor über 20 Jahren nach Wien, wo ich seither
meinen Hauptwohnsitz habe, unterbrochen weiterhin von vielen Reisen und
langen Aufenthalten, vor allem in Marokko, wo ich und meine Familie seit
zehn Jahren eine zweite Heimat gefunden haben. Ich bin mein
Erwachsenenleben lang immer dorthin gegangen, wohin ich wollte, und bin
geblieben, solange ich Lust hatte. Ich habe eine ungeheure Freiheit
genossen und diese Freiheit nach Kräften ausgenützt.
Wo immer ich hinkam, traf ich auf Landsleute. Noch an den
entferntesten und unscheinbarsten Orten gibt es sie, die Schweizerinnen
und Schweizer, dass man vermuten muss, es existierten von diesem
Menschenschlag mehr als die offiziellen sieben Millionen. Vielleicht ist
dieser Drang in die Fremde ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, als
die Eidgenossenschaft in vielen Regionen eine bitterarme Gegend war,
ohne Arbeit und Brot für junge Menschen, die deshalb nicht nur gezwungen
wurden, sondern auch gezwungen waren, in die Fremde zu ziehen und sich
fremden Regeln zu unterwerfen.
Das Bild der Schweiz im Ausland ist schon fast peinlich positiv. Kein
Skandal und keine noch so verdammenswerte historische Tatsachen
vermögen dieses Bild zu trüben. Was negativ sein könnte, wird
weggeblendet. Das Positive überstrahlt alles. Mit dem Blick des Auslands
betrachtet, ist die Schweiz ein liebenswerter, ein wenig sonderbarer
und ziemlich belangloser Zeitgenosse, dem aus irgendwelchen Gründen die
Reichen ihr Geld anvertrauen. Vor kurzem hat es mir ein alter Marokkaner
so erklärt: "Sie sind Schweizer? Die Schweiz ist gut. Sie nimmt das
Geld von allen. Die Schweiz hat keine Probleme." Dieses naive Bild ist
in seiner Harmlosigkeit entzückend. Darüber hinaus ist es für Leute wie
mich nützlich. Man ist als Schweizer überall wohlgelitten. Man kommt in
den Genuss eines Vertrauens- und Liebenswürdigkeitsvorschusses, der
schier unglaublich ist.
Vielleicht ist das das schönste und wertvollste Geschenk, das Heimat
machen kann: den Weg in die Fremde zu öffnen und den Zugang zum Fremden
zu erleichtern. Wenn Heimat als Bürgschaft gilt, dass einem die Fremde
nicht feindselig, sondern freundlich begegnet, dann ist das eine
großartige und von einem gnädigen Schicksal geschenkte Gabe. Es ist eine
Gnade, die nicht aufgrund persönlicher Leistungen oder besonderer
Verdienste verliehen wird, sondern allein dank der Zufälligkeiten des
Ortes und der Zeit der Geburt.
So weckt dieses Geschenk auch Gefühle des Mitleidens, der Scham und
Traurigkeit: Warum ist das, was ich erlebe, nicht von universaler
Gültigkeit? Wieso gibt es kein selbstverständliches Grundrecht für alle
Menschen, sich frei auf der Welt bewegen zu dürfen und das Glück dort zu
suchen, wo man es zu finden glaubt? Weshalb werden Menschen gedemütigt,
erniedrigt und gequält, eingesperrt oder bis aufs Blut ausgebeutet? Aus
welchem Grund lässt man sie verhungern oder verdursten, ertrinken oder
gar erschießen? Bloß weil sie versuchen, Grenzen zu überwinden, und
davon träumen, in bessere Lebensumstände zu geraten? Nur weil sie
gewillt sind, alles zu riskieren, um in den Genuss dieser besseren
Lebensumstände auch wirklich zu gelangen?
Ich habe versucht, von verschiedenen internationalen Organisationen
eine Berechnung dafür zu erhalten, was zum Beispiel der Schengenraum
ausgibt, um den Personenverkehr jener, die nicht der EU angehören, an
den Grenzen und im Innern zu verwalten, zu beschränken oder zu
verhindern. Es war unmöglich, auch nur eine ungefähre Schätzung zu
erhalten. Die Ökonomie der Abschottung liegt im Dunkeln. Die
Wirtschaftlichkeit einer Politik, die Menschen in unterschiedliche
Kategorien aufteilt und Erniedrigungen aufgrund der Herkunft und
Hautfarbe nicht nur zulässt, sondern fördert, spielt in finsterer Nacht.
