cf: Bibliothek
„Jeder hat Vorurteile, du kannst mir nicht erzählen, dass du keine hast. Das wäre eine Lüge.“ Kühl und forschend taxierte die blonde Schülerin den jungen Erben, der diese ersten wirklich ernsthaften Worte aus ihrem Mund mit einer nicht zu leugnenden Überraschung zur Kenntnis nahm, die er sich bemühte, nicht zum Ausdruck zu bringen. Bislang, so dachte er bei sich, hatte ihr Hauptinteresse doch einzig und allein darin bestanden, ihn zu provozieren und zur Weißglut zu bringen, wohl mit der Absicht, sich seiner somit zu entledigen, doch nachdem sie nun vielleicht eingesehen hatte, dass er es ihr ohnehin nicht so leicht machen würde, ließ sie sich tatsächlich darauf ein, ein völlig normales, wenn auch durchaus leicht feindseliges, Gespräch mit ihm zu führen. Logan, der seinerseits ebefalls dazu bereit war, ihre Konversation ein wenig zu modifizieren und friedlicher zu gestalten, dachte mit leichter Verwunderung über das nach, was Nell gesagt hatte. Wahrscheinlich, so kam er zu einem Schluss, hatte sie tatsächlich recht. Niemand würde es wohl gerne zugeben, Vorurteile gegenüber anderen zu haben, da die Existenz solcher vorschnellen Urteile doch oft damit gleichgesetzt wurde, einen eingeschränkten Horizont zu haben und nicht tolerant zu sein, doch dennoch neigte wohl jeder Mensch dazu, ein rasches Urteil über seine Mitmenschen zu fällen, auch, wenn er doch nur ihre groben Lebensumstände kannte. Der Ravenclaw gab sich zwar stets Mühe, keine übereilten Vermutungen über Menschen anzustellen, die er nicht näher kannte, aber es schien doch fast ein natürlicher und automatisch funktionierender Mechanismus zu sein, dass man sich eine Vorstellung machte und dabei gewissen Klischees natürlich auch gerecht wurde.
"Ja, wahrscheinlich habe auch ich Vorurteile" gab er schließlich seufzend zu und kratzte sich nachdenklich am Kinn, während er Nell eingehend betrachtete. Welche Vorurteile hegte er ihr gegenüber? Welches Urteil über ihre Person hatte er getroffen in dem Moment, in dem sie vorhin die Bibliothek betreten hatte?
"Aber sei nicht so hart, was das betrifft. Es ist oft nicht so leicht, zwischen Vorurteilen und solchen Urteilen, die auf Beobachtungen basieren, zu unterscheiden" fuhr Logan fort und sein Blick blieb unweigerlich am zerschlissenen Umhang der Schülerin hängen. Wenn er nun davon ausging, dass sie aus ärmeren Verhältnissen kam, war dies dann ein Vorurteil oder war es eher eine Schlussfolgerung, beruhend auf dem, wie er sie erlebte und was er an ihr betrachtet hatte?
„Gegen mich gibt es sicherlich genau so viele Vorurteile wie gegen dich.“ vermutete Nell mit einem schiefen Grinsen und zuckte mit den Schultern, als würde ihr dieser Umstand nicht viel ausmachen. Logan selbst hatte sich ebenfalls immer darum bemüht, die oft beißenden und völlig ungerechtfertigten Urteile anderer Leute nicht an sich heranzulassen, aber er wusste doch auch, wie schwer sich dieses Unterfangen oft gestaltete. Ein nachdenkliches Schmunzeln glitt über sein markantes Gesicht.
"Pass auf, ich habe eine Idee" setzte Logan an und ließ seine in diesem Moment unternehmungslustig funkelnden braungrünen Augen Nells Blick suchen, um diesen kurz festzuhalten. "Wir beide werden uns nun einfach gegenseitig sämtliche Vorurteile an den Kopf werfen, die uns über den anderen einfallen. Alles, was ich sage, darfst du natürlich kommentieren, was auch umgekehrt gilt. Und dann werden wir wissen, was an unseren Vorurteilen wirklich dran ist und - was noch viel besser ist - müssen uns damit nie wieder auseinandersetzen." Mit einem zufriedenen und leicht verschwörerisch anmutenden Lächeln schloss Logan seine Ausführungen und schaute Nell erwartungsvoll an.
