Gerechtigkeit für ehemalige Heimkinder
Fraktionsbeschluss
24. April 2007
Das Schicksal der in den 50er und 60er Jahren in Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen
rückt nach und nach in den Blickpunkt der öffentlichen Diskussion. Mehr als eine halbe Million Kinder und
Jugendliche wurden in der Bundesrepublik in solche Einrichtungen eingewiesen. Besonders in den
Fürsorgeheimen erfolgte die Einweisung vielfach ohne nachvollziehbaren Grund, wie z.B. aufgrund
behaupteter drohender "Verwahrlosung", oder bei Mädchen bzw. jungen Frauen und Müttern wegen
Verstößen gegen rigide Sexualnormen. Hintergrund war nicht selten eine Denunziation.
Ehemalige Heimkinder berichten nicht nur von unrechtmäßiger Heimeinweisung, sondern auch von
massiven psychischen und physischen Misshandlungen, Schlägen, Drohungen oder gar Elektroschocks,
und immer wieder auch von sexuellem Missbrauch. Beklagt werden auch das Vorenthalten einer
angemessenen Berufsausbildung und der systematische Einsatz von Kindern und Jugendlichen zu
erzwungener Arbeit.
Auch die bisherige wissenschaftliche Forschung über die Situation von Heimkindern legt nahe, dass die
vollständige Reglementierung des Tagesablaufes und aller sozialen Kontakte, religiöser Zwang und ein
ausgeklügeltes Strafsystem bis Mitte der 70er Jahre häufig zum Alltag damaliger Heime gehörten und
nicht lediglich auf das Fehlverhalten einzelner MitarbeiterInnen zurückzuführen ist. Körperliche
Züchtigung und Gewalt bildete eine der entscheidenden Grundlagen der Erziehung in Heimen, um aus
Sicht der Verantwortlichen Autorität, Ordnung und Disziplin aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus sind
Fälle aktenkundig, in denen neben körperlicher Gewalt gegenüber den anvertrauten Kindern und
Jugendlichen Strafmethoden wie das stigmatisierende Tragen besonderer Strafkleidung, körperliche
Kennzeichnung (Scheren einer Halbglatze) oder Isolation in Arrestzellen, mitunter über viele Tage,
angewandt wurden. Die historische Forschung beschreibt das System als "Anstaltserziehung mit
Gefängnischarakter".
Die damaligen Erziehungsmethoden waren vielfach nicht nur nach heutigen Maßstäben, sondern auch
nach denen der damaligen Zeit brutal und menschenrechtswidrig. Auch in den 50er Jahren galt die
Unantastbarkeit der Würde des Menschen! Die beschriebenen Zustände können nicht damit entschuldigt
werden, dass strenge Erziehungsmethoden damals allgemein üblich waren. Unterbringung und
"Erziehung" waren vielfach rechtswidrig. Die Heimaufsicht funktionierte in vielen Fällen nicht, es hat
schwere Versäumnisse auch staatlicher Stellen gegeben.
Bündnis 90 / Die Grünen setzen sich für die öffentliche Anerkennung des geschehenen Unrechts ein, für
eine verstärkte historische Aufarbeitung der Situation in den Heimen und für die Entschädigung der
Betroffenen. Erreichen wollen wir diese Ziele über die Errichtung einer Bundesstiftung "Ehemalige
Heimkinder".
Ein Teil der Einrichtungen war in öffentlicher, ein Teil in privater Trägerschaft. Weit überwiegend standen
die Heime aber in kirchlicher Trägerschaft. Zudem wurden auch die von nicht-kirchlichen Trägern
betriebenen Heime oftmals von Ordensleuten geleitet.
Die Träger dieser Einrichtungen und die öffentlichen Stellen als Heimaufsicht können sich nicht länger
der Einsicht verschließen, dass in vielen dieser Heime die Kinder und Jugendlichen nicht nur in
Einzelfällen seelisch und körperlich schwer misshandelt, sondern auch teilweise als billige Arbeitskräfte
missbraucht wurden.
