Auf den Kasernenhöfen Uruguays übten Bankangestellte in weißen Kragen Gleichschritt und Kehrtmarsch. Kassierer schrubbten Offiziersklos und striegelten Kavallerie-Pferde. Langhaarigen Bank-Kommis stutzten Armee-Barbiere die Zivilistenmähne zum Kommiß-Kopf.
Nicht Liebe zum Vaterland hatte die Angestellten der uruguayischen Staatsbank Banco de la República und der Zentralbank in die Kasernen getrieben -- Polizisten mit gezuckten Säbeln hatten sie hinter den Schaltern hervorgeholt und in Armee-Lastwagen abtransportiert.
Mit militärischem Drill wollte die Regierung in Montevideo die Bankiers der Nation, die durch Streiks und Bummelarbeit den Zahlungsverkehr des Landes blockiert hatten, zur Staats-Räson bringen. Laut Gesetz Nr. 9943 aus dem Jahr 1940 wurden die Staatsdiener "dienstverpflichtet" und der Militärgerichtsbarkeit unterstellt: Streik war fortan gleichbedeutend mit Desertion.
Nur durch Notstands-Maßnahmen glaubt Präsident Jorge Pacheco Areco, 48, Uruguay vor dem "Harakiri" bewahren zu können. Er wolle, verkündete er über Rundfunk und Fernsehen, nicht zum "Totengräber der uruguayischen Nation" werden.
Als der ehemalige Journalist Pacheco nach dem Tod des Präsidenten Oscar Gestido im Dezember 1967 vom Vizepräsidenten zum Staatsoberhaupt aufrückte, erbte er eine wirtschaftliche und soziale Dauerkrise, die die einstige Oase des Wohlstands in Lateinamerika seit fünf Jahren ruiniert hat. In den letzten vier Monaten wurde die Krise zum Chaos.
Uruguay, der kleinste Staat auf dem Subkontinent, stellte in den letzten 18 Monaten den Inflations-Weltrekord auf: Um über 200 Prozent stiegen seit Anfang 1967 die Lebenshaltungskosten. Fünfmal wurde der uruguayische Peso seither abgewertet.
Alle sechs Monate wurden bisher die Löhne erhöht, aber "die Inflation ist dreimal schneller", berechnete die argentinische Zeitschrift "Primera Plana".
Angestellte der Elektrizitäts- und Wasserwerke, der öffentlichen Verkehrsmittel und des staatlichen Brennstoff-Monopols, Müllkutscher und Regierungsbeamte, Briefträger und Bankangestellte, Lehrer und Hafenarbeiter legten die Arbeit nieder -- und die Wirtschaft des Landes lahm.
Mit Molotow-Cocktails heizten Uruguays Studenten die Krise an: Aus Protest gegen Fahrpreiserhöhungen steckten sie in Montevideo Autobusse in Brand. Sie bauten Barrikaden, besetzten Fakultäten und lieferten der Polizei Straßenschlachten.
Dürre ließ Uruguays lebensfrohe Metropole zeitweise in trübem Licht erscheinen: Niedrigwasser im Rincóndel-Bonete-Stausee schränkte die Stromversorgung der Hauptstadt ein. Petroleumfunzeln erleuchteten spärlich die eleganten Geschäfte.
Präsident Pacheco selbst hofft auf "etwas Hilfe vom Himmel" -- er braucht sie. Auf Erden ist ein Ende der Krisen-Ursachen in Uruguay nicht abzusehen.
Export von Fleisch und Wolle hatten der kleinen Republik am La Plata Wohlstand gebracht und den Ruf, die Schweiz Südamerikas zu sein. Schon zu Beginn dieses Jahrhunderts konnte sich Uruguay moderne Sozialgesetze -- Alters- und Krankenversicherung und Schulgeldfreiheit -- leisten, die denen europäischer Industrienationen entsprechen. Bis 1960 noch zahlten die Uruguayer keine Einkommensteuern.
Während des Zweiten Weltkrieges und des Korea-Krieges flossen Millionen an Exporterlösen und Auslandskapital in Uruguays Kassen. Seit 1950 jedoch fielen die Weltmarktpreise für Fleisch und Wolle -- Produkte, die 79 Prozent des Exports Uruguays ausmachen.
Die Auslandsschulden des Landes stiegen auf etwa 500 Millionen Dollar, von denen 87,7 Millionen in diesem Jahr noch fällig werden.
Ohne Exportüberschüsse und ohne wirtschaftliches Wachstum wird Uruguays Sozialstruktur zum ruinösen Luxus: Ein Drittel aller Arbeitskräfte des 2,7-Millionen-Einwohner-Landes stehen in Staats-Diensten. 240 000 öffentliche Angestellte -- und 330 000 Pensionäre -- trugen im vergangenen Jahr wenig zur Produktivität, aber viel zum Staatshaushalts-Defizit von insgesamt 28,75 Milliarden uruguayischer Pesos (rund 460 Millionen Mark) bei.
Oft sitzen zwei, manchmal drei Staatsdiener auf jedem Job im Öffentlichen Dienst, dem Lebensziel vieler Uruguayer. So beschäftigt das staatliche Elektrizitätsunternehmen UTE doppelt soviel Personal wie nötig. Doch Uruguays Bürokraten sind unkündbar. Daher will die Regierung in Montevideo ihnen künftig eineinhalb Jahresgehälter auszahlen, falls sie freiwillig den Amts-Schemel räumen.
Die Hoffnung auf eine Reduzierung der Beamtenkaste ist allerdings gering: Von jeher belohnen Politiker in Uruguay ihre Anhänger mit staatlichen Pfründen -- und viele Politiker kommen an die Macht: Fünfmal seit Jahresanfang hat Präsident Pacheco sein Kabinett bereits umgebildet, elf seiner zwölf Minister -- zum Teil mehrmals -- ausgetauscht.
Denn in den Reihen seiner eigenen -- in fast ein Dutzend Grüppchen gespaltenen -- "Colorado"-Partei regt sich erbitterter Widerstand gegen Pachecos Programm der Autorität und Austerität, das er Uruguay -- einer "der demokratischsten Nationen der westlichen Hemisphäre" ("New York Times" -- verordnete. Seit Mitte Juni verfügte Pacheco
* "Sicherheitsmaßnahmen", die dem Ausnahmezustand gleichkommen;
* die Dienstverpflichtung zunächst der Staatsbankangestellten, "dann weiterer Beschäftigter öffentlicher Versorgungsbetriebe;
* die Einberufung von Reservisten der Armee und Marine;
* eine scharfe Pressezensur;
* einen rigorosen Lohn-Preis-Stopp zur Bekämpfung der Inflation. Das war den
Freiheit gewohnten Uruguayern zu viel an obrigkeitlicher Reglementierung: Trotz Verbot rief der Gewerkschaftsbund CNT seither viermal zum Generalstreik, zuletzt am 1. August.
Die Polizei drohte mit der Auflösung von Gewerkschaften im Fall eines weiteren Generalstreiks. Etwa 500 Personen wurden bisher seit Juni wegen Anstiftung zum Streik festgenommen. Um die Freilassung dieser Inhaftierten zu erzwingen, entführte am letzten Mittwoch in Montevideo die links-nationalistische Organisation "Tupamaros" den Präsidenten-Berater und Chef des Staatsunternehmens UTE, Ulises Pereyra Reverbel.
Doch Jorge Pacheco Areco -- einst Amateurboxer und Mitglied der Nationalen Boxkommission Uruguays -- will sich durchschlagen: "Ich bin im Ring und kämpfe, so hart ich kann."
Quelle
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45950207.html