exakt vom 07.03.2006
Schicksal Benjamin
Manuskript des Beitrages
von Knud Vetten, Karsten Scholtyschik
Benjamin war gerade zwei Jahre alt, als er nach einem unglaublichen Leidensweg starb. Verhungert im Haus der eigenen Eltern.
Am vergangenen Samstag in der Kirche von Schlagenthin in Sachsen-Anhalt. Der Pfarrer Andreas Henke hat einen Trauergottesdienst für den kleinen Benjamin angesetzt. Die Gemeinde ist schockiert über den Tod des Jungen.
O-Ton: Andreas Henke, Pfarrer von Schlagenthin
"Denn Benjamin könnte heute noch leben. Er könnte in unserer Mitte lachen und spielen, wenn er rechtzeitig Hilfe bekommen hätte."
Benjamin wurde nur zwei Jahre alt. Im August des vergangenen Jahres zogen seine Eltern in dieses Haus in Schlagenthin ein, offiziell mit fünf Kindern – doch zu diesem Zeitpunkt ist Benjamin schon tot. Dem Bürgermeister des Ortes fiel die Familie schon am Tag des Einzugs auf. Er bekam die Nachricht, vor dem Haus wird LKW-weise Müll abgeladen.
O-Ton: Horst Blasius, Bürgermeister von Schlagenthin
"Da bin ich dann hingefahren, und da sagten die Fahrer denn: also das ist noch lange nicht alles, wir bringen noch drei oder vier Wagen hierher. Also so viel Unheil und Unrat haben sie hier so hinterlassen."
Frage: "Was war das?"
"Na, alles Gelumpe, was man sich vorstellen kann. Mülltüten und Müllbehälter – nur reineweg Müll."
Vor einem Monat fällt einer Ärztin der schlechte Gesundheitszustand eines der Kinder auf, sie verständigt die Polizei, und die finden die teilweise skelettierte Leiche Benjamins in einer Plastiktonne auf dem Hof. Endpunkt eines Dramas, das eine lange Vorgeschichte hat. Spurensuche.
Die kleine Stadt Egeln – 100 Kilometer südwestlich von Schlagenthin. Hierher zieht die Familie im Frühjahr 2002 Im April 2003 wird Benjamin geboren, als viertes Kind. Die Vermieterin in Egeln ist noch immer fassungslos, in welchem Zustand sie ihr Haus nach dem Auszug der Familie nur ein Jahr später vorfand.
O-Ton: Claudia Knopp, Vermieterin in Egeln
"Es war eine einzige Müllhalde. Teppichböden naß, vollgepullert. Kot in Pappschachteln, es war eine Katastrophe! Sanitäranlagen unbenutzbar – wir mußten alles neu machen!"
Schon in Dessau, wo die Familie vorher wohnte, war das Jugendamt aufmerksam geworden, es gab Anzeigen wegen Vernachlässigung, über Monate erfolgte eine Familienbetreuung durch das Jugendamt. Doch das Sorgerecht bleibt bei den Eltern. Dann, im August 2003, taucht die Familie hier, in Stresow im Jerichower Land auf. Einer der Nachbarn, Peter Goltze, lernt die Familie kennen und merkt bald, dass etwas nicht stimmt.
O-Ton: Peter Goltze, Nachbar in Stresow
"Der optische Eindruck, wenn Sie die Haustür aufgemacht haben – als Normalbürger hätten Sie zwei Schritte zurück gemacht und gesagt – um Gottes Willen, da kann ich doch nicht reingehen. Da holst du dir doch was weg! Das war gleich der optische Eindruck – und ein Geruch kam dir entgegen: leichter Brechreiz – da gehe ich nicht rein!"
Doch die Nachbarn kümmern sich. Peter Goltze und seine Lebensgefährtin Kati Weber, die selber drei Kinder haben, nehmen Benjamin sogar zwei Wochen bei sich auf, weil dessen Eltern ganz offensichtlich völlig überfordert sind. Auffällig ist, dass Benjamin Nahrung einzig und allein aus Joghurtbechern zu sich nimmt. Anderes scheint er einfach nicht zu kennen.
O-Ton: Kati Weber und Peter Goltze
"Meine Frau hat ihn ein bißchen ausgetrickst, die Joghurtbecher leer gemacht und ein richtiges Mittagsbrot reingemacht, und dann hat er auch was reingeruppt – und das Mittagsbrot gegessen. Und da ist er auch im Laufe dieser Zeit dann richtig schön proppig geworden wieder."
