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Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen
Staatsterror durch staatliche Eingriffe in das Familienleben
Verletzung von Menschenrechten, Kinderrechten, Bürgerrechten durch Entscheiden und Handeln staatlicher Behörden im familienrechtlichen Bereich, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Familienhilfe unter anderem mit den Spezialgebieten Jugendamtsversagen und Jugendamtsterror
Fokus auf die innerdeutsche Situation, sowie auf Erfahrungen und Beobachtungen in Fällen internationaler Kindesentführung und grenzüberschreitender Sorgerechts- und Umgangsrechtskonflikten
Fokus auf andere Länder, andere Sitten, andere Situtationen
Fokus auf internationale Vergleiche bei Kompetenzen und Funktionalitäten von juristischen, sozialen und administrativen Behörden

"Spurensuche nach Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen"
ist ein in assoziiertes Projekt zur
angewandten Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung
"Systemkritik: Deutsche Justizverbrechen"
http://www.systemkritik.de/

 
Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung

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Gast
New PostErstellt: 30.04.07, 09:31  Betreff: Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung  drucken  weiterempfehlen Antwort mit Zitat  

FPR 2007 Heft 1-2 6-11

Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung*

Ministerialrat Professor Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner, Berlin

Dramatische Fälle von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung lenken den Blick auf die Arbeitsweise der staatlichen Kinderschutzinstanzen, allen voran auf das Jugendamt. Sein - im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) - formulierter Auftrag ist komplex und umfasst sowohl die Prävention durch Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern als auch die Intervention bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung. Dabei wird erwartet, dass das Jugendamt einerseits das Kind möglichst umfassend schützt, anderseits in die Erziehungsaufgaben der Eltern nur dann und soweit eingreift, wenn bzw. wie es zur Abwendung der Gefährdung notwendig ist. Diese juristische Sichtweise impliziert Erwartungen an die Erkenntnis und Bewertung von Vorgängen, die in dieser Eindeutigkeit nicht einlösbar sind. Dreh- und Angelpunkt der fachlichen Verantwortung sind dabei eine qualifizierte Gefährdungseinschätzung und darauf basierend die Entwicklung und Umsetzung eines auf die individuelle Gefährdungssituation zugeschnittenen Kinderschutzkonzepts sowie dessen kontinuierliche Überprüfung. Im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) hat der Gesetzgeber mit Wirkung vom 1. 10. 2005 den so genannten Schutzauftrag des Jugendamtes im SGB VIII strukturiert und konkretisiert und dabei auch die Einrichtungen und Dienste, die Leistungen erbringen, in den Schutzauftrag einbezogen. Die eigentliche Herausforderung besteht in der praktischen Umsetzung, die nicht nur eine hohe fachliche Kompetenz in den einzelnen Feldern der Jugendhilfe, sondern auch personelle und organisatorische Voraussetzungen in den Ämtern sowie die Kooperation von Jugendämtern und Familiengerichten erfordert.

I. Komplexer Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe

1. Verfassungsrechtliche Vorgaben

Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es, die Entwicklung junger Menschen zu fördern und sie zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu erziehen (§ 1 I SGB VIII). Da nach Art. 6 II 1 GG die Eltern die primäre Erziehungsverantwortung tragen, verwirklicht die Kinder- und Jugendhilfe dieses Ziel in erster Linie dadurch, dass sie die elterliche Erziehungsverantwortung stärkt, unterstützt und ergänzt. Andererseits hat der Staat nach Art. 6 II 2 GG auch die Aufgabe, über die Wahrnehmung der elterlichen Erziehungsverantwortung zu wachen und Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Ist das Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährdet und sind Eltern nicht bereit oder in der Lage, zur Abwendung der Gefährdung geeignete und notwendige Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen, so werden die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen nach Maßgabe einer Entscheidung des Familiengerichts, in akuten Notfällen auch unmittelbar durch das Jugendamt oder eine beauftragte Stelle, getroffen. Durch diesen Schutzauftrag gegenüber Kindern und Jugendlichen1, der primär von und mit den Eltern, im Einzelfall aber im Interesse des Kindes oder Jugendlichen auch von Amts wegen ohne Einverständnis der Eltern erfüllt werden muss, unterscheidet sich die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe von allen anderen Sozialleistungsträgern nach dem Sozialgesetzbuch.

Die Kinder- und Jugendhilfe hat deshalb einen komplexen Auftrag, der auf das Wohl von Kindern und Jugendlichen zielt, im Hinblick auf die elterliche Erziehungsverantwortung und die Interaktivität und Prozesshaftigkeit von Erziehung aber auf das Eltern-Kind-System gerichtet ist. Das SGB VIII sieht zur Erfüllung dieses Auftrags ein breites Spektrum von Hilfen vor. Die Ausrichtung der Hilfe im Einzelfall hängt von der Art und Intensität der „Störung des Erziehungsprozesses“ einerseits und der Erziehungsfähigkeit und den Ressourcen der Eltern andererseits ab.

Kinder- und Jugendhilfe soll, wie dies in § 1 III SGB VIII formuliert wird,

-

junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
-

Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen sowie
-

dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.