Wenn man gewisse Eckdaten addiert, lässt sich vermuten, dass es sich um
ungeheure Geldmengen handelt, um Geld, das sinnvoller und
zukunftsorientierter verwendet werden könnte.
Zurzeit macht es nicht den Anschein, dass sich daran etwas ändern
wird. Angst bestimmt die Gefühle, weil sich unsere Welt als
episodenhafte Abfolge von Katastrophen darstellt. Bevölkerungsexplosion,
Klimawandel, Finanz- und Schuldenkrise und der Aufruhr in der
arabischen Welt sind nur ein paar der Schlagwörter, mit denen man uns
Tag für Tag zu entmutigen versucht. Grenzen werden höher gezogen. Die
Versuchung, sich einzuigeln, ist enorm, und der Rückfall in eine
Nationalstaatlichkeit, die man noch vor kurzem zu überwinden können
glaubte, scheint unaufhaltsam. "Österreich zuerst", 1993 von der
Freiheitlichen Partei initiiert, ist Mainstream geworden und gilt in
seinen Abwandlungen auch als "Schweiz zuerst", "Deutschland zuerst" und
so weiter. Die dem Menschen inhärente Scheu vor dem Fremden will nicht
gemildert, sondern bis hin zu Hass und blankem Rassismus aufgeheizt
werden. Wer sich dagegenstellt, gilt als naiv, wer sich für eine
Globalisierung nicht nur der Waren und des Geldes, sondern der
menschlichen Bewegungsfreiheit einsetzt, ist ein Utopist, ein Träumer.
Aber sind die wirklichen Träumer nicht jene, die glauben, es könne
so, wie es ist, immer weitergehen? Abschottung ist kein Rezept für die
Zukunft, denn wer sich zu sehr abkapselt, wacht eines Tages im Gefängnis
auf. Wir haben uns die Welt entdeckt. Jetzt müssen wir sie in Betracht
ziehen. Wir haben uns ihr zu stellen. Je mehr Freiheit wir zulassen,
umso mehr Zivilisation ernten wir. Freiheit heißt in einer zivilisierten
Gesellschaft nicht Regellosigkeit, aber die Regeln sind nicht unter der
Prämisse zu entwickeln, dass der Mensch des Menschen Feind sei, sondern
in der Gewissheit, dass die Menschenwürde ein universales Gut ist, das
unabhängig von Ort und Zeit der Geburt zu respektieren ist. Die Zukunft
hat begonnen. Es ist an der Zeit, dass wir uns über das Krisengeschrei
erheben und soziale Visionen entwickeln, die helfen, Grenzen abzubauen
und auf eine Kultur des Weltbürgertums hinzuwirken. Die Freiheiten, wie
ich sie genieße, müssen für alle gelten, und vor allem auch für jene,
die bitterer Not entgehen und bessere Lebensbedingungen erwerben wollen.
Tote im Kanal von Sizilien. Tote in der Meerenge von Gibraltar und
bei den Kanaren. Tote in der Ägais. Tote im Mittelmeer und im Atlantik.
Laut UNHCR
sind seit Jahresbeginn bereits mehr als 1200 afrikanische
Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Anstatt Fluchtwege zu öffnen,
werden Schutzsuchende auf hoher See ihrem Schicksal überlassen und in
den Tod geschickt. Wir nehmen nicht nur das Sterben in Kauf, sondern
akzeptieren, dass sich dieses Schlachtfeld bis tief in den Kontinent
hinein erstreckt mittels Demütigungen und Misshandlungen durch Behörden
und Bürger, denen Rassismus zur selbstverständlichen Begleitmusik ihres
Wohlstandes geworden ist. Aber können wir verdrängen, dass diese
Zustände nur deshalb aufrechterhalten bleiben, weil wir zwar davon
wissen, aber trotzdem schweigen, um in irgendeiner Form davon zu
profitieren? (Christoph Braendle, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe,
17./18. Dezember 2011)
Christoph Braendle, geb. 1953 in Bern, ist Schweizer Schriftsteller.
Nach ausgedehnten Aufenthalten in Europa, Asien, den USA und Mexiko lebt
er seit 1987 in Wien. Zuletzt erschien von ihm "Das Wiener Dekameron"
(Metroverlag, 2011).