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16 UF 160/05
3 F 57/05
OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE
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Karlsruhe, 25. Februar 2006
Regelung der elterlichen Sorge für das Kind
xxx, geb. am xxx.10.2004
Beteiligte:
1.
-Beschwerdeführerin-
2.
-Personenpflegerin-
3.
-Kinderpflegedienst-
4.
-Mutter/Beschwerdeführerin-
5.
-Vater/Beschwerdeführer-
6.
B e s c h l u s s
1. Auf die Beschwerden der Beteiligten Ziffer 4 und 5 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Mannheim vom 30.05.2005 (AZ: 3 F 57/05) mit folgender Maßnahme aufgehoben:
Den Eltern wird aufgegeben, die Beratung bei einer psycho-sozialen Beratungsstelle, etwa dem CARITAS-Verband Mannheim e.V., weiter zu führen und — sobald sie das Kind Xxx in ihrer dauernden Obhut haben — dieses für die Dauer eines Jahres in Abständen von zwei Monaten einem Kinderarzt vorzustellen.
Der Antrag des Jugendamtes der Stadt Mannheim wird im Übrigen zurückgewiesen.
2. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten werden nicht erstattet.
3. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000 EUR festgesetzt.
A.
Gegenstand des Verfahrens ist die Entziehung der Personensorge auf Antrag des Stadtjugendamtes Mannheim für das am 22.10.2004 geborenen Kind Xxx. Dem liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Die Beteiligten Ziffer 4 und 5 (im Folgenden Mutter und Vater) sind die nicht verheirateten Eltern des Kindes. Bei einer ärztlichen Untersuchung des Jungen am 13.12.2004 bei Dr.med. xxx stellte dieser Hämatome an den Oberarmen des Jungen und ein kleines Hämatom am linken Augenrand fest. Nach einer anfänglicher Weigerung stellte die Mutter den Jungen am gleichen Tage auf Verlangen des Kinderarztes in der Kinderklinik vor, nachdem Dr. xxx mit einer Anzeige gedroht hatte. In der Kinderklinik wurden sodann weitere Kratzspuren am Kopf des Säuglings, eine metaphysäre Absprengung der distalen Tibia links sowie abgeheilte Rippenfrakturen der seitlich der Wirbelsäule gelegenen Rippen 3 bis 6 rechts festgestellt.
Am 23.12 2004 wurde Xxx durch das JA in Obhut genommen und in eine Bereitschaftspflegestelle gegeben. Mit Beschluss vom 04.02.2005 (AS I, 13) hat das Amtsgericht den Eltern gemäß § 1666, 1666a BGB vorläufig die Personensorge entzogen und auf das JA der Stadt Mannheim übertragen. Seit August 2005 befindet er sich bei einer Dauerpflegefamilie.
Die Eltern haben nach Darstellung der beteiligten Ärzte und des Jugendamtes nach der Aufnahme des Kindes in der Kinderklinik bis zu ihrer gerichtlichen Anhörung unterschiedliche Angaben darüber gemacht, wie diese Verletzungen entstanden sein könnten. Für die insoweit ärztlicherseits getroffenen Feststellungen wird auf die Arztberichte und Bescheinigungen vom 22.12.2004 (AS I, 9), 19.01.2005 (AS I, 10), 02.02.2005 (AS I, 35). 10.03.2005 (AS I, 72), 16.03.2005 (AS I, 81) sowie die gerichtlichen Protokolle verwiesen. Das JA hat sich mit Bericht vom 02.02.2005 (AS I, 18) und 19.05.2005 (AS I, 145) geäußert.
Die Eltern sind der beantragten Entziehung der elterlichen Sorge mit Schriftsatz vom 08.02.2005 (AS I, 30) und vom 23.05.2005 (AS I, 138) entgegengetreten. Eine Kindesmisshandlung liege nicht vor. Die Verletzungen seien Folge von Unfällen. Das Amtsgericht hat die Eltern und die Vertreter des JA am 10.03.2005 angehört. Insoweit wird auf das Protokoll vom gleichen Tage (AS I, 54) verwiesen.