Mitunter wird in der öffentlichen Diskussion beklagt, staatliche Institutionen stellten bei der Wahl der Mittel zum Kindesschutz das Elternrecht vor das Kindesrecht. Diese Sichtweise verkennt, dass unsere Verfassung Elternrecht und Kindesrecht nicht als Antagonismen begreift, die gegeneinander gerichtet sind und zum Ausgleich gebracht werden müssten. Vielmehr gilt die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts in erster Linie dem Schutz des Kindes. Elternrecht ist deshalb primär Recht im Interesse und zum Wohl des Kindes. Insoweit findet die Elternverantwortung Grund wie Grenze im Kindeswohl2. Nur soweit Eltern ihre Befugnisse zum Wohl des Kindes ausüben, handeln sie im Rahmen ihrer Elternverantwortung und können sich auf den Grundrechtsschutz von Art. 6 II 1 GG berufen. Staatliche Aufgabe ist es daher, im Rahmen des Kinderschutzes die Grenzen des Elternrechts generell herauszuarbeiten und individuell zielorientiert zu setzen.

Auch das Verhältnis zwischen Elternrecht und staatlichem Wächteramt bedarf immer wieder der Klarstellung. Eltern und Staat konkurrieren nach unserem Verfassungsverständnis nicht miteinander um die jeweils bessere Erziehung, sondern die Eltern genießen zunächst einen weiten Spielraum hinsichtlich der Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrags und können dabei auch öffentliche Hilfen in Anspruch nehmen. Diesem Auftrag ist das staatliche Wächteramt zu- und nachgeordnet3. Eine Legitimation des Staates, im Rahmen seines Wächteramtes rechtsverbindliche Entscheidungen im Hinblick auf die Ausübung des Elternrechts zu treffen (in die elterliche Erziehungsverantwortung „einzugreifen“), setzt die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung voraus. Aufgabe des Staates ist es also nicht, eine optimale Erziehung des Kindes sicherzustellen, sondern es vor Gefahren für sein Wohl zu bewahren4.

2. Konsequenzen für die Mittelwahl

Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben wird deutlich, dass die Entscheidung über die jeweils einzusetzenden Mittel zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl nicht im Ermessen des Jugendamtes liegt, sondern sich an verschiedenen formellen und materiellen Vorgaben zu orientieren hat. Hinzu kommt, dass das Jugendamt selbst gar nicht die Verfügungsbefugnis über alle Reaktionsformen hat, sondern für rechtsverbindliche Maßnahmen gegenüber den Eltern seinen Schutzauftrag an das Familiengericht weiterreichen muss5.

Im Mittelpunkt der Erwägungen stehen dabei die Erforderlichkeit der Maßnahme im Hinblick auf das Kindeswohl bzw. den effektiven Kindesschutz und die Intensität der Maßnahme im Hinblick auf die Rechtsstellung der Eltern. Obwohl das BVerfG einerseits schon frühzeitig betont hat, dass sich Eltern, die das Kindeswohl gefährden, nicht auf ihr Elternrecht berufen können, da sie gewissermaßen außerhalb des Schutzbereichs agieren6, werden dem staatlichen Handeln dann doch über das so genannte Übermaßverbot enge Grenzen gezogen: Wächteramtsmaßnahmen müssen sich auf das „Interventionsminimum“ beschränken. Berücksichtigt man dann noch die Architektur des § 1666 BGB, der als „Eingriffsnorm“ in das Elternrecht formuliert worden ist und durch die Anfügung des § 1666a BGB noch weiter aufgeladen worden ist, so wird nachvollziehbar, warum viele Familiengerichte - gestützt auf die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte - in ihrer Spruchpraxis den Eingriff in das Elternrecht und nicht den Schutz des Kindes in den Mittelpunkt ihrer Erwägungen stellen7 und auf diese Weise der (falsche) Eindruck entstehen muss, Elternrecht gehe vor Kindesrecht. Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch der pauschale Verweis auf den Vorrang von Hilfen vor staatlichen Eingriffen8 (in die elterliche Sorge bzw. das Umgangsrecht). Er lenkt vorschnell von der entscheidenden Frage ab, welches Mittel geeignet und notwendig ist, um das Kind effektiv vor einer weiteren Gefährdung zu schützen. Der Schutzauftrag des Staates impliziert nämlich auch ein Untermaßverbot im Hinblick auf die zum Schutz des Kindes zu ergreifenden Maßnahmen. Erst wenn sich hier verschiedene geeignete Alternativen bieten, kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel - und damit der Vorrang von Hilfen vor staatlichen Eingriffen - zur Anwendung.

Welche Maßnahme im Einzelfall zur Abwehr einer Gefährdung des Kindeswohls geboten ist, kann zudem nicht vom finanziellen Aufwand, sondern nur von der Erreichung des Schutzzweckes her bestimmt werden. Dies bedeutet, dass im Einzelfall durchaus die Trennung des Kindes oder Jugendlichen von seinen Eltern und seine Unterbringung im Heim zum Schutze des Kindes oder Jugendlichen geboten sein kann, ohne dass vorab ambulante, familienunterstützende Hilfen „ausprobiert“ worden sind. Der Sparzwang vieler Kommunen, aber auch tradierte Vorbehalte gegenüber der Heimerziehung setzen dieses Gebot immer wieder faktisch außer Kraft.