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Anstatt junge Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern, hat solche Art "Erziehung" Kindern und
Jugendlichen oft für ihr ganzes Leben eine schwere Hypothek aufgeladen: Dazu zählen seelische
Beschädigungen und verringerte Teilhabechancen - bedingt durch Schwierigkeiten, nach der
Heimerfahrung im gesellschaftlichen Leben oder in der Arbeitswelt Tritt zu fassen. Im Falle von
Lernbehinderungen wurde diese in der Regel eher verstärkt als ausgeglichen.
Viele ehemalige Heimkinder leiden noch heute unter dem Erlebten, sind in vielen Fällen traumatisiert und
haben die damaligen Erlebnisse bis heute nicht verarbeiten können. Sie brauchen immer noch
professionelle Hilfe. Erst nach und nach bricht nach den Veröffentlichungen in den Medien das
Schweigen. Das gilt auch für Gespräche innerhalb von Familien oder sozialem Umfeld. Die Scham, auch
gegenüber den nächsten Angehörigen über die Vergangenheit zu sprechen, weicht erst sehr langsam
den Verletzungen und dem Zorn über das Erlittene. Bei den Verantwortlichen in öffentlichen und privaten
Stellen finden die Betroffenen aber noch immer nicht ausreichend Gehör.
Die Aufarbeitung der früheren Missstände und die konkrete Hilfe für die Opfer dieser Zustände ist eine
gesellschaftliche Aufgabe. Unbeschadet möglicher individueller Schadensersatzansprüche sind Bund und
Länder sowie die kirchlichen und anderen Träger von Heimen in der Pflicht, ihren Beitrag zu leisten, um
das geschehene Unrecht wenigstens in Ansätzen auszugleichen und damit zu ihrer Verantwortung zu
stehen. Ein solches Zeichen der Reue ist zugleich ein unumgänglicher Akt der moralischen
Rehabilitierung der Opfer.
Der Prozess der aktiven Rehabilitierung darf nicht abhängig gemacht werden von weiteren womöglich
langjährigen Recherchen oder gar überzogenen Anforderungen an die Beweisführung im Einzelfall. Die
Prozesse von Entschädigung, konkreter Hilfe und der historisch-kritischen Aufarbeitung müssen
zeitgleich laufen. Neben der individuellen Hilfe ist diese gründliche Aufarbeitung der Geschehnisse in den
Heimen von großer Bedeutung. Leider wird diese notwendige Arbeit dadurch erschwert, dass vielfach die
Aktenbestände der Heimträger nicht mehr vorhanden sind oder zurückgehalten werden.
Auch die Heimerziehung in der DDR war vielfach bestimmt von Verletzungen der Menschenwürde. Die
Betroffenen haben sich hier allerdings noch nicht in der Weise zu Wort gemeldet, wie ehemalige
Heimkinder aus der alten Bundesrepublik, die sich mit einer Petition an den Deutschen Bundestag
gewandt haben. Es bedarf einer sorgfältigen Aufklärung darüber, in wie vielen Fällen die Einweisung und
die Behandlung der Kinder und Jugendlichen Teil der politischen Verfolgung gerade der Eltern war. Hier
wären dann auch Ansprüche nach dem Strafrechtlichen- Verwaltungsrechtlichen- oder Beruflichen
Rehabilitierungsgesetz zu prüfen Es wird in jedem Fall eine ebenfalls wichtige Aufgabe der von uns
angestrebten Bundesstiftung sein, zuverlässige Informationen über das Heimwesen der DDR zu
sammeln, mit den Betroffenen zu sprechen und auch sie in den Kreis derer aufzunehmen, die Leistungen
als Ausgleich für erlittenes Unrecht erhalten. Kinder und Jugendliche aus der DDR dürfen nicht schlechter
gestellt werden, als Kinder und Jugendliche aus der Bundesrepublik.