"Die ersten Tage hat er ja so gegessen, nach dem Motto: jetzt mußt du mal richtig zuschlagen – wer weiß, wann es das nächste Mal was zu essen gibt! Der hat wirklich so zwei große Teller voll zu Mittag, und zum Kaffee ´nen Haufen Kuchen und was weiß ich nicht alles, und zum Abendessen, Frühstück – der hat richtig bergeweise gegessen! So nach drei, vier Tagen hat sich das gelegt, als er gemerkt hat, halt, ich kriege ja regelmäßig mein Essen, jetzt brauche ich nicht mehr so viel essen."
Doch nach zwei Wochen kommt Benjamin wieder zu seinen Eltern. Die Nachbarn sind besorgt.
"Wir haben ja auch mit dem Amt gesprochen. Und das Amt hat ja auch gesagt, sie machen was. Nur, was haben sie denn gemacht? Sie haben ein Kind sterben lassen! Das ist ganz klar gesagt."
Frage: "Was haben Sie dem Amt gesagt?"
"Dass das Amt sich drum kümmern soll, dass die Kinder rauskommen dort. Oder dafür sorgen, dass die Eltern die Wohnung hier in Schuss kriegen. Wir haben was dafür getan – ich hab´ mich hingestellt, hab` mit denen angefangen, die Wohnung zu renovieren. Bis er nicht mehr wollte. So – meine Kompetenz war da zu Ende. Vom Amt die Kompetenz, die hätte doch weiter reichen können! Oder nicht? Dafür sind sie doch da!"
Dies ist genau die Zeit, als die Nachricht vom Hungertod der kleinen Jessica in Hamburg die Republik erschüttert. Ein Mädchen, von den Eltern eingesperrt und von der Außenwelt völlig isoliert – mitten in der Großstadt. Auch in Stresow machen sich die Bürger Sorgen und holen wieder das Jugendamt vor Ort, weil sie manche Kinder wochenlang nicht gesehen haben. Doch offenbar heißt es nur: ein Grenzfall, keine Handhabe für sofortiges Einschreiten.
O-Ton: Petra Jarosch, Bürgermeisterin in Stresow
"Und da haben wir gesagt. Was heißt denn Grenzfall? Für uns ist das ein Katastrophenfall gewesen und kein Grenzfall! Und daraufhin hat er zu mir gesagt: So, können Sie mir jetzt sagen, daß eines der Kinder in Lebensgefahr ist? Dann gehen wir da rein und holen die Kinder raus. Und da hab´ ich ihm gesagt, ob er mir nicht zugehört hat. Ich habe ihm doch gerade gesagt, daß alle Leute die Kinder seit Monaten nicht gesehen haben! Wie kann ich behaupten, daß ein Kind in Lebensgefahr ist? Ja, und da war das ja gerade mit dem Fall Jessica in Hamburg, und da hat er gesagt, wir sollten nicht hinter jeder Tür, jedem Türschrank ´ne Leiche suchen."
Doch aus Sicht des Jugendamtleiters wurde getan, was möglich war: mehrfach habe das Amt die Familie aufgesucht, und mehrfach habe es beim Familiengericht in Burg beantragt, den Eltern das Sorgerecht ganz oder teilweise zu entziehen. Doch eine Entscheidung fiel dort nicht.
O-Ton: Wilfried Werner, Leiter Jugendamt Burg
"Wäre den ersten Anträgen des Jugendamtes Folge geleistet worden, und die Herausnahme der Kinder verfügt worden, würde Benjamin heute noch leben!"
Frage: "Warum hat das Gericht das nicht gemacht?"
"Es hat anscheinend die Argumente, die das Jugendamt vorgebracht hat, nicht für so gewichtig angesehen, dass es einen solchen Beschluß gefasst hat."
Frage: "Waren die Argumente ausreichend?"
"Aus unserer Sicht ja! Wir haben lediglich, um das noch einmal zu untersetzen, dieses Gutachten gefordert!"
Gegenüber "exakt" wollte sich das Gericht zum Fall Benjamin nicht äußern. Klar ist: es dauerte weitere acht Monate, bis das Gericht ein solches Gutachten wirklich in Auftrag gab. Da ist Benjamin schon tot.
O-Ton: Wilfried Werner, Leiter Jugendamt Burg
"Das Gutachten schließlich wurde erstellt und lag dem Jugendamt vor – vorher bereits dem Familiengericht, vor uns – aber Eingang im Jugendamt: 2. März 2006!"