II. Kinderschutz als Aufgabe von Jugendamt und Familiengericht

1. Unterschiedliche Aufträge

Während die Jugendämter für die Gewährung personenbezogener sozialer Dienstleistungen gegenüber den Personensorgeberechtigten (in der Regel den Eltern) und ihren Kindern zuständig sind, und die Hilfen selbst zu weiten Teilen in Kooperation mit freien Trägern erbracht werden, obliegen den Familiengerichten Entscheidungen, die die elterliche Sorge berühren. Solange also die Eltern bereit sind, an der Abwendung einer festgestellten Gefährdung des Kindeswohls mitzuwirken, sind Jugendämter nicht auf die Unterstützung durch das Familiengericht angewiesen.

Bedarf es aber zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung (wegen der mangelnden Fähigkeit oder Bereitschaft der Eltern zur Gefahrenabwehr) einer verbindlichen Einflussnahme auf die elterliche Erziehungsverantwortung (§§ 1666, 1666a BGB), so kann das Jugendamt sein fachlich für notwendig erachtetes Schutzkonzept nur realisieren, wenn das Familiengericht „mitspielt“. Das Familiengericht kontrolliert dabei nicht die Arbeit des Jugendamtes, ebenso wenig ist es der Büttel des Jugendamtes, sondern es trifft auf der Grundlage seiner Ermittlungspflicht (§ 12 FGG) eine eigenständige zukunftsgerichtete Entscheidung zum Schutz des Kindes. Dabei beurteilt es, ob zur Gefahrenabwehr sorgerechtliche Maßnahmen notwendig sind, die wiederum die Voraussetzung dafür bilden, dass das Jugendamt dem Kind oder Jugendlichen die fachlich geeignete und notwendige Hilfe leisten kann. Damit entscheidet das Familiengericht nicht über die zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung nach fachlicher Erkenntnis notwendige Hilfe, sondern schafft die (sorgerechtliche) Grundlage dafür, dass entweder die Eltern zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen verpflichtet werden oder aber andere Personen an Stelle der Eltern (Vormund, Pfleger) in die Lage versetzt werden, die geeigneten und notwendigen Hilfen für das Kind oder den Jugendlichen in Anspruch zu nehmen. Damit das Gericht in der Lage ist, die Grenze für die Betätigung der elterlichen Sorge richtig zu setzen, bedarf es einer engen Abstimmung mit dem vom Jugendamt vorgesehenen Hilfekonzept, wie es sich regelmäßig aus dem Hilfeplan ergibt9.

Zur Erfüllung des Schutzauftrags haben also Jugendamt und Gericht unterschiedliche Aufträge. Damit die Aufgabenteilung zwischen Jugendamt und Familiengericht nicht zur „Blockade“ wird und damit den gebotenen effektiven Kindesschutz vereitelt - etwa, weil das Gericht einen Antrag des Jugendamtes ablehnt10 und die Eltern sich dadurch in ihrer unkooperativen Haltung bestätigt fühlen -, bedarf es einer Kooperation im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft, bei der das sozialpädagogische Potenzial des Jugendamtes mit der Autorität des Familiengerichts verzahnt wird11.

2. Spektrum familiengerichtlicher Maßnahmen

Das Spektrum familiengerichtlicher Maßnahmen wird gesetzlich nicht näher definiert. Es reicht von Ge- und Verboten an die Eltern bis zum (teilweisen) Entzug der elterlichen Sorge. Typisch für die gerichtliche Praxis ist der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und dessen Übertragung auf eine andere Person (Vormund, Pfleger), die aber in der Regel nicht ausreichen, um etwa den Aufenthalt des Kindes außerhalb des Elternhauses abzusichern12.

Im Rahmen der beabsichtigten Reform des Familienverfahrensrechts wird diskutiert, den Maßnahmenkatalog zu konkretisieren, um die Richter zur Ausschöpfung des Handlungspotenzials anzuregen. Die Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“, die auf der Grundlage des Koalitionsvertrags vom 11. 11. 2005 von der Bundesministerin der Justiz eingesetzt worden war, hat dazu in ihrem Bericht vom 17. 11. 2006 vorgeschlagen, in § 1666 BGB folgenden neuen Abs. 2a einzufügen:

„(2a) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Abs. 1 gehören insbesondere

1. Gebote, öffentliche Hilfen, wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge, anzunehmen,

2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,

3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,

4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,

5. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.“

3. Aufgabe von Vormund und Pfleger

Ist bereits vor dem Bekanntwerden von Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung eine andere Person, ein Verein oder das Jugendamt zum Vormund oder Pfleger für die Personensorge bestellt worden, so agiert sie/er/es insoweit an Stelle der Eltern und ist für das Wohl des Kindes verantwortlich. Da das Kind oder der Jugendliche in der Regel nicht beim Vormund oder Pfleger im eigenen Haushalt lebt, sondern (ausnahmsweise) bei nicht sorgeberechtigten Eltern, in der Regel an einem dritten Ort, nämlich in einer Pflegestelle oder einer Einrichtung, hat der Vormund oder Pfleger regelmäßigen Kontakt zum Mündel zu halten und zu prüfen, ob das Kind oder der Jugendliche unter förderlichen Bedingungen aufwächst13. Gegebenenfalls hat er den Aufenthaltsort des Kindes zu ändern. Da er für die Entwicklung des Kindes verantwortlich ist, hat er gegebenenfalls Leistungen des Jugendamtes in Anspruch zu nehmen und gegebenenfalls gerichtlich einzuklagen14. Erhält das Jugendamt Informationen über Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung, so ist der Vormund oder Pfleger unverzüglich zu informieren, damit er die notwendigen sorgerechtlichen Entscheidungen treffen kann.

