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jiin
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Beiträge: 1267 Ort: Braunschweig
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Erstellt: 07.02.05, 14:37 Betreff: Das Verschollene Volk - Anasazi
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Hallo Ihr Lieben
den folgenden Bericht hatte ich vor einigen Jahren einmal aus einer P.M. abgetippt: ---------------------------------------------- Das Verschollene Volk - Anasazi Sie waren Priester und Händler, Bauern und Jäger. Sie bewässerten die Wüste und bauten ihre Städte in die Steilwände der Canyons, wie hier Betatakin in Arizona [Fotos > November2001 > Anasazi > "Steilwand.jpg"]. Vom 8. Jahrhundert an erschufen die Anasazi Nordamerikas höchstentwickelte Kultur und beherrschten jahrhundertelang ein riesiges Gebiet. Doch um 1300 verließen sie ihre Felsensiedlungen - und verschwanden aus der Geschichte. Bis heute rätseln Archäologen, was sie vertrieben hat. [Von Cay Rademacher] Die Kannibalen schlichen sich in den ersten Frühlingstagen in das abgelegene Tal in der südwestlichen Halbwüste Nordamerikas. Ihr Ziel war die Siedlung eines Indianerclans: drei Grubenhäuser, in denen rund ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder wohnten. Deren Hütten hatten einen kreisförmigen Grundriss und waren gut einen Meter tief in die Erde eingegraben; das Dach aus Zweigen und Lehm wurde von Pfosten aus Wacholderholz getragen. Daneben standen Vorratskammern, doch die waren bis auf eine Hand voll Maiskörner der letztjährigen Ernte leer. Die abgezehrten Menschen ernährten sich hauptsächlich von Wildpflanzen. Der Überfall muß überraschend gekommen sein, denn die Bewohner hatten nicht einmal Zeit, sich in ihren Erdhäusern zu verschanzen. Vielleicht konnten einige fliehen, vielleicht wurden sie von den Angreifern verschleppt: Sicher ist nur, daß drei Männer, eine Frau und drei Kinder - etwa 14, 11 und 7 Jahre alt - mit Keulen oder Steinen erschlagen wurden. Die Angreifer zerhackten die Toten, schnitten mit Steinklingen die Muskeln von den Gebeinen, um sie über dem Feuer zu braten. Sie saugten das Mark aus den zerbrochenen Knochen und legten die abgeschlagenen Köpfe der Kinder auf glühende Holzkohle, um das Hirn im Schädel zu garen. Als die Aggressoren ihren Hunger gestillt hatten, warfen sie die Knochen in die Hütten - allein in den größten wurden später etwa 1150 Relikte menschlicher Gebeine gefunden. In einem bizarren Ritual plazierten sie zwei Männerköpfe links und rechts des Herdfeuers. Die Schätze der Opfer aber - Mahlsteine, Keramiktöpfe, Knochennadeln, Steinhämmer, Sandalen aus Yucca-Fasern, Ketten aus polierten Truthahnknochen und Steinen - verschmähten die Angreifer. Ehe sie den Ort verließen, drang einer von ihnen noch einmal in eine Behausung ein und ging zum inzwischen erloschenen Herdfeuer, dem tatsächlichen und symbolischen Mittelpunkt, dem heiligsten Ort des Hauses. Dort hockte er sich hin und entleerte sich - eine letzte Geste der Verachtung. -- [02] -- So zumindest rekonstruiert der amerikanische Archäologe Brian R. Billman den Untergang einer Indianersiedlung im Jahre 1147 n. Chr., der Forscher die Codenummer 5MT10010 gegeben haben. Sie liegt im Cowboy Wash, einem ausgetrockneten Tal im Südwesten des Staates Colorado. Billman und zwei Kollegen sind schon 1992 auf diesen Ort gestoßen, doch es dauerte Jahre, bis sie das Knochenpuzzle zusammensetzen konnten. Sie bargen sogar versteinerte menschliche Ausscheidungen in der Herdasche. Richard Marlar, ein Pathologe und Biochemiker, fand darin Spuren von humanem Myoglobin, einer Substanz, die normalerweise nur im Muskel- und Knochengewebe, nicht aber im Verdauungstrakt vorkommt: ein Beleg dafür, daß jemand Menschenfleisch gegessen und verdaut hatte. Im Frühjahr 2000 publizierten Billman und seine Kollegen ihr Ergebnis - und wurden dafür heftig angegriffen. Unzweifelhaft sind die Bewohner von 5MT10010 ermordet worden. Doch manche Forscher glauben, daß die Verstümmelung der Körper auf ein Begräbnisritual hindeute statt auf Kannibalismus. Noch weiß niemand, wer die Angreifer waren und weshalb sie mit solcher Brutalität vorgegangen sind. Sicher ist jedoch die Identität der Opfer: es waren Anasazi, Angehörige des geheimnissvollsten Indianervolkes Nordamerikas. Um 700 n. Chr. schufen die Anasazi eine große und rätselhafte Kultur. Sie beherrschten ein etwa 400000 Quadratkilometer umfassendes Gebiet, eine Landschaft der Extreme: Bis zu 2600 Meter emporwachsende Hochebenen werden von zahllosen, oft mehrere hundert Meter tiefen Canyons zerissen; dazwischen liegen große, flache Wüstenbassins. Das Land ist trocken, nur wenige Flüsse versorgen die Randbereiche