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molosovsky
Experte

Beiträge: 230


New PostErstellt: 18.08.05, 12:25     Betreff: Vor-Modern und Modern

Hero Screen Protector SP...
Hi Jakob.

Du schriebest:

> …, dass ein großer Teil der "interessanten" Fantasy der letzten Jahre
> (Mieville, VanderMeer, Mary Gentle) vor allen Dingen von der Neuzeit
> udn der Moderne fasziniert ist, und nicht, wie die klassische Fantasy,
> von einem idealisierten Mittelalter. D.h. diese "neueren" Fantasy (die
> allerdings auch nicht wirklich neu ist, siehe Peake) erfreut sich -
> oft auf kritische Art, aber dennoch erfreut sie sich - an
> Industrialisierung, an Eisenbahnen, an kruder Wissenschaft, an
> aufbrechenden sozialen Konflikten.

Ich benamse den Unterschied zwischen ›nostalgischer, konservativer‹ und
›progressiver, moderner‹ Phantastik so.

Die erste Gruppe klammert sich an die alten Vorstellungen eines
hierarchisch-konzentrischen Weltbildes: DIE WAHRHEIT oder Gott im
Zentrum um das sich in natürlicher Ordnung (womöglich entworfen von
einem intelligenten Desinger) die Einzelteile der Welt ordnen. Platon
schrieb vom Kosmos als einem Überwesen, dessen Organe die größeren
Kulturgruppen (Städte, Länder) und dessen einzelnen Zellen die
Individuuen sind. Im Fortgang des Mittelalters kristallisierte sich als
ein heikles Problem dieser Philosophie der Kontrast zwischen äußerer
und innerer Welt heraus. Bis heute schwelt der Konflikt darüber, wo man
DIE WAHRHEIT besser sucht: in der äußeren, materiellen Realität (die
Schöpfung als größtes und wundersamstes Buch Gottes), oder in der
Wirklichkeit unseres Innenlebens (der Stimme des Genius, Gewissenes,
der Schutzengel die einen direkten Draht zu Gott pflegen, siehe
Konflikt Katholizismus und Reformation).

Die zweite Gruppe bezweifelt solche einfachen Wahrheitsarchitekturen,
und versucht die Dinge im jeweiligen Kontext zu deuten. Wahrheiten
werden in Theorien umschrieben und gelten bis zur Widerlegung als
Arbeitsgrundlage und nicht als endgültig. Fundamentalisten der erstern
Fraktion nennen das schon mal ›Diktatur des Relativismus‹ (O-Ton Papst
Benedikt).

LINKTIP: In der aktuellen August-Nummer von
Le Monde
Diplomatique
findet sich ein exzellenter Essay von Jan Philipp
Reemtsma: »Muss man Religiosität respektieren? – Über Glaubensfragen
und den Stolz einer säkularen Gesellschaft«.
Ab September wird dieser Essay freigeschaltet.

Heutezutage zeigt sich der Konflikt wohl am deutlichsten im Ringen der
verschiedenen Darwindeuter untereinander (was ist der gewichtigere
Faktor zum Überleben der Arten: Kampf oder Kooperation?), sowie
zwischen den Darwinisten und den Kreationisten.

Die Herausforderung für Nebenschöpfungs-Phantastiker liegt darin, daß
eine Darstellung der Segnungen, Plagen und Lebenswelten der Moderne
schwuppdiwupp um einiges komplexer gerät, als altvordere Ordnungen mit
fixen Grenzen zwischen Gut & Böse oder Schwarz & Weiß (Manichäismus).

Grüße
Alex / molosovsky

August-Bebel-Str. 10
D — 65933 Frankfurt/M.
http://molochronik.antville.org
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