III. Gefährdungseinschätzung als Ausgangspunkt für die Mittelwahl (§ 8a I SGB VIII)

1. Informationsgewinnung und Gefährdungseinschätzung als Aufgabe des Jugendamtes

Vor der Entscheidung über die zu treffenden Schutzmaßnahmen fordert das Gesetz eine Gefährdungseinschätzung, falls Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bekannt sind. Das Gesetz spricht insoweit von der „Abschätzung des Gefährdungsrisikos“. Hinter diesem Terminus steckt indes nicht ein einmaliger Vorgang, sondern ein Klärungsprozess, der - beginnend mit ersten Informationen über weitere Recherchen, das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte und die Beteiligung der Eltern und des Kindes oder Jugendlichen - schließlich in die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfe für das Kind mündet.

Will das Jugendamt seiner Aufgabe im Rahmen des Wächteramtes nachkommen, das Kindeswohl effektiv zu schützen, so bedarf es zunächst einschlägiger Informationen. Im demokratischen Rechtsstaat gibt es aber keinen Generalverdacht gegen Eltern und deshalb keine vorbeugende Überwachung nach dem Muster einer Röntgenreihenuntersuchung. Auslösende Momente für eine Initiative des Jugendamtes werden daher in aller Regel Informationen Dritter (Nachbarn, Kindergärten usw.) sein. Diese zum Teil auch anonymen Informationen werden aber häufig so vage und so unspezifisch sein (anders als die Befunde bei einer Röntgenuntersuchung), dass weitere Erkenntnisse notwendig sind, um abschätzen zu können, ob es sich um eine Kindeswohlgefährdung handelt.

Die geforderte Gefährdungseinschätzung (Risikoeinschätzung) gestaltet sich in der Praxis deshalb besonders schwierig, weil weder der Maßstab (Kindeswohlgefährdung) objektiv eindeutig bestimmt wird15 noch die zu bewertende Situation objektiv eindeutig festzustellen ist, sondern eine jeweilige komplexe und begrenzt zugängliche Situation einzuschätzen, zu bewerten und im Hinblick auf die künftige Entwicklung zu prognostizieren ist16. Andererseits hat das Ergebnis der Einschätzung unter Umständen gravierende Folgen für Leben und Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen. Schließlich steht das Jugendamt auch im Blickpunkt der Öffentlichkeit und der Medien: Es wird genauso getadelt, wenn es ohne zureichenden Grund ein Kind von seinen Eltern wegnimmt, wie es getadelt wird, wenn es Hinweisen nicht nachgeht oder das Gefährdungsrisiko falsch einschätzt17. Im Hinblick auf die Komplexität der Aufgabe werden die Jugendämter verpflichtet, das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen (§ 8a I 1 SGB VIII). Die kollegiale Beratung soll die Qualität der Entscheidungsfindung verbessern, für die Entscheidung selbst bleibt die zuständige Fachkraft verantwortlich.

2. Mitwirkung der Personensorgeberechtigten und der Kinder und Jugendlichen (§ 8a I 2 SGB VIII)

Im Rahmen ihrer elterlichen Erziehungsverantwortung haben die Eltern die Pflicht, an der „Aufklärung“ der Situation mitzuwirken. Sie können nicht - wie Beschuldigte im Strafverfahren - die Aussage bzw. Mitwirkung verweigern. Es gehört vielmehr zu ihrer Erziehungsverantwortung, Gefährdungssignalen nachzugehen und gegegebenenfalls fachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies gilt nach unserem Verfassungsverständnis auch dann, wenn sie das Kind selbst in eine Gefährdungssituation gebracht haben18. Gleichzeitig bedarf es auf der Seite der Fachkräfte einer sachlichen, vorwurfsfreien Haltung den Eltern gegenüber. Schließlich soll Kinderschutz - wo immer möglich - in Kooperation mit den Eltern erfolgen. Gelingt es nämlich nicht, eine vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern aufzubauen, so wird in aller Regel auch der Hilfezugang zum Kind erschwert.

Allerdings gibt es auch Situationen, in denen es besser ist, auf eine Beteiligung der Eltern zu verzichten, weil sie möglicherweise Hinweise auf ihr Verhalten unterdrücken oder das Jugendamt täuschen wollen oder durch ihre Beteiligung das Gefährdungsrisiko für das Kind oder den Jugendlichen noch vergrößert wird. Schließlich kann es im akuten Gefahrenfall auch aus Zeitgründen notwendig sein, die Risikoeinschätzung ohne die Eltern vorzunehmen. Sie sind dann gegebenenfalls zum nächstmöglichen Zeitpunkt - zum Beispiel nach der Inobhutnahme - einzubeziehen. Entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand ist auch das Kind oder der Jugendliche an der Risikoabschätzung zu beteiligen. Dabei ist im Einzelfall abzuwägen zwischen der Belastung oder gar weiteren Gefährdung für das Kind und dem zu erwartenden Informationsgewinn. Von der Einbeziehung der Eltern bzw. des Kindes oder Jugendlichen ist deshalb abzusehen, wenn der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen dadurch in Frage gestellt würde.

Demgemäß sind Daten grundsätzlich bei den betroffenen Personen, also den Eltern und dem Kind oder Jugendlichen zu erheben. Bei dauerhaftem Scheitern einer Kontaktaufnahme oder bei besonderer Gefährdungslage dürfen Daten auch bei dritten Personen (Erzieherin im Kindergarten, Lehrer, Nachbarn) erhoben werden (§ 62 II, III SGB VIII).