ganzjährig mit Wasser. Im Winter fällt Schnee, im Sommer kann die Temperatur nachts null Grad und tagsüber rund 40 Grad erreichen - dann ist es so heiß, daß Gewitterregen verdunstet, ehe er den Boden erreicht. In dieser unwirtlichen Gegend bauten die Anasazi Städte und Kultorte, legten ein Straßennetz an und terrassierte Felder, schufen eine Kultur mit hochentwickelter Religion, Astronomie und Kunst. Doch um 1300 verließen sie das Land, nicht ein Mensch blieb in der riesigen Region zurück. Die Anasazi verschwanden einfach aus der Geschichte. Selbst ihren wirklichen Namen kennen wir nicht. Anasazi - "Vorfahren eines anderen Volkes" - nannten die Navajos sie, als sie Anfang des 16. Jahrhunderts von Norden kommend ins Land einwanderten und ehrfürchtig vor den verlassenen Monumenten standen. Sie nutzten die gut erhaltenen Siedlungen nicht, sondern bauten ihre eigenen in der Halbwüste. Denn ihnen galten die alten Plätze als von bösen Geistern bewohnt. Meine Suche nach dem Geheimnis der Anasazi wird mich zu rätselhaften Felszeichnungen und aufgegebenen Städten führen, zu schnurgeraden Wüstenstraßen und verlassenen Felsenfestungen, zu einsamen Kultstätten und unvollendeten Heiligtümern. Und je mehr ich über das verschollene Volk erfahren werde, desto rätselhafter wird es mir erscheinen. -- [03] -- Das Tal der Steinbilder Die Reise beginnt in den Vororten von Albuquerque. Im Nordwesten der größten Stadt von New Mexico liegt der Rinconada Canyon, ein halbrunder, knapp zwei Kilometer durchmessender Trichter aus Stein und Sand. Der feine, gelbe Sandboden speichert die Sonnenhitze, die gut 100 bis 200 Meter steil wie Stadionränge ansteigenden Flanken des Canyons sind mit grauschwarzen Basaltbrocken aller Größen bedeckt. Spuren eines alten Vulkanausbruchs. Vorsichtig, um keine Klapperschlangen aufzuscheuchen, steige ich zwischen den Felsen auf - und stehe plötzlich in einem steinzeitlichen Bilderreigen: Menschen mit viereckigen Körpern, strichförmigen Gliedmaßen und ungewöhnlich kleinen, vielleicht mit Masken bedeckten Köpfen; Hände und Füße; Vögel, Schlangen und Eidechsen; gezackte Linien, Kreise und Spiralen. Alle Darstellungen sind in den Basalt gekratzt: die schwach ockerfarben schimmernden Zeugnisse einer erwachenden Hochkultur. Seit mindestens 11000 v. Chr. leben Menschen im Südwesten der USA. Anfangs waren es Nomaden, die sich von der Jagd und Wildpflanzen ernährten. Spätestens im ersten Jahrtausend v. Chr. aber legten sie die ersten Maisfelder an. Mais war zuerst in Mittelamerika gezüchtet worden, und sein Anbau sowie der fast zeitgleich eingeführter Kürbis und die einige Jahrhunderte später folgenden Bohnen machten aus den Nomaden seßhafte Bauern. Zwischen 200 und 500 n. Chr. schuf ein unbekannter Handwerker den ersten Topf aus gebranntem Lehm. Bis dahin waren aus Pflanzenfasern und Zweigen kunstvoll geflochtene Körbe Allzweckbehälter gewesen, die - mit Pinienharz verklebt - wasserdicht waren. Mittels erhitzter Steine konnte in ihnen sogar gekocht werden. Die neuen Tongefäße aber erwiesen sich als dauerhafter, wasserdichter und unempfindlicher gegen Hitze. Die Indianer formten ihre Gefäße aus dünnen Tonwülsten, die sie übereinander legten. Sie strichen die Flächen glatt und dekorierten die Außenseiten mit einfachen Rillenornamenten oder abstraken Mustern in Schwarzweiß. Ungefähr zur gleichen Zeit vervollkommneten die Indianer des Südwestens ihre Fähigkeit, Zeichnungen in den Fels zu kratzen. Und so wie die Schalen und Kannen sich im Laufe der Jahrhunderte nur noch wenig veränderten, blieb auch die Kunst der Petroglyphen bis zum Erlöschen der Anasazi-Kultur erstaunlich einheitlich. Um 700 n. Chr. begann die Blütezeit der Anasazi. An manchen Orten errichteten sie erstmals große, oberirdische Raumkomplexe, Städte, in denen bis zu 600 Menschen lebten: die Pueblos. Deren Zentren waren die kivas - drei bis fünf Meter tief in die Erde getriebene Raumzylinder, meist mit flachem, von hölzernen Pfosten getragenen Dach, das bündig mit dem Boden abschloß. Über eine vom Dach hinabführende Leiter gelangte man ins Innere, und die Einstiegsöffnung war zugleich Rauchabzug für die darunter liegende Feuerstelle. -- [04] -- Kleine Bodenöffnungen waren mit Fellen oder Hölzern bedeckt und dienten als Fußtrommeln, ein winziges Loch annähernd in Raummitte war das siparu - Symbol für die Öffnung der Erde, aus der alle Menschen hervorgegangen waren. Die Kiva war Arbeitsstatt und Kultraum zugleich: Hier arbeiteten die Männer und Frauen, hier versammelten sie sich zu religiösen Festen, um Regen zu erflehen oder eine Krankheit eines Clanmitgliedes zu vertreiben. Das zumindest glauben die Archäologen. Doch ihnen fehlt dafür jeglicher Beweis, sie arbeiten