Mit Beschluss vom 10.03.2005 (AS I, 61) holte das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten zur Ursache der Verletzungen bei Prof. Dr. med. Rainer Mattern, Institut für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin der Universitätsklinikum Heidelberg, ein. Auf das Gutachten vom 21. 04.2005 (AS I, 112) wird Bezug genommen. Eine/n Verfahrenspfleger/in hat das Amtsgericht nicht bestellt.
Mit dem angegriffenen Beschluss vom 30.05.2005 (AS I, 128) hat das Amtsgericht den Sorgerechtsentzug bestätigt und weiter in Ziffer 3 des Beschlusses angeordnet, dass der Pfleger dafür Sorge zu tragen habe, dass beide Elternteile – ggf. auch erst nach 17 Uhr – ausreichend Möglichkeit zum persönlichen Umgang mit dem Kind haben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Ermittlungen hätten ergeben, dass die Eltern das Kind so gravierend misshandelt hätten, dass eine derzeitige Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt nicht möglich sei, wenn auch zu Gunsten der Eltern unterstellt werde, dass sie keine vorsätzlichen Körperverletzungen begangen hätten. Es bestehe auch keine Möglichkeit, durch Einsatz staatlicher Hilfen das Kind bei seinen Eltern zu lassen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe des Beschlusses (AS I, 197 ff.) Bezug genommen. Einen im Verfahren 3 F 95/05 gestellten Antrag der Eltern auf Herausgabe des Kindes hat es ebenfalls mit Beschluss vom 30.05.2005 zurückgewiesen. Einen vom JA mit Schriftsatz vom 13.05.2005 gestellten Antrag auf Entziehung auch der Vermögenssorge führt das Amtsgericht in einem getrennten Verfahren (3 F 209/05). Hierüber ist bislang nicht entschieden. Mit Beschluss vom 15.07.2005 (AS II, 69) hat das Amtsgericht ferner im Verfahren 3 F 257/05 vorläufig angeordnet, dass der Mutter einmal wöchentlich von donnerstags 17 bis 18 Uhr Umgang zu gewähren ist.
Gegen den ihnen am 09.06.2001 zugestellten Beschluss hat der Vater mit Schriftsatz vom 05.07.2005 - eingegangen beim OLG am 07.07.2005 - Beschwerde eingelegt, die er mit Telefax vom 08.08.2005 – eingegangen beim OLG am gleichen Tage - und vom 13.09.2005 (AS II, 117) begründet hat und mit der er eine Aufhebung des amtsgerichtlichen Beschlusses – hilfsweise die Bestellung eines anderen Pflegers - beantragt.
Er macht im Wesentlichen geltend, es lägen keine vorsätzlichen Kindesmisshandlungen vor. Die endgültige Entziehung des Personensorgerechtes verstoße gegen Art. 8 MRK. Er führt seit dem 05.07.2005 Gespräche bei der psychologischen Beratungsstelle des Caritasverbandes e.V. (Bescheinigung vom 08.09.2005 AS II, 149).
Die Mutter hat mit Schriftsatz vom 04.07.2005 - eingegangen beim OLG am 07.07.2005 - ebenfalls Beschwerde eingelegt, mit der sie eine Aufhebung des amtsgerichtlichen Beschlusses beantragt (AS II, 13). Seit dem 27.07.2005 führt sie Einzelgespräche bei der psychologischen Beratungsstelle des Caritasverbandes e.V. (Bescheinigung vom 12.09.2005 AS II, 141).
Das Jugendamt ist den Beschwerden der Eltern mit Schriftsatz vom 23.08.2005 (AS II, 87) entgegengetreten.
Das Jugendamt hat gegen den ihm am 29.06.2005 zugestellten Beschluss mit Schriftsatz vom 29.06.2005 – eingegangen am 13.07.2005 - Beschwerde gegen Ziffer 3 des amtsgerichtlichen Beschlusses eingelegt. Diese Beschwerde wurde bei der Anhörung am 13.10.2005 zurückgenommen (AS II, 197). Es ist der Ansicht, dass zum dauerhaften Schutz des Kindes und zur Bewahrung und Sicherung seines Wohlergehens eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie auszuschließen sei, da diese ihrer Garantenpflicht nicht nachgekommen sei.