3. Gefährdungseinschätzung als Aufgabe der Leistungserbringer (§ 8a II SGB VIII)

Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung ergeben sich häufig auch im Zusammenhang mit der Leistungserbringung in Einrichtungen und Diensten, zum Beispiel in Tageseinrichtungen für Kinder. Diese werden aber überwiegend von nicht öffentlichen (privaten) Trägern betrieben. Ein effektiver Kindesschutz kann deshalb nicht auf das Jugendamt und seine Dienste beschränkt bleiben. Andererseits kann der Gesetzgeber nicht ohne weiteres Einrichtungen und Dienste freier Träger zur Risikoeinschätzung und Wahrnehmung des Schutzauftrags verpflichten. Deshalb wird das Jugendamt zu vertraglichen Regelungen mit den Leistungserbringern verpflichtet, in denen die Übernahme von Schutzpflichten durch die Leistungserbringer vereinbart wird19. So müssen sich die Träger von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen, dazu verpflichten lassen, den Schutzauftrag in eigener Verantwortung wahrzunehmen und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine „insoweit erfahrene Fachkraft“ hinzuzuziehen. Je nach dem Profil der Einrichtung oder des Dienstes bzw. der Angebotsstruktur des jeweiligen Trägers werden solche Fachkräfte entweder intern oder durch Vereinbarung extern hinzugezogen werden müssen. In der Praxis werden Maßnahmen der Weiterbildung zur erfahrenen Fachkraft nach § 8a II SGB VIII angeboten, dabei wird auch ein Anforderungsprofil entwickelt.

Bei der vertraglichen Ausgestaltung der Wahrnehmung des Schutzauftrags wird - anknüpfend an das Aufgabenprofil der jeweiligen Einrichtung bzw. des Dienstes - auf das Alter der betreuten Kinder und Jugendlichen und das generelle Gefährdungsrisiko abzustellen sein20. Angestrebt wird zunächst eine Risikoabklärung in der Einrichtung unter Hinzuziehung spezifischer Kompetenz in der Kinderschutzarbeit. Eine Information des Jugendamtes soll nach der Konzeption der Vorschrift erst dann erfolgen, wenn die Eltern nicht bereit sind, Hilfe anzunehmen oder eine bereits geleistete Hilfe nicht ausreicht. Damit verpflichtet das Gesetz zu einer Risikoabklärung in eigener Verantwortung der Einrichtung bzw. des Dienstes (zusammen mit Eltern und Kind) und erteilt einem „Meldesystem“ eine Absage. Die Fachkräfte sind entsprechend dem Ergebnis ihrer Risikoabschätzung gefordert, die Eltern über ihre Erkenntnisse zu informieren und sie für die Inanspruchnahme von Hilfe zu gewinnen. Erst wenn diese Versuche scheitern, wenn also Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, notwendig erscheinende Hilfen in der Einrichtung bzw. von dem Dienst anzunehmen bzw. sich an das Jugendamt zu wenden, wird die Einrichtung bzw. der Dienst verpflichtet, das Jugendamt zu informieren.

Zwar verlangt § 61 III SGB VIII vom Jugendamt, den Schutz personenbezogener Daten und damit auch Erhebungs- und Weitergabebefugnisse bei Leistungserbringern „in entsprechender Weise“ sicherzustellen. Dennoch wird von Leistungserbringern nicht gefordert werden können, im Kontext von Kindeswohlgefährdungen auch ohne Kenntnis der betroffenen Personen Daten bei Dritten zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos zu erheben, wozu das Jugendamt selbst nach § 62 III SGB VIII befugt und gegebenenfalls auch verpflichtet ist. Damit würde der Gedanke der eigenverantwortlichen Risikoeinschätzung überdehnt und der strukturelle Unterschied von Jugendamt und Leistungserbringer verkannt21.

4. Fachliche Anforderungen

Mit der Einführung des § 8a SGB VIII intendiert der Gesetzgeber eine qualitative Steuerung der Kinderschutzarbeit über Verfahren und entsprechende Verfahrensstandards, deren inhaltliche Ausgestaltung auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse dem fachlichen Diskurs vorbehalten bleibt. So wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass sich hinter dem Begriff „Einschätzung des Gefährdungsrisikos“ nicht nur eine Sequenz fachlicher Einschätzungen im Fallverlauf, sondern auch unterschiedliche Einschätzaufgaben verbergen. So werden - unter Bezugnahme auf die internationale Fachdiskussion - eine „erste Gefährdungseinschätzung“ nach Entgegennahme einer Gefährdungsmeldung oder eine „Sicherheitseinschätzung“ bei fehlgeschlagenem Kontaktversuch thematisiert22. Für die Auswahl geeigneter und erforderlicher Hilfen bzw. Schutzmaßnahmen werden schließlich spezifische Einschätzungsaufgaben identifiziert, die die globale Beschreibung einer Gefährdungslage vertiefen, wie etwa die zukunftsorientierte Einschätzung des Risikos wiederholter Misshandlung bzw. Vernachlässigung in einem mittelfristigen Zeitraum. Für die Entscheidung über die zu ergreifenden Maßnahmen ist die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit der Eltern von erheblicher Bedeutung.