mit Analogien zum Leben heutiger Pueblo-Indianer, etwa der Hopi und Zuni. Diese leben zwar südlich des ehemaligen Anasazi-Landes, sind aber womöglich die kulturellen, vielleicht sogar die direkten Nachfahren der Anasazi. Die Religionen und Bräuche der Pueblo-Bewohner könnten deshalb der Schlüssel zu jener untergegangenen Zivilisation sein. Und da in den Pueblos von heute zylindrische Kivas kultischen und profanen Zwecken dienen, wird vermutet, daß sie früher zu den gleichen Zwecken genutzt worden sind. Ein Rätsel sind auch die Petroglyphen: Tausende von Steinbildern haben die Anasazi hinterlassen - Chiffren eines gigantischen kryptologischen Rätsels. Steht die Spirale für die mythische Erdöffnung, aus der die ersten Menschen kamen? Oder ist sie ein Zeichen für einen neuen, seltsamen Stern, der einst am Nachthimmel strahlte - vielleicht das Leuchten einer Supernova von 1054? Und warum werden immer wieder sechsfingrige Hände abgebildet: magisches Symbol oder Indiz dafür, daß bei den Anasazi diese Mißbildung ungewöhnlich häufig aufgetreten ist? Vielleicht ist irgendwo in diesen Zeichen auch die Lösung für das nächste Rätsel der Anasazi versteckt: weshalb aus einer lose organisierten Kultur kleiner Dörfer mit Bauern und Töpfern plötzlich ein überregionales, straff organisiertes politisch-religiöses Gebilde entstand. Die Ruine in der Wüste Zwei Stunden nordwestlich von Albuquerque öffnet sich vor mir auf einmal ein Canyon, ein mächtiger Graben in der sonst nur leicht gewellten Landschaft. Bizarr gezackte Felsen stehen wie Burgen vor dem sanft abfallenden Zugang zu einem ungefähr 40 Kilometer langen, etwa ein Kilometer breiten und gut 150 Kilometer tiefen Riß in der Erde: Chaco Canyon. Die südliche Flanke des Grabens steigt mäßig steil bis zur Halbwüstenebene an und ist mit niedrigen Büschen, Kakteen und Beifuß bewachsen. Die Nordseite ragt lotrecht auf wie eine Zyklopenmauer. Der schroffe, von senkrechten Spalten durchzogene Sandstein leuchtet in der Mittagssonne weiß, gelb, ocker und rot. Der einzig sichtbare Weg nach oben ist ein langer, nicht einmal schulterbreiter Riß in einem riesigen Sandsteinblock, durch den ich einigermaßen sicher klettern kann: -- [05] -- Von der Erosion abgesprengte Steintrümmer haben natürliche Treppen gebildet. Die Ebene 150 Meter oberhalb des Canyons besteht aus waagrecht aufeinander liegenden, von Wind und Sand polierten Steinplatten, in die sich niedriges Buschwerk gekrallt hat. Von hier oben blicke ich auf die Ruinen einer Siedlung hinab, die einmal das Zentrum eines Großreiches gewesen sein muß: Unter mir am Grund des Canyons liegt der Pueblo Bonito, ein halbkreisförmiges Ensemble von Steinbauten, so groß wie zwei Fußballfelder. Um das Jahr 900 n. Chr. haben Anasazi-Baumeister mit seiner Errichtung begonnen und über etwa sieben Generationen den Bauplan streng verfolgt. Die runde, der Steilwand zugewandte Seite war einst vier, vielleicht sogar fünf Stockwerke hoch; die Raumfluchten werden zum Rand des Halbrunds immer niedriger und sind an der geraden Seite nur eingeschossig. Im Innern lagen Plätze und zwei große Kivas, die Hunderten von Menschen Platz boten, sowie 30 kleinere Kivas und mehr als 600 Räume mit rechteckigem Grundriß. Mindestens eine Million Sandsteine mit einem Gesamtgewicht von über 30000 Tonnen haben die Anasazi aus der Canyonwand gebrochen, präzise behauen und mit Lehmmörtel zu einem raffiniert konstruierten zweischaligen Mauerwerk verbaut. Über 20000 Baumstämme - jeder sorgfältig entrindet und luftgetrocknet - trugen Dächer und Zwischendecken. Die nächsten Wälder mit Douglasfichten und Ponderosakiefern lagen damals wahrscheinlich 80 Kilometer entfernt. Die Anasazi kannten weder das Rad, noch besaßen sie Tragtiere - jeder Stamm muß also mit Menschenkraft durch die Halbwüste geschleppt worden sein. Um 1100 hat Pueblo Bonito den Zenit seiner Entwicklung erreicht. Frauen und Männer arbeiten auf den beiden großen offenen Plätzen und den Dächern der Raumfluchten und Kivas. Wer etwas in den nur durch wenige Öffnungen erhellten Innenräumen zu tun hat, gelangt auf Leitern über die Dächer hinein. Aus diesen Zugängen steigen dünne Rauchsäulen der Herdfeuer auf. Die Menschen sind im Sommer nur mit Lendenschurz und geflochtenen Sandalen bekleidet. Alle haben unnatürlich abgeflachte Hinterköpfe - Folge des Brauchs, Babys fest an die Tragewiegen zu binden. Die Männer bestellen die Felder im Canyongrund vor dem Pueblo. Regenwasser, das über der Halbwüste oberhalb des Canyons niedergegangen ist, wird mit Dämmen und in den Fels gegrabenen Rinnen über die lotrechte Wand auf die Mais-, Kürbis- und Bohnenfelder geleitet. Die Frauen knien vor kleinen steinernen Platten, auf die sie Maiskörner werfen