„Ich wollte, dass es ihm dort besser geht“
VON CHRISTOPH PIERSCHKE, 18.12.06, 22:38h
Das Gesicht hat Michaela A. (30) ständig von den Zuschauern im Amtsgerichtssaal abgewandt. Auch wenn sie sich dem Staatsanwalt ihr gegenüber zuwendet, verdeckt ihre dunkle Haarmähne die Augen. Nur in einer längeren Prozesspause kann man sehen, dass sie sehr blass ist und verweint aussieht.
Zu anderthalb Jahren Haft auf Bewährung wegen Aussetzung ihres neugeborenen Babys wurde sie gestern vor dem Amtsgericht verurteilt. In den frühen Morgenstunden des 13. April hatte sie den Jungen, in ein Bettlaken und einen Matratzenschutz gehüllt, vor ein Wohnhaus in Höhenhaus gelegt, in dem schon Licht brannte. Der Bewohner des Hauses fand das Baby nur wenig später, weil sein Kater an der Haustür gekratzt hatte, um hinausgelassen zu werden. Zwar war der Junge stark unterkühlt, er erholte sich aber im Krankenhaus schnell. Die Schwestern nannten ihn Simon Sonnenschein, inzwischen lebt er bei Pflegeeltern.
Stockend und unter Tränen schildert Michaela A. die Geburt. Als ihre vier kleinen Kinder bereits schliefen, habe sie spät abends heftige Schmerzkrämpfe bekommen und sich in die Badewanne gelegt. Dort setzten schließlich die Wehen ein, und sie brachte den Jungen zur Welt. Sie hob ihn aus dem Wasser, klemmte die Nabelschnur mit einer Wäscheklammer ab und durchtrennte sie mit einer Nagelschere. „Ich habe nicht nachgesehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist“, jammert die 30-Jährige. Anschließend habe sie das Kind auf ein Bügelbrett gelegt und gesäubert, bevor sie es in das Laken wickelte.
In Panik verließ sie die Wohnung und irrte mit dem Bündel im Arm umher. Lange habe sie an einer Bushaltestelle gesessen und sich gefragt, was sie machen sollte. Mit der Straßenbahn fuhr sie schließlich nach Höhenhaus. „Ich habe in dem Haus Licht gesehen, ihm einen kleinen Kuss gegeben und bin weggegangen“, sagt sie stockend. „Ich wollte, dass es ihm dort besser geht als meinen anderen Kindern.“
Damals lebte Michaela A. mit ihren vier kleinen Kindern in einem Übergangshaus für Obdachlose in Mülheim. Von ihrem Mann hatte sie sich getrennt. Den Zustand der Wohnung beschreibt eine Mitarbeiterin der Diakonie, die im Auftrag des Jugendamtes Michaela A. betreute, im Zeugenstand als „katastrophal und fast schon verwahrlost“. Die Schwangerschaft habe Michaela P. trotz wiederholter Fragen nie zugegeben.
In seinem Urteil übt der Richter harte Kritik am Jugendamt. „Dieser Fall ist Anlass zu überprüfen, ob man nicht früher eingreifen muss bei Menschen, die überfordert sind, aber Hilfe nicht annehmen wollen.“ Obwohl Michaela A. die Schwangerschaft abstritt, habe das Jugendamt Kenntnis davon gehabt. „Man hätte intervenieren müssen.“
Der Angeklagten warf der Richter vor, dass sie sich jeder angebotenen Hilfe verschlossen habe. Schwer nachvollziehbar sei es, dass sie sich während der Schwangerschaft keine Gedanken über die Zukunft gemacht habe. „Sie haben ihren Säugling ausgesetzt, ein besonders hilfloses Kind, das ohne Schutz verloren ist.“
http://www.rundschau-online.de/html/artikel/1162484290231.shtml