Trotz der größeren Freiheiten, die muslimischen Männern zweifellos
gewährt werden, kann man sagen, dass viele von ihnen genauso unter der
Kontrolle ihrer Sexualität leiden wie die Frauen. Koray sagte mir, er
fühle sich ebenfalls als Opfer dieser „falschen Ordnung“, wie er es
ausdrückte, denn auch er könne nicht einfach eine Beziehung mit einer
Frau eingehen, die er liebe, sondern müsse sich an die rigiden Vorgaben
seiner Religion halten. So erwartet die durchschnittliche Familie von
ihrem Sohn, dass er eine anständige, hübsche, sittsame, jungfräuliche,
fleißige Muslimin heiratet, die ihm Kinder gebärt und sein Heim in
Ordnung hält. In vielen Fällen führt das dazu, dass Männer, die
vielleicht schon jahrelang mit einer nicht-muslimischen Frau liiert
waren, diese Beziehung mehr oder weniger freiwillig beenden und einer
arrangierten Ehe zustimmen.
Männer unter Druck
Es ist wohl auch für die jungen Männer nicht leicht, sich dem Druck zu
widersetzen, den Familien zuweilen ausüben, um ihre Sprösslinge auf den
„rechten Weg“ zu bringen. Manche Männer, mit denen ich sprach, sagten
aber auch, irgendwann habe es „klick“ gemacht, und sie hätten von sich
aus gedacht, nun sei es an der Zeit zu heiraten. Also hätten sie ihre
Eltern gebeten, eine passende muslimische Frau für sie auszusuchen.
Glücklich schienen mir diese Männer jedoch nicht zu sein. Sie hatten
zwar eine gute Ehefrau und eine gute Mutter für ihre Kinder. Aber
irgendwie, sagten fast alle, sei das Zusammenleben langweilig, weil die
Leidenschaft fehle, die sie vorher mit anderen Frauen kennengelernt
hatten.
Seyran Ates: „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift“. Ullstein Verlag, 218 Seiten, 19,90 Euro