und mit runden Steinen zermahlen, oder sie fertigen Schalen und Töpfe aus Ton; die komplizierten Schwarzweiß-Muster werden von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Die Existenz von Pueblo Bonito an einem Ort wie Chaco Canyon wäre allein schon erstaunlich, doch es ist fast unglaublich, daß es in der Umgebung 13 weitere "Great Houses" gab, wie die Forscher diese ummauerten Städte nennen. Etwas kleiner und nicht ganz so alt, aber ähnlich imposant, sorgfältig geplant und gebaut wie Pueblo Bonito. Die Great Houses scheinen weniger nach landschaftlichen oder Strategischen Gesichtspunkten angelegt worden zu sein als nach astronomischen. Fast alle sind in Nord-Süd oder West-Ost-Achse ausgerichtet. In Pueblo Bonito ist eine Tür erhalten geblieben, die eine Eckwand durchbricht. Sie war so angeordnet, daß die aufgehende Sonne am Tag der Wintersonnenwende ihre Strahlen genau durch diese Öffnung in den dahinterliegenden Raum warf. Daneben fanden Archäologen im Chaco Canyon noch zehn alleinstehende "Great Kivas" mit Durchmessern von bis zu 19 Metern sowie Hunderte kleiner, weniger sorgfältig geplanter Siedlungen. Irgendjemand muß über lange Zeiträume diese gewaltigen Bauvorhaben geleitet haben. Insgesamt sind schätzungsweise 200000 Baumstämme und über zehn Millionen Sandsteinblöcke herangeschafft und verarbeitet worden: eine koordinierte Massenarbeit, die ein Indiz ist für eine hierarchische, straff organisierte Gesellschaft. Haben Könige oder Priester diese Schufterei befohlen? Türkise, die aus den Santa Fe Mountains geborchen und die als Handelsware oder als Tribut nach Chaco gelangt waren, wurden sowohl in den Great Houses als auch in den kleinen Siedlungen gefunden - allerdings in unterschiedlicher Form: In den Großkomplexen entdeckten Ausgräber Anhänger aus Türkis und Schmuckstücke wie eine Froschfigur aus schwarzer, polierter Pechkohle mit eingelegten Augen oder eine vierstrangige Kette aus Türkis - Luxuswaren. In den Dörfern dagegen fanden sie nur Türkissplitter - also Reste der Verarbeitung. Lebte in den kleinen Siedlungen das einfache Volk, dessen Handwerker jene Schmuckstücke schufen, mit denen sich die Herrschenden in den großen Pueblos schmückten? Doch wo lagen die Gräber dieser Herrscher? In der Nähe der Dörfer fanden Archäologen so viele - schlichte - Begräbnisstätten, wie nach Größe und Besiedlungsdauer der Anlagen zu erwarten waren. Bei Pueblo Bonito und den anderen Great Houses hingegen fanden sie zwar Tote mit reichen Grabbeigaben, aber sie entdeckten selten mehr als 20 Gräber - viel zu wenig Leichname für eine mehrere hundert Jahre währende Besiedlung, selbst wenn nur eine sehr kleine Elite in der Nähe der Großkomplexe hätte bestattet werden dürfen. Wurden die Gräber vielleicht irgendwo in der Wüste angelegt, außerhalb des Canyons? -- [07] -- Das Geheimnis der Straßen Inzwischen sind die Forscher sicher, daß Chaco keine isolierte, auf den Canyon und dessen Umland beschränkte Kultur gewesen sein kann. Seit den siebziger Jahren, seit Archäologen systematisch das unzugängliche Gelände um den Canyon zu Fuß erkunden und zudem Luftbilder auswerten können, wird immer deutlicher, daß Chaco Zentrum eines viel größeren und komplexeren Gebildes mit einem weit verzweigten Straßensystemgewesen ist. Über 200 Kilometer sind bis heute ermittelt worden; manche Forscher vermuten, daß die Gesamtlänge einst über 2400 Kilometer betragen hat. Die Anasazi haben, vermutlich nur nach Augenmaß, erstaunlich gerade Wege durch die Wüste gelegt; meist haben sie nur die Strecke sorgfältig von Geröll und Gebüsch gereinigt, an einigen Stellen aber sogar den Felsen bearbeitet. Lag ein sehr großer Felsen im Weg, dann schlugen sie lieber eine Treppe hinein, als ihn zu umgehen. Mache Straßen führen zu "Außensiedlungen", zu Satellieten - Pueblos von zum Teil erstaunlicher Größe. Deren Architektur und die in ihnen gefundene Keramik stimmt mit der von Chaco überein. Der Anthropologe Stephen Lekson vermutet, Daß der Wüstencanyon Zentrum eines rund 260000 Quadratkilometer großen Gebiets gewesen ist: Der Einfluß von Chaco reichte vom südlichen Colorado bis ins nördliche Mexiko, von der Region um Santa Fe bis nach Arizona und Utah. Die Menschen von Chaco haben Handel getrieben: Türkise aus den Santa Fe Mountains, rote Papageien und Kupferglocken aus Mittelamerika sowie Muschelschalen von der kalifornischen Küste gehörten zu den begehrten, gegen dekorierte Keramik eingetauschten Waren. Vielleicht haben die Herrscher von Chaco sogar über Armeen verfügt, die sie jenseits des Canyons aussandten - auch wenn die Ruinen keine Hinweise auf gewaltsame Auseinandersetzung liefern. Doch was sollten wandernde Händler oder auch Truppen auf bis zu neun