"Du darfst meinetwegen auch gerne anfangen" schlug er, ganz der Gentleman, bereitwillig vor und unterstrich dieses Angebot durch eine einladende Handbewegeung.
Man kommt nicht überall mit bloßer Höflichkeit weiter.“ befand Nell in diesem Moment und brachte Logan mit dieser Behauptung tatsächlich ein wenig aus den Konzept. Verdattert blickte er sie an und fuhr sich, in Ermangelung einer passenden Antwort, mit einem lauten Ausatmen durch die wirren Haare. Es war eine Schande, dass er nicht mehr über sie wusste, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach, wenn das Thema auf die Welt kam, aus der sie stammte. Natürlich, so wusste auch Logan, war Höflichkeit keineswegs immer der Schlüssel, um alles zu erreichen, doch sie war zumindest stets ein guter Wegbereiter. Wenn er bei Verhandlungen seines Großvaters mit Geschäftskunden anwesend war, so hatte Logan deren Verhalten immer genau studiert. Das Konkurrenzdenken war offensichtlich, jeder wollte für sich und für seine Firma den größtmöglichen Nutzen erzielen, doch dennoch behandelten sich alle untereinander mit augesuchter Höflichkeit. Letzendlich war diese aber nicht ausschlaggebend, sie entschied rein gar nichts und brachte auch keinerlei Vorteile mit sich. Wichtig waren einzig und allein die Zahlen und Fakten, die schließlich auf dem Tisch lagen. Dennoch empfand Logan höfliches Verhalten als wichtig und unverzichtbar, es zeigte Respekt gegenüber demjenigen, mit dem er es zu tun hatte und brachte dadurch auch eine gewisse Kultiviertheit zum Ausdruck, die doch immer einen guten Eindruck hinterließ. Wie also konnte Nell Höflichkeit und gutes Benehmen so gering schätzen?
Stumm betrachtete er ihr kühles, hart wirkendes Gesicht. Er wollte keine Vorurteile bedienen, aber irgendetwas an ihrem Verhalten verriet ihm mit schreiender Deutlichkeit, dass dieses Mädchen keine leichte Vergangenheit hatte.
"Dadurch, dass ich dich höflich behandel, bringe ich zum Audruck, dass ich dich respektiere und deine Ehre schätze. Natürlich kann man sagen, dass mir das nichts bringt. Tut es auch nicht. Aber es hinterlässt ein gutes Gefühl. Bei mir, weil ich dann weiß, dass ich dich so behandelt habe, wie man Frauen korrekterweise behandelt und bei dir..." Logan stockte und ließ seinen Satz unvollendet im Raum stehen. während er mit den Schultern zuckte. Nachdenklich schob er seine Augenbrauen zusammen, während er nur kurz zu Nell hinüber blickte, um ihre Reaktion beobachten zu können. Wahrscheinlich würde sie in lautes Lachen ausbrechen, aber das war ihm ziemlich egal. Er wusste nicht, ob sein Verhalten tatsächlich dafür sorgte, dass sie sich gut fühlte, doch er hoffte es zumindest. Zwar hatte er für das blonde Mädchen wirklich nicht viel übrig, aber es war ihm dennoch daran gelegen, dass sie sich in seiner Gegenwart so fühlte, wie Frauen sich fühlen sollten, wenn sie von einem anständigen Mann umgeben waren: beschützt und geschätzt.
„Du willst ihn mir schenken? Warum?“ Die Augen der blonden Gryffindor weiteten sich ungläubig, während ihre Stimme sich so leise in Logans Ohren schlich, dass er sich kaum sicher war, ob sie dies tatsächlich hatte laut sagen wollen. Nun, sie hatte es jedenfalls gesagt und ihr blankes Unverständnis sprach nicht nur aus ihren Worten sondern auch und vor allem aus ihrem ziemlich verwirrten Gesichtsausdruck. Warum musste es bei Nell immer ein Warum geben? Warum konnte sie die Dinge nicht einfach akzeptieren, die man ihr anbot? Logan konnte es nicht verstehen, so sehr er sich auch bemühte. Woher kam dieser seltsame Drang, freundliche Gesten immer und immer wieder zu hinterfragen? Das war doch nicht normal. Kopfschüttelnd raufte der Ravenclaw sich die braunen Haare, bevor er ansetzte, ihre in seinen Augen völlig unnötige Frage zu beantworten.