Für diese und andere Einschätzungsaufgaben sind inzwischen Empfehlungen für die Praxis im Allgemeinen Sozialdienst der Jugendämter (ASD) entwickelt worden23. Für die Anforderungen an Fachkräfte im Bereich der leistungserbringenden Einrichtungen und Dienste (freier Träger), die erstmals nach In-Kraft-Treten des § 8a SGB VIII mit Aufgaben der Gefährdungseinschätzung konfrontiert sind, existieren erste Hinweise auf zu erwartende Einschätzungsaufgaben24.

Für das Erkennen und Einschätzen der Situation akuter Kindeswohlgefährdung und die prognostische Bewertung der Situation mit der entsprechenden Abwägung von Handlungsoptionen existieren inzwischen auch verschiedene Beobachtungskataloge (z.B. Stuttgarter Kinderschutzbogen, Risikoeinschätzungsverfahren des Kinderschutzzentrums Berlin). Eine stärkere Strukturierung und Standardisierung von Einschätzungen in Fällen einer möglichen Kindeswohlgefährdung kann aber nur dann über zielgenauere Hilfen zu einem verbesserten Kinderschutz beitragen, wenn die dort verwendeten Kriterien aussagekräftig sind und die Verfahren nicht zu zeitaufwändig sind. Deshalb müssen solche Verfahren auch bestimmten Qualitätsanforderungen genügen25.

Zu den fachlichen Standards bei der Gefährdungseinschätzung zählt auch eine nachvollziehbare Dokumentation der Verfahrensabläufe, um die eigene Arbeit bewerten und kontrollieren zu können, aber auch um Vorgesetzten und im Falle gerichtlicher Auseinandersetzungen das Handeln Dritten gegenüber plausibel machen zu können.

Örtlich, regional und bundesweit sind inzwischen auch Verfahrensstandards für die Abläufe in den Jugendämtern nach dem Eingang von Meldungen über eine Kindeswohlgefährdung entwickelt worden (z.B. Empfehlungen des Deutschen Städtetages)26. Die verpflichtende Gefährdungsabschätzung im Fachteam macht auch organisatorische Vorkehrungen in den Jugendämtern erforderlich. Für sie ist in der Ablauf- und Aufbauorganisation Zeit und Raum einzuräumen. Je nach Anhaltspunkten und individuellem Gefährdungsrisiko gilt es, in der institutionalisierten kollegialen Beratung die benötigte Expertise vorzuhalten. Wenn für die Risikoeinschätzung die Expertise beispielsweise von Ärzten, Psychologen, Polizeibeamten oder anderen speziell qualifizierten Fachkräften erforderlich erscheint, hat die zuständige Stelle auch diesen Einbezug Externer in die kollegiale Beratung sicherzustellen. Dies kann in Form einer allgemeinen Beteiligung an der Fachteamberatung erfolgen oder im Wege einer Supervision.

Ein grundsätzliches Problem bleibt die Überbelastung der einzelnen Fachkräfte im Jugendamt. Durch kontinuierlichen Stellenabbau sind vielerorts die Fallzahlen pro Fachkraft soweit gestiegen, dass die gebotene „Betreuungsdichte“ nicht gewährleistet ist. Politische Versprechungen im Zusammenhang mit spektakulären Einzelfällen von Kindesvernachlässigung haben zudem ein schnelles Verfallsdatum. Damit stehen dem gesetzlich vorgegebenen Handlungsprogramm ernsthafte Risiken für die Umsetzung in der Praxis gegenüber.

IV. Die einzelnen Reaktionsformen des Jugendamtes

1. Unterschiedliche Voraussetzungen von Hilfe und sorgerechtlichem Eingriff

Hilfe zur Erziehung als Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach § 27 SGB VIII unterscheidet sich nicht nur strukturell von sorgerechtlichen Maßnahmen der Familiengerichte nach §§ 1666, 1666a BGB, sondern auch im Hinblick auf die auslösenden Tatbestände. Der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) knüpft an ein geringeres Entwicklungsrisiko an, als der Eingriff des Familiengerichts in die elterliche Sorge nach §§ 1666, 1666a BGB. Im ersten Fall wird vorausgesetzt, dass „eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet“ ist, im zweiten, dass das Kindeswohl gefährdet ist.

Bereits vom Wortlaut her setzt sich § 27 SGB VIII von der Schwelle der Kindeswohlgefährdung, die § 1666 BGB aufbaut, ab. Aber auch die Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Vorschrift unterstützen diese Auslegung. Der Gesetzgeber des KJHG wollte damit bewusst eine die Eltern unterstützende Hilfe - in ambulanter, teilstationärer oder stationärer Form - früher einsetzen lassen als den sorgerechtlichen Eingriff. Der abstrakte Vorrang von Leistungen vor Eingriffen wird damit durch die normative Ausgestaltung des § 27 SGB VIII zusätzlich unterstrichen. Eine Praxis in einzelnen Jugendämtern, Hilfe zur Erziehung erst bzw. nur zu gewähren, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls festgestellt wird, ist daher rechtswidrig.