Meter breiten Straßen? Wohin sollten manche Wege führen, die abrupt irgendwo in der Wüste enden? Und welchen Zweck sollten Straßen haben, die viele Meilen lang parallel nebeneinander laufen? Stephen Lekson glaubt, daß das "Chacoan Regional System" selbst zur Blütezeit dieses "Staatswesens" zwar riesig, aber karg gewesen ist. Archäologen schätzen anhand der Zahl der Feuerstellen und gefundener Keramikscherben sowie der maximal nutzbaren Anbaufläche im Chaco Canyon, daß dort insgesamt nie mehr als 4000 bis 6000 Menschen gelebt haben - und im gesamten Einflußbereich höchstens 30000 Einwohner. Und selbst die größten Außensiedlungen können kaum mehr als ein paar Hundert Einwohner beherbergt haben. Die Halbwüste war also menschenleer. Niemals, so Lekson, sei hier der Handel so intensiv, seien Armeen so groß gewesen, als daß man dafür ein derart großzügig ausgebautes Wegesystem benötigt hätte. Leksons Schluß: Die Straßen müssen kultische Funktionen gehabt haben. Chaco könnte das spirituelle Zentrum einer größeren Region gewesen sein, vielleicht gar das aus späteren Indianermythen bekannte " Weiße Haus", der heilige Ort der Mitte - Pendant zum "Nördlichen Ort", dem mythischen Eingang zur Unterwelt im Norden. In gewisser Weise also eine Art Himmel auf Erden. Lekson sieht Pilgerscharen von weither tagelang gen Chaco ziehen. Die übertriebene Breite der Straßen, deren absurde Geradlinigkeit, ja selbst manches abrupte Ende in der Wüste bekämen so einen Sinn: Vielleicht führten diese Wege zu heiligen Orten in der Wildnis, zu Plätzen von besonderer sakraler Bedeutung. In den Great Houses hätten demnach vielleicht nur 50 bis 100 Menschen - etwa Priester - gelebt. Und die großen Kivas und Raumfluchten hätten dazu gedient, zu bestimmten Zeiten Pilgerscharen und die zu deren Versorgung nötigen Vorräte aufzunehmen. Kamen die Herrscher der Pueblos einst aus Mittelamerika? Bei Pueblo Bonito und den anderen Komplexen handele es sich somit um keine Wohn-, sondern um Kultstätten. Lekson zufolge war Chaco Canyon das Herz einer "rituellen Landschaft",in der jeder Berg, jeder Felsen, jede Quelle, jede Siedlung und deren Ordnung zueinander religiöse Bedeutungen hatten; nichts in dieser Welt war in den Augen ihrer Bewohner zufällig. Beweisen kann der Anthropologe aus Colorado all das nicht. Doch keine der anderen Theorien vermag so viele scheinbar widersinnige Aspekte der Chaco-Kultur zu erklären. Allerdings schafft auch Lekson eines nicht: einen Grund dafür anzugeben, weshalb dieses ausgefeilte System so plötzlich kollabiert ist. Die tödliche Trockenzeit Aus den Jahresringen der beim Bau verwendeten Stämme können Archäologen heute eine verläßliche Chronologie erstellen. Zudem geben die Baumringe ebenso wie Pflanzenreste (Pollen, Samen, Kerne) in alten Aschestellen und die seit langem hier herrschenden Trockenheit erhaltenen Rattennester Hinweise auf das frühere Klima. All diese Daten zeigen, daß im Jahr 1130 eine Dürreperiode eingesetzt hat, die ein halbes Jahrhundert währte. Die Anasazi von Chaco Canyon hatten schon zuvor schwere Trockenzeiten überstanden, doch diesmal hielten sie nicht durch: Nach 1130 wurde kein Baum mehr geschlagen, um die Great Houses auszubauen oder instandzuhalten. -- [09] -- Binnen weniger Jahre rafften die Einwohner ihre Habseligkeiten vom Mahlstein bis zur Schmuckkette zusammen und zogen fort. Ein Öko-Kollaps? Gab der über die Jahrhunderte ausgelaugte Boden nicht mehr genügend Ertrag her für eine ständig wachsende Bevölkerung, zumal in Zeiten einer Dürre? Wenn es so war, dann muß die Not gewaltig gewesen sein, denn es snd weltweit in der Geschichte nur wenige Beispiele bekannt, in denen ein Bauernvolk sein angestammtes Land bis auf den letzten Mann verließ, um niemals wiederzukehren. Und wenn zudem Chaco ein spirituelles Zentrum, gar das verheißene "Weiße Haus" gewesen ist, dann muß die Situation so verzweifelt gewesen sein, daß selbst die Religion keinen Trost mehr bot. Die Menschen müssen sich von den Göttern verlassen gefühlt haben. Oder kehrten sie, ganz im Gegenteil, dem Canyon jubelnd für immer den Rücken? Für den Anthropologen Christy Turner ist der Zusammenbruch von Chaco nicht Folge einer Umweltkatastrophe, sondern einer sozialen Implosion. Er war - bereits 1969 - der erste, der das bis dahin verbreitete Bild der Anasazi als friedliebendes Bauernvolk in Frage stellte. Turner waren Knochen aufgefallen mit Kratzspuren, als wäre das Fleisch abgezogen worden; andere waren so zertrümmert, als hätte man sie verkürzt, damit sie in einen Kochtopf passten. Schon vor Turner hatten Archäologen Hinweise auf Kannibalismus entdeckt, doch niemand war in seinen Folgerungen so radikal wie der Mann aus Arizona: Für ihn war der rituelle