"Warum ich dir einen Umhang schenken möchte: Erstens, weil dein Umhang kaputt ist. Zweitens, weil dein Umhang jetzt auch noch völlig dreckig ist. Und drittens, weil es in der neuen Kollektion einen royalblauen Umhangstoff gibt, der deine Augen bestimmt fabelhaft zum Leuchten bringt" schloss er seine Argumentation und lächelte verhalten bei dem Gedanken an besagten Stoff. Er würde Nell wirklich gut stehen, da war er sich sicher.
„Tu was du nicht lassen kannst, aber ich werde das nicht annehmen, nur damit du es weißt. ganz bestimmt nicht.“ Stur stemmte sie die Hände in ihre schmale Hüfte und gab so ein ziemlich trotziges Bild ab, das Logan unwillkürlich schmunzeln ließ.
"Na, das werden wir dann ja sehen" grinste er voller zuversichtlicher Unbeschwertheit und war sich sicher, dass sie den Umhang, wenn sie ihn doch erst in den Händen hielt und das weiche, wertvolle Material zwischen ihren zierlichen Fingern spürte, nie wieder würde hergeben wollen.
„So ein T-Shirt wirst du in deiner Welt wohl niemals finden. Das ist eine Muggelband. Und sie machen fabelhafte Musik. Die dir aber wahrscheinlich nichts sagen wird“ Ihr T-Shirt, auf das nun die Sprache kam, und die Geschichte, die sich dahinter verbarg, schien Nell nun ein wenig zu lockern. Endlich etwas, über das sie nicht verwunder sein musste und über das sie sich nicht aufregen konnte. Dass 'The Ramones' eine Band waren, war tatsächlich Logans zweite Vermutung gewesen, eigentlich hatte er auf eine alte Mafia-Familie getippt, aber das verschwieg er ihr wohl besser. "Nein, das sagt mir allerdings wirklich nichts." gab er offen zu und wand seinen Blick von dem weißen Schriftzug auf schwarzem Grund ab, da es, so dachte er bei sich, auf Dauer wohl reichlich seltsam wirken musste, wenn er so forschend ihren Brustbereich taxierte. "Dann kann ich anscheinend auch noch was von dir lernen" befand er, der sich schon immer sehr für Musik interessiert hatte und warf ihr einen schnellen Blick zu, als ihn eine Idee durchfuhr, die zumindest er selbst für ziemlich grandios hielt. "Wir können ja eine kleine Zweck- und Interessengemeinschaft gründen" schlug der brünette Ravenclaw vor und erläuterte weiter "Ich helfe dir mit Arithmantik und du stellst mir nach jeder Nachhilfestunde eine Muggelband vor. Allerdings will ich dann auch mal was hören." verlangte er und blickte das blonde Mädchen neugierig an. Vielleicht, so dachte er bei sich, würde dieser Plan sich in zweifacher Hinsicht als förderlich erweisen. Zum einen mochte er Musik wirklich und war immer an neuem interessiert, doch zum anderen würde Nell den Nachhilfestunden so vielleicht ein wenig mehr abgewinnen können - und das würde es für sie beide weitaus angenehmer gestalten, als es derzeit der Fall war.