Der Senat hat mit Beschluss vom 29.08.2005 (AS II, 101) eine Verfahrenspflegerin bestellt, die sich mit Schriftsätzen vom 07.10.2005 (AS II, 155) und 17.02.2006 geäußert hat.
Der Senat hat am 13.10.2005 die Eltern, die Vertreter des JA und die Verfahrenspflegerin angehört. Von einer Anhörung des Kindes wurde im Hinblick auf dessen Alter abgesehen. Insoweit wird auf das Protokoll vom 13.10.2005 (AS II, 195) verwiesen.
Der Senat hat sodann mit Beschluss vom 13.10.2005 (AS II, 303) durch den Sachverständigen Prof. Dr. Schmidt, Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Mannheim, ein Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der Eltern erstellen lassen, welches mit Datum vom 06.01.2006 vorgelegt worden ist (AS II, 353).
Die namentlich nicht bekannten Pflegeltern haben sich – anwaltlich vertreten – mit Schriftsatz vom 07.12.2005 (AS II, 333) geäußert.
II.
Die nach §§ 621e Abs.1, 3, 621 Nr.1, 621a ZPO, 19, 20 FGG zulässigen Beschwerden der Eltern sind begründet.
Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand liegen die Voraussetzungen für eine Entziehung des Personensorgerechts nicht vor.
Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern gefährdet, so hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen (§ 1666 Abs.1 BGB). Das BVerfG hat hierzu in einer Entscheidung vom 21.06.2002 (FamRZ 2002, 1021) ausgeführt:
Nach Art. 6 II S. 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern. In dieses Recht darf der Staat grundsätzlich nur im Rahmen des staatlichen Wächteramtes (Art. 6 II S. 2 GG) eingreifen. Eingriffe in das Elternrecht sind insbesondere dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn das Wohl des Kindes durch die Sorgerechtsausübung der Eltern gefährdet wird. Jede zum Zwecke der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung getroffene staatliche Maßnahme muß allerdings den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (vgl. BVerfGE 72, 122, 137 = FamRZ 1986, 871; BVerfGE 76, 1, 50 f. = FamRZ 1988, 36 [LSe], m.w.N.).
Darüber hinaus regelt und begrenzt Art. 6 III GG einen bestimmten, aufgrund des staatlichen Wächteramts in Betracht kommenden Eingriff in das Elternrecht: Eine Trennung des Kindes von seinen erziehungsberechtigten Eltern ist gegen deren Willen nur aufgrund eines Gesetzes und nur dann möglich, wenn diese versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen (vgl. BVerfGE 24, 119, 138 f. = FamRZ 1968, 578). Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben sind im Zusammenhang mit dem Elternrecht des Art. 6 II S. 1 GG zu sehen. Für die leiblichen Eltern ist die Trennung von ihrem Kind der stärkste vorstellbare Eingriff in ihr Elternrecht, der nur bei strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem GG vereinbar ist (vgl. BVerfGE 60, 79, 89, 91 = FamRZ 1982, 567; BVerfGE 79, 51, 60 = FamRZ 1989, 31).
Eine solche, vom Familiengericht festzustellende Gefährdung erfordert eine
"... gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung des Kindes eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt ...“ (BGH FamRZ 56, 350).
Der Entzug des Personensorgerechtes als Bestandteil der elterlichen Sorge darf nur als außergewöhnliches Mittel angeordnet werden, wenn andere Maßnahmen zur Beseitigung der Kindeswohlgefährdung nicht in Frage kommen. Die Beurteilung, ob eine solche Situation vorliegt, erfordert eine Prognose, deren Grundlage in der Regel aus Vorfällen in der Vergangenheit gebildet wird.