2. Hilfeangebot an die Eltern (§ 8a I 3 SGB VIII)

Diese Alternative ist im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz jeweils zuerst zu prüfen. Ihre tatsächliche Realisierung setzt aber die Eignung und Wirksamkeit zur Abwehr der festgestellten Gefährdung voraus. Die Art der anzubietenden Hilfe wird nicht näher definiert. Je nach Art und Intensität der Gefährdung werden in erster Linie Hilfen zur Erziehung nach §§ 27ff. SGB VIII und die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Betracht kommen. Sie sind dem Personensorgeberechtigten (§ 7 I Nr. 5 SGB VIII), also in der Regel den Eltern, oder dem Erziehungsberechtigten (§ 7 I Nr. 6 SGB VIII) anzubieten. Entgegen der Formulierung besteht insoweit kein Ermessen. Im Hinblick auf die Rechtsstellung des Personensorgeberechtigten ist die Hilfe vorrangig ihm anzubieten bzw. dem Erziehungsberechtigten (z.B. den Pflegeltern) in Absprache mit dem Personensorgeberechtigten. Denn die Leistungen, auf die die Personensorgeberechtigten Anspruch haben, können Erziehungsberechtigte nur in Anspruch nehmen, wenn sie dazu von den Personensorgeberechtigten ermächtigt worden sind.

3. Anrufung des Familiengerichts (§ 8a III 1 SGB VIII)

Voraussetzung für die Anrufungspflicht ist die Einschätzung, dass das Tätigwerden des Familiengerichts zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung erforderlich ist. Im Rahmen der Risikoeinschätzung muss also nicht nur eine Kindeswohlgefährdung nachvollziehbar festgestellt werden. Hinzukommen muss die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft der Eltern an ihrer Abwendung mitzuwirken (S. 1 Halbs. 2). Im Rahmen des KICK hat der Gesetzgeber die Anrufungsmöglichkeiten erweitert. Nunmehr hat das Jugendamt das Gericht bereits in der Phase der Risikoabschätzung anzurufen, wenn mit Hilfe gerichtlicher Autorität eine Beteiligung der Eltern erwartet werden kann (S. 1 Halbs. 2). Voraussetzung ist jeweils, dass das Jugendamt eine Einschaltung des Gerichts für erforderlich hält. Insoweit steht ihm ein Beurteilungsspielraum zu27.

Das Familiengericht hat das Jugendamt im Verfahren anzuhören (§ 49a I Nr. 8 FGG). Das Jugendamt hat ein Beschwerderecht, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung das Wohl des Kindes nach seiner Auffassung nicht hinreichend berücksichtigt hat (§ 57 I Nr. 9 FGG).

4. Inobhutnahme des Kindes oder Jugendlichen (§ 8a III 2 SGB VIII)

Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. Mit dieser Formulierung verweist die Vorschrift auf die Inobhutnahme, deren Voraussetzungen und Rechtsfolgen in § 42 SGB VIII geregelt sind. Ein etwaiger Widerspruch der Eltern (§ 42 I 1 Nr. 2 lit. b SGB VIII) ist dabei unbeachtlich, da Satz 2 ohnehin voraussetzt, dass das Gericht angerufen worden ist, seine Entscheidung aber nicht abgewartet werden kann. Da das Gericht auch eine vorläufige Entscheidung treffen kann und in der Regel Bereitschaftsdienste eingerichtet sind, wird eine Inobhutnahme nur in besonders akuten Gefährdungssituationen in Betracht kommen.

5. Einschaltung anderer Institutionen (§ 8a IV SGB VIII)

Effektiver Kindesschutz kann nicht immer mit den rechtlichen Befugnissen und den fachlichen Kompetenzen der Jugendhilfe erreicht werden. Deshalb wird das Jugendamt in solchen Fällen verpflichtet, die Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme anderer Einrichtungen und Dienste (z.B. andere Sozialleistungsträger, Einrichtungen der Gesundheitshilfe, Polizei) hinzuweisen oder bei Gefahr im Verzug diese Einrichtungen selbst einzuschalten. Das Jugendamt hat - außerhalb des Bereichs der Kapitalverbrechen nach § 138 StGB - keine Anzeigepflicht gegenüber den Strafverfolgungsbehörden.

V. Nächster Schritt: eine verbesserte Prävention

Die Wahrnehmung des Schutzauftrags ist eine Herausforderung für Jugendämter, Träger von Einrichtungen und Diensten sowie für die Familiengerichte. Die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben stellt nicht nur hohe Anforderungen an die fachliche Kompetenz der handelnden Personen, sie erfordert auch eine verbesserte personelle und finanzielle Ausstattung der Dienste und Einrichtungen. Dabei darf nicht aus dem Blick geraten, dass der staatlichen Intervention häufig bereits jahrelange Entwicklungsprozesse vorausgehen, die schließlich in eine Kindeswohlgefährdung münden. Die staatliche Mitverantwortung für das Aufwachsen von Kindern muss sich deshalb stärker der Prävention zuwenden. Hilfen müssen frühzeitig ansetzen, damit Gefährdungsrisiken rechtzeitig erkannt werden und Schädigungen gar nicht erst entstehen (Prävention), und sie müssen bereits im frühen Lebensalter (ggf. bereits während der Schwangerschaft) einsetzen, weil Säuglinge und Kleinkinder einerseits besonders verletzlich sind und weil andererseits damit die Chance besteht, Entwicklungen von Anfang an günstig zu beeinflussen und Entwicklungsrisiken sich nicht erst verfestigen. Diesem Ziel dienen verschiedene Modelle früher Hilfen, wie sie in einer Verknüpfung von Gesundheits- und Jugendhilfe an verschiedenen Standorten erprobt werden. Sie müssen nach einer vergleichenden Evaluation in das Regelsystem überführt und verstetigt werden. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass auf diese Weise nicht nur vielen Kindern bessere Entwicklungschancen eröffnet werden, sondern die dafür eingesetzten Mittel nur einen Bruchteil dessen betragen, was anderenfalls aus öffentlichen Mitteln für die Integration oder Rehabilitation gefährdeter junger Menschen aufgebracht werden muss.

