Seblon
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Beiträge: 354
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Erstellt: 14.08.05, 13:03 Betreff: Miéville und Lovecraft |
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Damit die Diskussion hier ja vielleicht weitere Früchte trägt, übertrage ich sie mal aus der (nicht mehr aktiven!) Yahoo-Group:
Seblon:
Ich habe so einige Berichte über China Miéville gelesen, wo immer wieder daraufhingewiesen wird, dass er ein sehr großer Bewunderer H.P. Lovecrafts ist, was mich tatsächlich sehr wundert.
Ich habe so einiges von Lovecraft gelesen und habe ihn im Gegensatz zu Miéville immer als auffallend konservativ und engstirnig in Bezug zu dem "Fremdartigen" empfunden. Es gibt ja das Gerücht, Lovecraft sei nicht nur antisemitischer Rassist gewesen, was sich für mein Gefühl auch z.T. innerhalb seiner Erzählungen nachweisen ließe. Das Fremdartige und Absonderliche ist bei Lovecraft immer eine Gefahr für eine gewünschte strukturierte Normalität. Chutullu steht ja eigentlich für nichts anderes als für das chaotisch Fremdartige, das die geordnete Bürgerlichkeit gefährdet. Im Gegensatz dazu habe ich den Eindruck China Miéville, aber auch Clive Barker haben gerade eine sehr starke Affinität zum Fremdartigen, zum Chaotischen, dass macht ja gerade einen großen Reiz an ihrer Literatur aus. Ihre Perspektive ist eine völlig andere, viel weniger bürgerliche, als die eines Lovecraft.
Was mag wohl Miéville an Lovecraft mögen?
Es grüßt
Seblon
Jakob:
Ich tue mich immer shcwer damit, politische und ästhtische Positionen so unmittelbar zusammenzubringen. Wahrscheinlich dürfte Lovecraft wirklich politisch am besten als konservativer eingeordnet sein, noch dazu mit einigen extremen Einschlägen - zeitweise antisemitisch, und sonst ganz allgemein "vergangenheitsorientiert". Trotzdem mag ich seine Geschichten sehr, weil sie nicht nur Abscheu und Ekel vor dem "Fremden" thematisieren, sondern auch die Faszination davon - "Der Schatten über Innsmouth" mit seiner geradezu lyrischen Beschreibung der Welt der tiefen Wesen am Ende ist dafür ein sehr schönes Beispiel. Ich sags mal so: Lovecraft ist für mich interessant und faszinierend, weil er die (Abgrenzungs-)Strategien und Probleme eines bürgerlichen Selbst mitten in der Moderne behandelt - auch, wenn er es vielleicht nicht "politisch bewusst" tut. Er teilt viel politisch interessantes mit ... Die stilistischen Lovecraft-Einschläge bei Mieville sind in jedem Fall nicht zu übersehen. Mit dem in The Scrar auftauchenden recht lovecraftschem Idol und der Auflösung dieses Handlungsstrangs macht Mieville ja praktisch beides: eine Hommage an Lovecrafts Stil und Themen und eine Kritik an ihrem politischen Einsatz. Soviel zu meinen Spekulationen, was Mieville an lovecraft findet.
molosovsky:
Hallo zusammen.
Vorweg: ich finds okey wenn man ›von oben herab‹ die Psyche, Persönlichkeit, Karriere, Ideologie eines Autors kommentiert. Klar ist das anmaßend, aber ein durchaus legitimer Weg die eigenen Gedanken zu Kunst und Unterhaltung zu fassen.
Allgemein zu Lovecraft: Ich war als Teen SEHR beeindruckt von Lovecraft. Nicht nur von seinen Geschichten, sondern eben auch vom Mensch. Houllebeque hat es »Gegen die Welt, gegen das Leben« schön herausgearbeitet: Lovecraft als Weltenhass-Onkel, der einen an der Hand nimmt und in Welten der Abscheu und des Wahnsinns entführt. – Ich habe meinen Gutteil Lovcecraft hier herumstehen und gelesen, Primär- und Sekundär-Texte sowie einige nette ›Merchandise‹-Artikel (Games Workshop »Call of Cthulhu« und den Petersons Monster-Guide). Die abseitigeren Schriften (die x Bände mit Briefen und Nachlass zu Philosophie, Wissenschaft und Geschichte u.ä.) sind n'bischen teuer. Aber in den verschiedenen Biographien und Monographien zu Lovecraft kommt für mich schon ziemlich deutlich rüber, daß der Mann ›einen Hieb‹ hatte. Das meine ich nicht respektlos, denn: »Es gibt kein gesundes Genie«, wie Egon Friedell schrieb.