Verzehr von Menschenfleisch von großer Bedeutung in einer keineswegs pazifistischen Anasazi-Gesellschaft. Inzwischen glaubte Turner, 38 kannibalische Fundstätten identifizieren zu können, an denen insgesamt mindestens 286 Opfer verzehrt worden sind - zu viele, als daß sie als Einzelfälle abgetan werden könnten. Der Fluch der Kannibalen In seinen Buch "Man Corn" entwirft Turner ein ebenso grandioses wie Furcht erregendes Bild: Rituelle Menschenopfer waren erwiesenermaßen Brauch bei manchen mittelamerikanischen Hochkulturen. Nach Turner könnte sich um das Jahr 900 eine kleine Truppe von Tolteken gen Norden aufgemacht haben. Diese Konquistadoren hättn die Anasazi unterworfen und ihr Reich fortan von Chaco Canyon aus regiert. Bei einem der Great Houses fanden Archäologen einen Totenschädel mit angespitzten Zähnen: ein Brauch, der nur aus Mittelamerika bekannt ist. In Chetro Ketl, einen Nachbarkomplex von Pueblo Bonito, wurde ein großer freier Platz von einer Pfeiler-Kolonade begrenzt - eine architektonische Form, die sonst im Südwesten der USA unbekannt ist, nicht aber in Mittelamerika. Die fremde Herrscherschicht könnte ihre Macht durch Terror gesichert haben - durch den größten Schrecken, den sie bei den Unterjochten überhaupt auslösen konnten: Sie aßen sie auf. -- [10] -- Turner glaubt, Kannibalismus sei das Mittel gewesen, um die Anasazi gefügig zu halten - bis zu jener Dürreperiode um 1130. Dann sei die Herrschaft der Menschenfresser, die vielleicht schon durch die Dürre und die davon ausgelösten Mißernten ins Schwanken geraten war, durch eine Revolte zerstört worden. Die befreiten Anasazi hätten das Tal des Schreckens verlassen, und anschließend sei Chaco Canyon 800 Jahre lang menschenleer geblieben - ein Ort, auf dem ein Fluch lag. (Brian Billman und seine Kollegen - die Entdecker der Menschenfresseropfer in Cowboy Wash mehr als 100 Kilometer nordwestlich von Chaco Canyon - glauben dagegen nicht an die Existenz toltekischer Menschenfresser: Es gäbe kein Indiz dafür, daß die Siedlung "unter der Kontrolle von Chaco gestanden habe". Zudem seien in der Region außer aus der Fundstelle 5MT10010 weitere Fälle von Kannibalismus bekannt. Alle werden auf die Zeitspanne von etwa 1150 bis 1175 datiert - also nach dem Kollaps des Chaco-Phänomens, nicht zu dessen Blüte.) Die Menschen aus Chaco Canyon jedenfalls wanderten, so vermutet Turner, um 1130 rund 100 bis 120 Kilometer nach Norden, wo es schon viele Siedlungen gab, mit denen sie seit langem Handel betrieben hatten. Niemand weiß, ob sie - womöglich wegen der katastrophalen Mißernte von Hunger und religiöser Verwirrung getrieben - als Eroberer oder als Flüchtlinge kamen. Die Trutzburg im Felsen Auch im Norden lebten seit Jahrhunderten Anasazi: Angehörige eines Kulturkreises, dessen Zentren sich in großen Canyons erstreckten - im Canyon de Chelly in Arizona, bei Hovenweep in Utah, im Goodman Canyon und in Mesa Verde in Colorado, dem Namensgeber dieser Kultur. Und ebendort, in Mesa Verde, sollten die Anasazi ihre letzte, ebenso spektakuläre wie bizarre Blütezeit erleben. "Mesa Verde", grüner Tisch, nannten spanische Entdecker im 16. Jahrhundert ein 24 mal 32 Kilometer großes Plateau im südlichen Colorado, das sich 600 Meter nahezu lotrecht aus den sanft gewellten Ausläufern südlich der Rocky Mountains erhebt. Die Luft oben ist heiß, aber so klar, daß ich die 160 Kilometer entfernten San Juan Mountains gut erkennen kann. Das Plateau liegt 1800 bis 2600 Meter über dem Meeresspiegel, es duftet wie am Mittelmeer nach Pinien, Wacholder, Beifuß und heißem Sand. Die Wälder sind licht, die meisten Bäume kaum doppelt mannshoch - verkrüppelt von heißen Sommern, strengen Wintern und Wassermangel. Die Mesa wird von rund zwei Dutzend kilometer langen Canyons zerschnitten - 200 bis 300 Meter tiefen und beinahe ebenso breiten, weiß, gelb und ocker schimmernden Felsenrissen. Die Wände fallen lotrecht ab, bis sie auf uralte, längst von Bäumen und Büschen bewachsene Geröllhalden treffen, die im steilen Winkel bis zum Talgrund führen. -- [11] -- Die einzigen Wasserquellen liegen versteckt in Nischen der Steilwände, 200 bis 270 Meter über dem Talgrund. Das Hochplateau besteht zum größten Teil aus Sandstein, der Schnee und Regen aufsaugt wie ein Schwamm. 