1. Die konkreten Anhaltspunkte für eine gesundheitliche Gefährdung von Xxx reduzieren sich auf dasjenige, was bis zur Einrichtung der Bereitschaftspflege von Xxx festzustellen war, d.h. die im Dezember 2004 ersichtlichen Verletzungen. Hierzu hat der Sachverständige Prof. Dr.Mattern festgestellt, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Geburt des Kindes am 22.10.2004 verursacht worden sind.
2. Den Eltern wird in diesem Zusammenhang insbesondere vorgeworfen, dass sie keine nachvollziehbare Erklärung für das Zustandekommen der Verletzungen, insbesondere der Schienbeinabsprengung gegeben haben und dass sich ihre Erklärungen in Vermutungen erschöpft haben und das sie insbesondere die Verantwortung für die Verursachung der festgestellten Verletzungen nicht vorbehaltlos übernommen haben. Hierauf allein lässt sich indessen nicht die Prognose stützen, dass es auch in Zukunft zu Misshandlungen des Kindes kommen wird.
a) Nach dem Ergebnis der Ermittlungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Eltern Xxx im Sinne einer vorsätzlichen Verursachung der festgestellten Verletzungen misshandelt haben. Anhaltspunkte hierfür haben sich nicht ergeben. Vielmehr geht der Senat aufgrund der angestellten Ermittlungen davon aus, dass die Verletzungen die Folge eines unsachgemäßen, nicht kleinkindgerechten Umgangs mit dem Kind in seinen ersten Lebenswochen gewesen sind, wobei die konkrete Ursache rückwirkend angesichts der Vielzahl der hierfür in Frage kommenden Erklärungen kaum ermittelt werden kann.
b) Ist dies aber so, so kann hieraus nicht abgeleitet werden, die Eltern seien grundsätzlich nicht erziehungsgeeignet und ihre Kind müsse zu seinem eigenen Schutz für immer von ihnen getrennt werden. Einzelne Erziehungsfehler reichen zur Rechtfertigung einer Trennung von Eltern und Sohn nicht aus. Nicht jedes Versagen der Eltern berechtigt den Staat, diese von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Vielmehr setzen Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB ein schwerwiegendes Fehlverhalten und entsprechend eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls voraus. Die festgestellten Verletzungen haben trotz ihrer Schwere insgesamt betrachtet nicht das Gewicht, um eine erhebliche Gefährdung von Xxx für die Zukunft befürchten zu lassen. Kindesmisshandlungen in der hier vorliegenden Form sind nicht per se „Wiederholungstaten“. Es spricht nichts dagegen, dass sich die Eltern das vorliegende Verfahren zur Lehre gereichen lassen und in Zukunft — ggf. auch unter sachkundiger Anleitung — sorgfältiger und kindgerechter mit Xxx umgehen.
c) Der Senat sieht sich in dieser Einschätzung durch die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Schmidt bestätigt. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, dass keine grundsätzlichen Zweifel gegen die Erziehungsfähigkeit der Eltern bestehen (S.30 des GA = AS II, 411).
3. Schließlich bestimmt auch § 1666a BGB, dass Maßnahmen, die mit einer Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden sind, nur zulässig sind, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen begegnet werden kann. Insbesondere darf — was das Jugendamt durch die ebenfalls beantragte Entziehung auch der Vermögenssorge anstrebt — die gesamte Personensorge nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind (§ 1666a Abs.3 BGB).
Hierzu ist seitens des Amtsgerichts und des Jugendamtes nichts Konkretes erwogen worden. Es erscheint dem Senat durchaus möglich, durch eine intensive ärztliche Kontrolle verbunden mit therapeutischer Beratung der Eltern — wie sie der Senat den Eltern gemäß § 1666 a BGB auch aufgibt — eine Situation zu schaffen, die eine weitere Gefährdung des Kindes durch Vorfälle ähnlicher Art ausschließt. Die Eltern haben gegenüber dem Sachverständigen ihre Bereitschaft signalisiert, sich in ihrem Erziehungsverhalten nicht nur beraten, sondern sich auch kontrollieren zu lassen.
