Focus Magazin
10. Maerz 2003
Fall Pascal;
An Schlimmes gewohnt
Die Akte von Pascals Freund Bernhard M. enthoellt ein Martyrium. Das Jugendamt sah zu
Sechs Seiten lang ist der vertrauliche Brief, den Rainer Horn am 23. Januar an Stadtverbandspraesident Michael Burkert schreibt. Auf diesen sechs Seiten schildert der Leiter des Sozialen Dienstes in Saarbroecken das Martyrium des heute achtjaehrigen Bernhard M. Er beginnt mit dem Satz: "Ich moechte Sie von einem Einzelfall unterrichten, der nach den heutigen Erkenntnissen einen besonders schweren Fall von sexuellem Missbrauch an einem Kind und Gewalt darstellt, wie ich es in meiner bisherigen Praxis noch nicht erlebt habe."
Am 8. Januar 1995 wird Bernhard geboren. Christa W., Wirtin der "Tosa-Klause" im saarlaendischen Burbach, die bereits seine geistig behinderte Mutter Andrea betreut, erhaelt die Vormundschaft foer das Baby. Damit beginnt sein Martyrium, das in den Akten des Jugendamts festgehalten ist.
Im Oktober 1995 bekommt die zustaendige Sozialarbeiterin erstmals einen Anruf einer Anwohnerin, dass Bernhard verdreckt und antriebslos sei sowie starken Husten habe. Das Jugendamt kann die Vorwoerfe jedoch nicht verifizieren.
Am 5. Juni 1997 meldet ein Mieter von Christa W., dass einer ihrer Besucher den kleinen Jungen mit den Faeusten geschlagen habe und dass er eingesperrt und vernachlaessigt werde. Nachbarn haetten sich deshalb bereits mehrfach an die Polizei gewandt.
Einen Tag spaeter, am 6. Juni 1997, erscheinen Sozialarbeiter zum Hausbesuch. Sie stellen fest, dass die hygienischen Verhaeltnisse tatsaechlich verbesserungswoerdig seien. An Bernhard koennen sie jedoch keine aeusseren Spuren von Gewaltanwendung entdecken. Christa W. sagt aus, der Junge neige zu hospitalistischen Verhaltensweisen, er schloege manchmal mit dem Kopf gegen Toeren und Waende. Um ihn davor zu schoetzen, die Treppe herunterzufallen, werde seine Zimmertoer verschlossen.
Am 12. Juni 1997 meldet die Polizeiinspektion West: "Die Nachbarschaft ist in Aufruhr, weil Andrea M. ihren Sohn Bernhard schlage."
Am 30. Juli 1998 alarmiert die Polizei das Jugendamt. Die Beamten berichten oeber groessere Mengen Unrat und Moell im Haus von Christa W., die hygienischen Verhaeltnisse seien katastrophal, das Zimmer von Bernhard befinde sich in menschenunwoerdigem, Ekel erregendem Zustand. Der von Christa W. mit der Beaufsichtigung Bernhards beauftragte K. sei offensichtlich ungeeignet.
Das Jugendamt reagiert immerhin einen Monat spaeter. Am 8. September 1998 sucht eine Sozialarbeiterin Christa W. auf und findet nichts sonderlich Beanstandenswertes.
Am 1. Juli 1999 weist Bernhards Kindergaertnerin das Familiengericht auf eine Gefaehrdung des Jungen hin. Das Kind zeige Verhaltensauffaelligkeiten, sei oft aggressiv, bockig und launisch. Am 8. Oktober 1999 wird die Vormundschaft auf das Jugendamt oebertragen. Die Betreuung des Jungen aber bleibt in den Haenden von Christa W.