„Musik. Ich will später etwas mit Musik machen“ bestätigte dann auch ihre schlichte Antwort auf die Frage nach ihren Zukunftsplänen die Tatsache, dass Musik etwas war, in dem das blonde Mädchen sich wohl fühlte. Logans erster Gedanke war die Frage, was genau Nell wohl meinte, wenn sie davon sprach, später etwas mit Musik machen zu wollen, denn einen Platz in der Londoner Philharmonie traute er ihr, rein optisch betrachtet, eigentlich nicht zu. Dann erst ging dem jungen Erben auf, dass das Mädchen gar nicht von klassischer Musik sprach, sondern viel eher von dem, was wohl auch ihre Mafia-Bands spielten. Er kannte sich, wie er sich selbst gegenüber eingestehen musste, mit diesem Musikmarkt nicht aus und hatte wirklich keinerlei Ahnung, ob man mit einer dortigen Tätigkeit reich werden konnte, aber das schien Nell ohnehin kaum zu scheren. "Musik ist super." befand der gutaussehende Junge nickend und wollte mehr wissen "Welche Instrumente spielst du?" erkundigte Logan sich, während er wehmütig an sein Cello und sein Saxophon dachte, die beide daheim in Inverness auf ihn warteten, denn auch er teilte die Leidenschaft für Musik durchaus - wenn er sich wahrscheinlich auch einer anderen Stilrichtung verschrieben hatte als seine Mitschülerin.
„Was willst du später machen? Dich auf deinem Landsitz ausruhen, in Geld schwimmen und dick und fett werden?“ drehte diese den Spiess nun um und wollte, nicht ohne ihn dabei erneut zu provozieren, wissen, was Logan selbst für seine Zukunft plante. Der brünette Ravenclaw bedachte sie mit einem Blick, der ausdrückte, dass ihr etwas sehr Offensichtliches anscheinend entgangen war. "Naja, ich werde Munroe Gowns leiten." erklärte er wie selbstverständlich, während seine ohnehin schon breite Brust voller Stolz um einige weitere Zentimeter anwuchs. "Die Sache mit der Schwimmerei im Geld hebe ich mir dann allerdings für Abends auf, es macht zu viel Spaß, um es mir entgehen zu lassen" flachste er gut gelaunt und zwinkerte Nell aus dem Augenwinkel amüsiert zu.
Gemeinsam schlenderten sie durch die kühlen und um diese Uhrzeit ziemlich düsteren Gänge des Schlosses, wobei Logan sich stets Mühe gab, Nell einen kleinen Schritt voraus zu sein. Natürlich rechnete er nicht mit wirklichen Gefahren, aber falls dennoch irgendetwas unerwartetes passieren sollte, so wäre er der erste, dem es begegnen würde und er könnte das Unheil noch von Nell abwenden.
„Aber dir ist schon bewusst, dass dich dieser Ausflug nach der Ausgangszeit zum Gryffindorturm deine perfekte, weiße Weste als straftatenfreier Musterschüler kosten könnte?“ fragte die blonde Schülerin mir einem nicht zu leugnenden sarkastischen Unterton, der auch Logan ein schmales Lächeln entlockte. "Da ich ihn ehrenhafter Absicht unterwegs bin, wird mir daraus wohl niemand einen Strick drehen" gab er sich zuversichtlich und hielt Nell zurück, als eine der sich hin und her bewegenden Treppen in diesem Moment zur Seite schwang und sie somit einen kurzen Moment warten mussten, bis sie ihren Weg wieder aufnehmen konnten. "Immerhin geleite ich eine Dame zu ihren Gemächern" flachste er grinsend und sprang auf die Treppe, als diese wieder zu ihnen hinüberschwang. Sicher war er sich natürlich nicht, ob er eine Strafe zu erwarten hatte, denn er hatte es bislang noch nie drauf ankommen lassen. Fragend blickte er Nell an, die sich mit dieser Thematik wahrscheinlich weit besser auskannte und blieb plötzlich überrascht stehen, als er leise, schlurfende Schritte und eine tiefe, murmelnde Stimme wahrnahm. Stumm legte er den rechten Zeigefinger an seine Lippen, um sicherzugehen, dass er richtig lag. Tatsächlich, ja, da hörte er es erneut und verzog undwillig das Gesicht. "Wenn wir nicht aufpassen, werden wir bald erfahren, welche Strafe auf das Begleiten unschuldiger Mädchen steht" flüsterte er und deutete in die Richtung, aus der er die verräterischen Geräusche vernommen hatte. "Das kann nur der Hausmeister sein" vermutete er und schob missmutig seine Augenbrauen zusammen.
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wie die sonne den kometen
wegzieht von seiner bahn
wie der felsblock zu dem fluss sagt
fließ woanders hin
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wie ein schiff erfasst vom sturmwind,
das die richtung verliert
und ein nie gesehnes ufer gewinnt
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