Der Senat ist mit der Verfahrenspflegerin der Ansicht, dass es unverständlich ist, dass die Eltern in diesem Zusammenhang vom JA nicht auf anderweitige Beratungsangebote und Hilfen hingewiesen worden sind. Die hierfür vom Vertreter des JA während der Anhörung hierzu gegebene Erklärung, die Eltern hätten keine verlässlichen Angaben über die Ursache der Verletzungen gemacht, deshalb habe man sie nicht beraten können, ist nicht nachvollziehbar. Nach den Angaben der Beteiligten ist davon auszugehen, dass es letztmals Anfang Februar 2005 zu einem persönlichen Kontakt zwischen den Eltern und dem Vertreter des JA gekommen ist. Danach haben sich offenbar die Fronten verhärtet, wozu auch die Einschaltung eines Anwaltes auf Seiten der Eltern beigetragen haben mag. Das Amtsgericht seinerseits hat es unterlassen, die nach § 50 Abs.2 Nr.2 FGG zur Unterstützung des Kindes gebotene Bestellung eines Verfahrenspflegers für das Kind vorzunehmen. Vor dem Hintergrund dieser Versäumnisse kann den Eltern nicht vorgeworfen werden, dass sie nicht frühzeitiger ihnen erst später durch die Verfahrenspflegerin bekannt gegebene beratende Hilfestellungen in Anspruch genommen haben.
4. Besorgnis erregend ist, dass das Jugendamt offenbar wie selbstverständlich davon ausgeht, dass eine Rückführung des Kindes in seine Herkunftsfamilie ausgeschlossen ist. So enthält der Hilfeplan vom 06.10.2005 (AS II, 311) keinerlei Konzept für eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie (Ziffer 2.3) und spricht in Ziffer 5 klar aus. dass „... eine Rückführung Xxxs in seine Herkunftsfamilie auf Dauer nicht möglich ...“ ist. Bereits am 04.02.2005 hat der Pfleger des JA erklärt, dass die Eltern „das Kind nicht mehr bekommen“ (Angabe der Mutter bei der Anhörung am 13.10.2005, vgl. Protokoll S. 5 = AS II, 203).
Der EGMR hat hierzu in einer Entscheidung vom 08.04.2004 (FamRZ 2005, 585) ausgeführt (in der Entscheidung vom 26.02.2004 = FamRZ 2004, 1456 wird dies als „ständige Spruchpraxis“ bezeichnet):
...
90. Der Umfang des den innerstaatlichen Behörden zustehenden Beurteilungsspielraums ist abhängig von der Natur der zugrunde liegenden Angelegenheiten und der Bedeutung der infrage stehenden Interessen. Zwar haben die Behörden, insbesondere in Eilfällen, einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Prüfung der Notwendigkeit der Inpflegenahme eines Kindes, jedoch muss der Gerichtshof im Einzelfall davon überzeugt sein, dass die vorliegenden Umstände eine Herausnahme des Kindes rechtfertigen. Der bekl. Staat hat zudem nachzuweisen, dass vor der Durchführung einer solchen Maßnahme deren Auswirkungen auf Eltern und Kind und mögliche Alternativen zur Inpflegenahme des Kindes sorgfältig geprüft wurden (K. u. T/Finnland, a.a.O., Ziff. 166; Kutzner/Deutschland, a.a.O., Ziff. 67; P, C. und S./Großbritannien, Urteil v. 16.07.2002 - Beschwerde Nr. 5647/00 -, Ziff. 116, EuGHMR 2002-VI).
91. Darüber hinaus stellt die staatliche Inobhutnahme eines neugeborenen Kindes einen äußerst schwerwiegenden Eingriff dar. Deshalb kann ein Säugling unmittelbar nach seiner Geburt nur aus außergewöhnlich zwingenden Gründen ohne vorherige Anhörung der Eltern und gegen den Willen der Mutter aus deren Obhut genommen werden (K. u. T./Finnland, a.a.O., Ziff. 168).