30 bis 100 Meter tiefer verhindert eine wasserdichte Schicht, daß die Niederschläge noch weiter hinunterdringen. Sie fließen seitlich ab - und treten als Rinnsale aus den Canyonwänden. Spätestens um 500 n. Chr. haben die Anasazi die Hochebene von Mesa Verde besiedelt. Die geringen Niederschläge reichten nur zur Bewässerung der Felder. Wasser für den täglichen Bedarf holten die Indianer aus Quellen in den Steilwänden, zu denen sie, beladen mit Tonkrügen oder Körben, in waghalsigen Klettereien hinabstiegen. Sie trieben wahrscheinlich mit Chaco Handel, doch scheinen sie nie zu dessen "System" gehört zu haben: Ihre Keramik ist mit breiteren, kräftigeren Schwarzweiß-Ornamenten verziert als die des Südens, und ihre Kivas haben einen viereckigen Annex, was auf religiöse Unterschiede, zumindest aber andere Rituale hindeutet. Man weiß heute nicht einmal, ob die Menschen von Chaco und Mesa Verde die gleiche Sprache gesprochen haben. Nur soviel ist klar: Anfangs lebten die Anasazi von Mesa Verde auf dem Hochplateau. Erst um 1190 - kurz nach dem Zusammenbruch von Chaco 120 Kilometer südlich und dem Ausbruch kannibalischer Gewalt in Cowboy Wash wenige Meilen westlich - verließen die Anasazi ihre Siedlungen auf der Hochebene und zogen in die schwer zugänglichen Canyonwände. Sie bauten Nischen unter Felsüberhängen aus, indem sie dort Räume, Kivas und Türme aus Sandstein hineinsetzten. Oft sind es nur winzige Komplexe, die gerade einer Familie Platz geboten haben. Doch mindestens ein Dutzend der über 600 so genannten "Cliff Dwellings" an den Canyonwänden Mesa Verdes sind regelrechte Felsenstädte. Die größte Anlage - "Cliff Palace" - liegt in einer 99 Meter langen, bis zu 27,5 Meter tiefen und 18,3 Meter hohen Nische von Mesa Verde: 217 Räume, 23 Kivas, ein runder und ein viereckiger Turm; Platz genug für 200 bis 250 Menschen. Zur gleichen Zeit gehen die Anasazi auch in anderen Canyons in den heutigen Staaten Colorado, Utah und Arizona daran, Siedlungen in Steilwänden anzulegen. Warum? Manche, aber längst nicht alle Felsenstädte liegen an den kostbaren Wasserstellen. Die Nischen schützen das empfindliche Sandstein-Lehm-Mauerwerk vor Regen und Schnee. Und viele Komplexe sind so angeordnet, daß die tief stehende Wintersonne sie bescheint und in der kalten Jahreszeit erwärmt, während die hoch stehende Sommersonne sie nicht erreicht, es in den Nischen also angenehm kühl bleibt. Doch kann dies die immensen Nachteile aufwiegen? Vor und nach jeder Arbeit - auf den hochgelegenen Feldern, zur Jagd oder zum Handel - müssen die Menschen haarsträubende Kletterpartien absolvieren. -- [12] -- Es muß ein Himmelfahrtskommando gewesen sein, einen Korb erntefrischen Mais, einen erlegten Hirsch oder gar Bausteine und Baumstämme zur Felsensiedlung hinabzutransportieren. Die meisten Anlagen waren zum Abgrund hin durch keine Mauer oder Balustrade geschützt - ein lebensgefährlicher Platz für Kinder. Ich besuche mit Bob Smith, einem Archäologen und Ranger der Nationalparkverwaltung eine Siedlung namens "Balcony House" am südlichen Rand des Nationalparks, 200 Meter über dem Grund des Soda Canyon. Schon der Weg, den die Ranger ausgebaut haben, um von der Hochebene zur Felsensiedlung hinabzusteigen, ist nichts für Menschen, die leicht schwindelig werden: Zunächst geht es eine schmale Felsspalte einige Meter neben Balcony House hinab, dann einen Trampelpfad hoch oben an der Flanke des Canyons entlang, von dort schließlich eine rund zehn Meter lange Holzleiter wieder hinauf, im Rücken nichts als 200 Meter Luft. Smith weist auf einen winzigen, extrem steilen Riß im Felsen unmittelbar bei der Siedlung: "Dort sind die Anasazi hinaufgeklettert. Die Spalte ist so schmal, daß ein Mann sie gegen eine ganze Armee verteidigen könnte." Balcony House - einstmals 35 bis 40 Räume, das Heim für höchstens 50 Menschen - scheint eine Festung in der Festung zu sein. Eine Felszunge teilt die Nische in zwei Hälften. Wer von der einen in die andere gelangen will, hätte sich einst außen herum, den Canyon zu Füßen, vorbeischlängeln können. Doch selbst hier bauten die Bewohner noch einen Wall. Zunächst, das läßt das Mauerwerk erkennen, gab es dort noch eine Pforte, aber die wurde später zugemauert. Wer in die hintere Hälfte wollte, mußte entweder eine (heute verschwundene) wackelige hölzerne Balustrade betreten, die über dem Abgrund lag - oder durch einen 47 Zentimeter breiten, 70 Zentimeter hohen und 3,5 Meter langen Tunnel kriechen, den die Anasazi durch die Felszunge geschlagen hatten. Ich muß auf Knien und Ellenbogen robben, die Schultern verrenkt, damit ich nicht an den Seitenwänden steckenbleibe. Auf halben Weg gibt es eine Art Kammer, dann wird der Tunnel wieder eng. War diese künstliche Höhle in der Mitte des Felsens einst ein kultischer Platz? Oder war der Gang ein verschanzter Zuweg durch den Fels, den kein Angreifer je hätte erstürmen können? -- [13] -- Die Cliff Dwellings sind von den jeweils darüber liegenden Hochebenen und vom Canyongrund aus praktisch unsichtbar, sie sind extrem unzugänglich und waren mit den steinzeitlichen Waffen jener Zeit - Pfeil und Bogen, Speer, Steinbeil - so gut wie uneinnehmbar. Es