*Der Autor ist Leiter des Referats Kinder- und Jugendhilfe im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin.

1S. dazu Langenfeld/Wiesner, Verfassungsrechtlicher Rahmen für die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdungen und seine einfach-rechtliche Ausfüllung, in: Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF), Verantwortlich handeln - Schutz und Hilfe bei Kindeswohlgefährdung, 2004, S. 45ff.

2S. dazu im Einzelnen Jestaedt, in: Dolzer, Bonner Komm. z. GG, Art. 6 II, III, 1995, Rdnrn. 37ff.; Böckenförde, Elternrecht - Recht des Kindes - Recht des Staates, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, 1980 S. 54ff.

3Vgl. Jestaedt, in: Dolzer (o. Fußn. 2), Rdnr. 177.

4Vgl. Jestaedt, in: Dolzer (o. Fußn. 2), Rdnr. 202.

5Zu den Implikationen dieser Kooperation s. Münder/Mutke/Schone, Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz, Professionelles Handeln in Kindeswohlverfahren, 2000, sowie unten II.

6BVerfGE 24, 119 = NJW 1968, 2233.

7Fieseler, GK-SGB VIII, § 8a Rdnr. 3, spricht in diesem Zusammenhang von einer „maßlosen Überhöhung des Elternrechts“.

8Vgl. dazu Jestaedt, in: Dolzer (o. Fußn. 2), Rdnr. 206.

9Vgl. Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 3. Aufl. (2006), § 36 Rdnrn. 71ff.

10Im (Todes-)Fall von Benjamin Pascal hatte das Jugendamt insgesamt sechsmal vergeblich das zuständige Familiengericht um die Einschränkung des elterlichen Sorgerechts ersucht (vgl. Der Spiegel 10/2006, S. 50).

11Vgl. Wiesner, ZfJ (Zentralblatt für Jugendrecht) 2003, 121.

12S. dazu Wiesner (o. Fußn. 9), vor § 27 Rdnr. 41.

13S. dazu Wiesner (o. Fußn. 9), § 55 Rdnr. 89 m.w. Nachw.

14Da befürchtet werden muss, dass der Amtsvormund des Jugendamtes sein eigenes Jugendamt nicht verklagt, wird seit langem die verstärkte Gewinnung von Einzelvormündern bzw. die Schaffung einer eigenständigen Vormundschaftsbehörde gefordert; vgl. dazu Zenz, JAmt 2002, 222; dies., ZfJ 2002, 457.

15Vgl. dazu etwa die Definition des BGH, NJW 1956, 1434 = FamRZ 1956, 350. Indes sind wohl Forderungen nach einer stärkeren Konkretisierung nicht einlösbar, damit die unterschiedlichen Fallkonstellationen nicht mehr zuverlässig erfasst werden könnten.

16Zu den fachlichen Herausforderungen s. unter III 4.

17Vgl. dazu Kindler/Lillig, Der Schutzauftrag der Jugendhilfe unter besonderer Berücksichtigung von Gegenstand und Verfahren zur Risikoeinschätzung, in: Jordan, Kindeswohlgefährdung - Rechtliche Neuregelungen und Konsequenzen für den Schutzauftrag der Jugendhilfe, 2006, S. 85ff.

18Sog. Gefährdungsabwendungsprimat der Eltern, wie er auch der Konstruktion des § 1666 BGB zu Grunde liegt.

19S. dazu Bathke, Vereinbarungen als Basis für Kooperation zwischen öffentlichen und Freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 39ff.; Münder, Vereinbarung zwischen den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe und den Trägern von Einrichtungen und Diensten nach § 8a SGB VIII, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 51.

20S. dazu die Beiträge zu den verschiedenen Aufgabenfeldern von Menne, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 149ff.; Beneke, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 169ff.; Büttner, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 185ff.; Deinet, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 213ff.

21Vgl. dazu Menne, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 149, 161.

22Kindler/Lillig, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 85, 90ff.

23Kindler/Lillig/Blümel/Werner, Hdb. Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), 2006.

24S. dazu Kindler/Lillig, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 85, 94ff.

25Vorschläge für solche Kriterien finden sich bei Kindler/Lillig, in: Jordan (o. Fußn. 17), S. 100ff. Auf der Grundlage dieser Kriterien sehen sie beim Stuttgarter Kinderschutzbogen und beim Risikoeinschätzungsverfahren des Kinderschutzzentrums Berlin einige Stärken, aber auch Lücken, teilweise sogar Probleme (Kindler/Lillig, in: Jordan [o. Fußn. 17], S. 103f.).

26Deutscher Städtetag, Strafrechtliche Relevanz sozialarbeiterischen Handelns. Empfehlungen des Deutschen Städtetages zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls, in: JAmt 2003, 226 und ZfJ 2004, 187.

27Vgl. dazu Wiesner (o. Fußn. 9), § 8a Rdnr. 44.




[editiert: 03.05.07, 22:23 von Admin]
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