92. Nach erfolgter staatlicher Inobhutnahme ist ein strengerer Prüfungsmaßstab (stricter scrutiny) bei jeglichen weiteren Beschränkungen anzulegen, z.B. bei Einschränkungen des Sorge- und Umgangsrechts der Eltern und bei gesetzlichen Vorkehrungen zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes der Rechte von Eltern und Kindern auf Achtung ihres Familienlebens. Solche weitergehenden Beschränkungen beinhalten die Gefahr, dass familiäre Beziehungen zwischen den Eltern und einem kleinen Kind endgültig abgebrochen werden (vgl.: Elsholz/Deutschland (GK), Urteil v. 13.07.2000 - Beschwerde Nr-25735/94 -, Ziff. 49, EuGHMR 2000-VIII = FamRZ 2001, 341; Kutzner/Deutschland, a.a.0., Ziff. 67; Sahin/Deutschland, a.a.0., Ziff. 65).
93. Die Inpflegenahme eines Kindes stellt grundsätzlich eine vorübergehende Maßnahme dar, die zu beenden ist, sobald die Umstände dies erlauben. Alle Durchführungsmaßnahmen haben mit dem anzustrebenden Ziel der Zusammenführung von leiblichen Eltern und ihrem Kind in Einklang zu stehen (vgl.: Johansen/Norwegen, a.a.O., S. 1008 - 1009, Ziff. 78; E. B./ Italien, Urteil v. 16.11.1999 - Beschwerde Nr. 31127/96 -, Ziff. 69) ....
Diesen Anforderungen genügt die Vorgehensweise des JA nicht.
5. Es ist schließlich darauf hinzuweisen, dass es nicht Sinn und Zweck der Entziehung des Personensorgerechts ist, einem Kind „bessere Lebensbedingungen“ zu verschaffen. Es geht nicht darum, ob Xxx bei seinen leiblichen Eltern besser aufgehoben ist als bei den Pflegeeltern. Der Staat ist nur berechtigt, in das Eltern-Kind-Verhältnis einzugreifen, wenn dies zur Abwehr unmittelbar drohender, erhebliche Gefahren für das Kind geboten ist, nicht bereits dann, wenn es für das betroffene Kind zweckmäßig oder wünschenswert sein mag.
6. Die vom Amtsgericht angeordnete Entziehung der Personensorge ist daher jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr geboten. Der Beschluss ist deshalb aufzuheben und der entsprechende Antrag des Jugendamtes im Übrigen zurückzuweisen.
Eine Entscheidung über eine sofortige Rückführung des Kindes zu den Eltern und die weitere Ausgestaltung des Umgangsrechtes ist damit nicht verbunden, da diese nicht Gegenstand des Verfahrens ist. Insoweit kann jedoch auf die Ausführungen des Sachverständigen (S. 31 des GA = AS II, 413) verwiesen werden.
III.
Einer Entscheidung über die Gerichtskosten im Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil solche nicht angefallen sind, denn es kann davon ausgegangen werden, dass die Beschwerde der Antragsgegnerin im Interesse des Kindes eingelegt worden ist (§ 131 Abs. 2 KostO).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten folgt aus § 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG.
Gem. § 31 Abs. 1 Satz 1, 131 Abs. 2, 30 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1, 161 KostO ist der Geschäftswert auf den Regelsatz von 3.000 EUR festzusetzen. Gründe für eine Anhebung oder Absenkung des Regelstreitwertes bietet der vorliegende Sachverhalt nicht. Da das Rechtsmittel im Jahre 2001 eingelegt worden ist, hat die Festsetzung des Gegenstandswertes in DM zu erfolgen.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der weiteren Beschwerde (§ 621e Abs. 2 Satz 1 S.1 ZPO a.F.) liegen nicht vor.
Schäfer Dr. Hülsmann Zimmermann
Vors. Richter am Richter am Richter am
Oberlandesgericht Oberlandesgericht Oberlandesgericht
Quellt: http://www.storm-knirsch.de/OLGKlrh16UF160_05.htm