Das Kind wird erst erloest, als sich am 23. Januar 2001, Bernhard ist inzwischen sechs Jahre alt, der Bruder von Christa W. an die Behoerden wendet. Manfred W. sagt aus, schon als Baby sei Bernhard als Drogenkurier missbraucht worden. UEber einen Sohn von Christa W., der gerade eine Haftstrafe absass, habe die Wirtin Drogengeschaefte in groesserem Umfang abgewickelt; man habe Bernhards Windel mit Drogen gefoellt und ihn in das Gefaengnis mitgenommen. Regelmaessige Mahlzeiten habe Bernhard nicht bekommen, oft habe der Junge verdorbenes Essen zu sich nehmen moessen. Sein Kinderzimmer sei aus Kostengroenden nicht beheizt worden. Bernhard habe Alkohol trinken moessen, und man habe ihm das Rauchen beigebracht.
Das Jugendamt sah lange keinen zwingenden Grund, das gepeinigte Kind der Obhut der Gastwirtin und seiner Mutter zu entziehen. Stefan Kiefer, 38, Sprecher des Stadtverbands Saarbroecken, erklaert: "Es war ein Abwaegungsprozess. Uns erschien das emotionale Verhaeltnis zu seiner Mutter und seiner Pflegemutter bedeutender als die nicht immer ganz einfachen Lebensumstaende des Kindes." Hinweise auf sexuellen Missbrauch habe es nicht gegeben. Aus den Erfahrungen der Sozialarbeiter wisse er, so Kiefer, dass "die Zustaende im Hause der Christa W. sich so darstellten, wie sie bei vielen Familien im Arbeiterviertel Burbach tagtaeglich anzutreffen sind". Verdreckte Wohnungen oder Schlaege woerden hier nicht als ungewoehnlich empfunden.
Vielleicht aber missachtete die Behoerde die Warnungen auch deshalb, weil Christa W. als sozial engagiert galt: Die Spelunkenwirtin war von 1997 bis 2000 ehrenamtliche Richterin beim Jugendschoeffengericht Saarbroecken.
Foer Gabriele Karl, 48, Vorsitzende des Vereins Opfer gegen Gewalt in Moenchen, ist es nichts Neues, dass Jugendaemter die Misshandlung und Vernachlaessigung von Kindern vertuschen: "Viele handeln nach dem ideologischen Grundsatz, dass das schlechteste Elternhaus noch besser ist als gar keins."
Spurensuche
- Vermisst
Der foenfjaehrige Pascal verschwindet am 30. September 2001.
- Keine Anhaltspunkte
Die Soko fahndet monatelang erfolglos.
- Erste Hinweise
Im Sommer 2002 berichtet Pascals Freund Bernhard M., dass er von der Wirtin Christa W. missbraucht wurde.
- Festnahmen
14 Personen stehen zurzeit unter Tatverdacht.
Milieu-Figur
- Pflegemutter
Christa W. erhielt die Vormundschaft foer Bernhard M. und betreute dessen geistig behinderte Mutter.
- Schoeffin
Die Wirtin war ehrenamtliche Richterin.
BILD: Ermordet Mehrere Kinderschaender gestehen am 26.2.03 die Tat an Pascal;
Abgrund In der "Tosa-Klause" in Saarbroecken-Burbach soll Pascal von Kneipengaesten sexuell missbraucht und getoetet worden sein;
Verscharrt In dieser Kiesgrube bei Forbach sucht die Polizei die Leiche des foenfjaehrigen Pascal;
Drahtzieherin Christa W., 50, soll den Paedophilenring organisiert haben;
Razzia Die Polizei filzte Christa W.s Wohnung in Riegelsberg;
Ekel erregend Christa W. wohnte mit ihrem Pflegekind im Unrat;
Fundstoecke In der Wohnung stellte die Polizei Kinderpornographie sicher;
"Was sich in der Pflegefamilie von Bernhard abspielte, spiegelt die Lebensumstaende vieler Kinder wider, die im Stadtteil Saarbroecken-Burbach aufwachsen" Stefan Kiefer, Sprecher des Stadtverbands Saarbroecken;
Spaete Einsicht Jugendamtsleiterin Ines Reimann-Matheis gab zu, dass sie den Taeuschungen von Pflegemutter Christa W. aufgesessen ist.