Frage: "Das heißt, das hat über anderthalb Jahre alles gedauert?"
"So ist es."
Frage: "Kann das sein?"
"Es sollte nicht sein. Es sollte nicht sein. Dass es sein kann, zeigt leider dieses Beispiel!"
Benjamins Leben war kurz. Es spielte sich ab zwischen Kot und Urin. Hinweise, so viel ist klar, lagen den Behörden rechtzeitig vor. Doch anderthalb Jahre lang kommt es zu keiner Entscheidung. Jetzt – zwölf Monate nach Benjamins Tod kann man im Gutachten lesen: das Kind sei in der Familie nicht präsent. Es müsse den Behörden vorgeführt werden.
zuletzt aktualisiert: 07. März 2006 | 23:51
http://www.mdr.de/exakt/2593736.html
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Eltern von Benjamin vor Gericht
ERSTELLT 31.08.06, 10:19h, AKTUALISIERT 31.08.06, 15:59h
Bild: dpa
Die Angeklagte Mutter Sandra S. und ihr Anwalt Klaus-Jürgen Adamietz.
Prozessbeginn
Auf dem Grundstück dieses Hauses hatte die Polizei die Leiche des kleinen Jungen entdeckt (Archivbild).
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Druckfassung
Stendal - Die Eltern des verhungerten zweijährigen Jungen aus Schlagenthin in Sachsen-Anhalt müssen sich seit Donnerstag vor dem Landgericht Stendal verantworten. Die 27 Jahre Frau und der 28 Jahre alte Mann, die des gemeinschaftlichen Totschlags angeklagt sind, wollten sich zunächst nicht zur Sache äußern. Die stark verweste Leiche ihres an Unterernährung gestorbenen Sohnes war im Februar in einer Tonne auf ihrem Grundstück gefunden worden. Ins Rollen gebracht hatte den Fall eine Ärztin, die bei der Untersuchung eines anderthalbjährigen Bruders deutliche Symptome von Vernachlässigungs feststellte und Anzeige erstattete.
Die Staatsanwaltschaft wirft den Eltern von insgesamt sechs Kindern vor, sich ab August 2003 nicht um ihre Kinder gekümmert zu haben. Zwei andere Kinder erlitten laut Anklageschrift durch "böswillige Vernachlässigung" und aus "Eigensucht und Bequemlichkeit" erhebliche Gesundheitsschäden. Die Kinder seien mindestens ein Jahr in ihrer Entwicklung verzögert gewesen, sagte die als Zeugin geladene Kinderärztin des Kreiskrankenhauses Burg, Cornelia Hesse. Der Bruder des zweijährigen toten Kindes sei stark unterernährt gewesen. Zudem habe sie Erfrierungen bei dem Kind festgestellt.
Der Haushalt der Familie soll in einem stark verwahrlosten Zustand und durch Exkremente verunreinigt gewesen sein. Die Wohnung sei in einem "grauenvollen" Zustand gewesen, sagte eine Zeugin.
Eine andere Zeugin berichtete, dass die Familie bereits vor ihrem Umzug nach Schlagenthin in Stresow mit mehr als fünf Katzen und mehreren Hunden zusammenlebte. In den Räumen habe es "stark gerochen". Bei dem zweijährigen Jungen sei ihr aufgefallen, dass er nicht gespielt und nicht wie andere Kinder reagiert habe. Zudem habe er nur flüssige Nahrung zu sich nehmen wollen.
Mehrere Zeugen beschrieben die Familie vor Gericht als eher verschlossen. Vor allem die 27-jährige Frau habe sehr zurückgezogen gelebt und sich mehr für ihre Tiere als für ihre Kinder interessiert. Auf Kritik habe der 28-Jährige meist "wie ein kleiner Junge reagiert", sagte ein ehemaliger Nachbar vor Gericht. Durch mehrere Umzüge hätten sich bereits drei Jugendämter um die Familie gekümmert und doch sei offenbar nichts passiert.
Bei den Ermittlungen waren auch Vorwürfe gegen die Behörden laut geworden. Die Staatsanwaltschaft kam aber zu dem Ergebnis, dass es keinen Tatverdacht gegen das Jugendamt gebe. Deshalb wurde kein Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter des Amtes eröffnet.
Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt. Insgesamt sind zehn Verhandlungstage angesetzt. Das Urteil wird voraussichtlich am 25. Oktober verkündet. (ddp)
http://www.ksta.de/html/artikel/1157003629649.shtml