Allgemein zu Miéville: Zuerstmal traue ich ihm zu – als Monsterfan der er ist – völlig gaga zu sein über Lovecrafts ›schröcklichen Weltenbau‹, und dennoch einen kühleren Blick auf dessen Ästhetik bewahren zu können. Miéville unterscheidet sich von Lovecraft auf ähnlich grundlegende Weise, wie er sich auch gegen Tolkien abgrenzt. Lovecraft und Tolkiens Phantastik ist stark von nostalgischen Kräften bestimmt, ›nach Außen‹ völlig entsexualisiert, weitestgehend frauenlos. Beide flüchten auf ihre Art vor der Moderne ins ›innere Exil‹, und erzeugen dabei ehr manieristische Komplexität, die unter der Oberfläche ziemlich stark vereinfacht. Ich kann aus Miévilles Büchern keine gleichartig grundsätzliche Abneigung der Moderne gegenüber herauslesen. Als Beispiel im Umgang mit Extremen fällt mir da ein: Lovecraft kennt keine hoffnungsspendenden Idyllen (Liebe) und Tolkien scheut kalte Grausamkeiten (Splatter). Miéville kann beides mühelos gegeneinander kontrastieren.
Soweit meine Abzirkelung, und über Sprache und Formales könnte man Lovecraft ( & Tolkien) und Miéville weiter abklopfen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten. Kurz: Miéville ist von den dreien der Vielseitigste. Für mich immer noch ein markantes Beispiel, wie weit Miéville manchmal geht, ist die ›Porno‹-Szene in »The Scar« mit Shekel. Weder Howard Philip noch John Ronald hätten sich erlaubt, sowas auch nur zu denken.
Grüße Alex / molosovsky
Seblon:
Natürlich kann sich Miéville aus rein ästhetischen (wenn man dieses Wort im Zusammenhang mit Horror-Literatur benutzen möchte ;-) )Gründen für Lovecraft begeistern, aber irritierend ist es für mich schon.
Ich hatte immer den Eindruck, dass man Lovecrafts konservative Fremdenfeindlichkeit innerhalb der Erzählungen mit Händen greifen kann. Anders als Poe hat er eine auffallende (fast angewiderte!) Distanz zur dunklen Seite seiner Geschichten. Er wirkt wie ein katholischer Priester, der nicht aufhören kann zu onanieren und immer wieder davon erzählen muss. Miéville dagegen suhlt sich mit einem Lächeln auf den Lippen (glücklicherweise!)im Fremden, Abstrusen.
Kann man (gerade als auch sehr politischer Mensch!) jemanden, der so stark von seinem ängstlichen Konservativismus geprägt ist, wie Lovecraft nur rein ästhetisch bewerten?
Es grüßt
Seblon
Jakob:
Das Bild mit dem katholischen Priester und dem onanieren klingt gar nicht so unpassend für Lovecraft ... Trotzdem finde ich, dass man ihn interessant finden kann, ohne dabei das ästhtische völlig vom politischen trennen zu müssen. Im Gegenteil - natürlich hat die Degenerationsangst und die Fremdenfeindlichkeit bei Lovecraft eine inhärent politische Dimension, und die Art, wie lovecraft diese motive sie einsetzt, macht ihn politisch nicht unbedingt sympathisch. Trotzdem ist sichtbar, wo Mieville sich für lovecraft interessiert und auch ein bisschen warum: Er bringt eben ähnliche Motive ein, aber wendet und/oder dekonstruiert sie in vielen Fällen (als konkretes Beispiel fällt mir leider noch immer nur das Idol aus The Scar ein). Anders gesagt: Lovecrafts Erzählungen bringen typische ängste der Moderne zum Ausdruck. Mieville dagegen greift die Epochen der Industrialisierung und der Moderne auf und setzt dafür die wirkungsvollen, manchmal eben auch lovecraftschen Bilder ein, gibt ihnen aber meistens irgendeinen Drehimpuls oder eine Verzerrung bei, die sie aus de Reich des mythologischen ins Reich des politischen (und politisch reflektierbaren) retten. So stelle ich mir das zumindest abstrakt und von meinem Lesegefühl her vor. Belegen kann ich das noch nicht am Text ...
Seblon:
Das ist eine echt prima Erklärung. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass Miéville Lovecrafts "Sprache des Schreckens" aus rein ästhetisch stilistischen Gründen mag und z.T. nutzt, um sie inhaltlich zu konterkarieren...
Seblon
To be continued...
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