0BI. Rehabilitierung der Opfer des Heimsystems und Würdigung des zugefügten Unrechts
Der Deutsche Bundestag hat eine frühzeitige Novellierung der Gesetzgebung auf dem Gebiet der
Jugendwohlfahrtspflege versäumt. Auch dadurch konnten die Missstände bis in die Mitte der 70er Jahre
bestehen.
Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass der Deutsche Bundestag in einer Entschließung ausdrücklich
feststellt, dass Menschen bis in die Mitte der 70er Jahre durch Heimunterbringung systematisch
Entwürdigung und Misshandlung erlebten und in ihren Lebensperspektiven beeinträchtigt wurden.
Eine solche Entschließung des deutschen Bundestages wäre ein bedeutsames Signal an die Opfer, in
die Gesellschaft hinein und an die Träger und ehemaligen Träger der Heime.
Wir appellieren an die Träger der Heime und die darin tätig gewesenen Vereinigungen sich ihrer
Verantwortung zu stellen und sich für das geschehene Unrecht zu entschuldigen.
Auch die Länder als Zuständige für die Heimaufsicht sowie die Kommunen, die in vielen Fällen für die
unrechtmäßige Einweisung verantwortlich waren, müssen sich ihrer Verantwortung stellen.
1BII. Errichtung einer Stiftung "Ehemalige Heimkinder"
Die Fraktion Bündnis’90/DIE GRÜNEN tritt für die zeitnahe Errichtung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung
ein. Die Stiftung soll Entschädigung leisten, finanzielle Ansprüche der betroffenen ehemaligen
Heimkinder erfüllen sowie weitere Hilfen für ihre aktuelle Lebenssituation zur Verfügung stellen, denn
Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag / Fraktionsbeschluss: Gerechtigkeit für ehemalige Heimkinder 2 / 3
viele Menschen leiden bis heute an den Misshandlungen. Dazu gehört beispielsweise die
Kostenübernahme für ärztliche oder therapeutische Hilfe in den Fällen, in denen die Krankenkassen den
Betroffenen den Zugang zur derartigen professionellen Hilfen verweigern. Sie soll ehemaligen
Heimkindern auch beratend zur Seite stehen. Wegen des besonderen Charakters der Leistungen muss
sichergestellt werden, dass Entschädigungszahlungen keine Anrechnung auf Leistungen des SGB II
finden.
Finanziert werden soll die Stiftung von Bund, Ländern und den Trägern bzw. ehemaligen Trägern der
Heime. Darüber hinaus ist es angezeigt, Unternehmen und Kommunen mit in die Verantwortung
einzubeziehen, sofern sie seinerzeit von Heimkindern als billigen Arbeitskräften profitiert haben.
Eine eigenständige Stiftung ist aufgrund ihrer besonderen Sachkenntnis besser als andere
Verwaltungsstellen in der Lage, den Betroffenen wirksam und zugleich mit einem Minimum an Bürokratie
zu helfen.
2BIII. Die historische Aufarbeitung weiter vorantreiben
Aufgabe einer zu gründenden Stiftung soll auch die Förderung der weiteren historischen Aufarbeitung
sein. Die bereits vorliegenden Erkenntnisse über die Situation in den Heimen sollen vertieft und einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Durch die Dokumentation der damaligen
Geschehnisse soll die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung befördert werden.
Schon im Vorgriff auf die Errichtung einer solchen Stiftung muss die Bundesregierung gemeinsam mit
den Bundesländern dafür Sorge tragen, dass die vorhandenen Aktenbestände der Träger der
Einrichtungen und der Heimaufsicht umgehend gesichert werden. Sicher zu stellen sind hier auch die
Unterlagen aus den Erziehungsheimen in der DDR.
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http://www.gruene-bundestag.de/cms/beschluesse/dokbin/180/180420.pdf