ist, als hätte eine tiefgreifende Angst die Menschen um 1190 erfaßt, ein Gefühl immenser Bedrohung, das sie Hindernis auf Hindernis auftürmen ließ, bis sie in jenen absurden, fast unzugänglichen Felsenfestungen saßen. Doch vor wem könnten sich die Anasazi verschanzt haben? Die ersten Navajo und Apache kamen frühestens 300 Jahre später aus dem heutigen Kanada in den Südwesten. Also vor ihresgleichen? Sind die Cliff Dwellings stumme Zeugnisse eines Bürgerkrieges? Siedlung gegen Siedlung? Oder Canyon gegen Canyon? Ein Kampf um Holz, Land und Wasser? Oder hat sie die panische Angst vor den Menschenfressern - wer immer die waren - so hoch in die Felswände getrieben? Brian Billmann, der Entdecker von 5MT10010, weiß nicht, wer die Angreifer waren, aber er glaubt, daß der Ausbruch von Kannibalismus in der Region um 1150 stattgefunden hat - also bevor die Menschen in die Cliff Dwellings gezogen sind. Und der Ranger Bob Smith verweist darauf, daß keine einzige Felsensiedlung von Mesa Verde Spuren einer Belagerung oder gewaltsamen Zerstörung aufweist. Allerdings gäbe es bei den Toten Anzeichen für zunehmende Gewalt, wie Kopf und Rippenverletzungen. Das Rätsel des Pueblos So rätselhaft die Ursache für die Gründung der Felsensiedlungen, so rätselhaft ist auch, weshalb sie aufgegeben worden sind. Die unter solchen Mühen erbauten Cliff Dwellings wurden bereits um 1275, nach nur zwei Generationen Besiedelung, verlassen - und zwar nicht nur in Mesa Verde, sondern auch an allen anderen Orten im Südwesten. Die Bewohner verschwanden für immer. Das riesige Land war auf einmal menschenleer. Manche Siedlungen sahen aus, als wären ihre Bewohner urplötzlich davongezogen: In der Felsenstadt "Mug House" in Mesa Verde fanden Archäologen noch Henkeltassen sauber aufgereiht an einer Schnur hängend. Bob Smith zeigt von Balcony House auf den Soda Canyon: Die Geröllhänge und gut geschützte Felsspalten sind dicht mit verkrüppelten Pinien und Wacholdern bedeckt. "Diese können viel älter werden" erklärt er. "Aber hier im Canyon sind die meisten höchstens 500 Jahre alt." Seine Folgerung: "Um 1275 waren alle Bäume abgeholzt. Das jagdbare Wild war verschwunden, der durch die Jahrhunderte lange Landwirtschaft bereits ausgelaugte Boden der Erosion preisgegeben. -- [14] -- Und dann erlebten die Anasazi die nächste Dürreperiode - zwischen 1276 und 1299 fiel fast kein Regen. Das war das Ende: Das Ökosystem kollabierte, die Menschen mußten fortziehen." Stimmt diese Annahme, dann hätte eine fatale Kombination von Dürre, Überbevölkerung, intensiver Waldrodung und Bodenerosion in allen Canyons zwischen Colorado und Arizona fast zu einem Umweltdesaster geführt. Oder war eine verheerende Seuche Ursache jener Menschenleere? Knochenfunde belegen, daß die Anasazi - die Männer im Durchschnitt 1,65 Meter groß, die Frauen 1,55 Meter - kein allzu gesundes Volk waren. Die Lebenserwartung lag bei 32 bis 34 Jahren, die Hälfte aller Kinder starb vor dem fünften Geburtstag. Manche Skelette weisen Spuren von Mangelkrankheiten wegen unzureichender Ernährung auf, fast alle Gebisse sind zerstört, weil der Maisbrei beim Mahlen auf Steinen mit Sand durchsetzt wurde. Jedoch: Regelrechte Seuchen sind nirgends nachzuweisen. Manche Forscher vermuten, daß eine neue Religion, die sich bei den Indianern am Rio Grande, 300 Kilometer südöstlich von Mesa Verde etabliert hatte, die Anasazi fortgelockt haben könnte. Doch gibt es in der Geschichte kaum ein Beispiel dafür, daß eine neue Religion binnen weniger Jahre eine gesamte Bevölkerung überzeugt, geschweige denn zum Massenexodus einer bäuerlichen Gemeinschaft aus dem Land ihrer Vorfahren geführt hätte. Niemand versucht die Anasazi so systematisch zu erforschen wie "Crow Canyon", eine in Cortez, Colorado, ansässige unabhängige archäologische Forschungsstation. Seit 1996 arbeitet sie an dem Programm "Comunities Through Time: Migration, Cooperation and Conflict". In einer Region knapp 20 Kilometer nordwestlich von Mesa Verde wollen die Forscher von Crow Canyon alle archäologischen Fundstätten aus allen Epochen erschließen, analysieren und miteinander vergleichen. "Vielleicht", so der wissenschaftliche Leiter Mark Varien, "finden wir bestimmte Strukturen, bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die uns einen Hinweis auf das Ende der Anasazi geben." Seit 1998 publiziert Crow Canyon die Ergebnisse einzelner Grabungen, doch bis jetzt haben die Forscher nur erste, einander zum Teil widersprechende neue Hinweise gefunden. Varien hält es beispielsweise für möglich, daß viele Anasazi bereits um 1190 ihre Heimat verlassen haben. Die Cliff Dwellings wären dann die Festungen der letzten Zurückgebliebenen gewesen - und ihr Ende um 1275 nicht mehr der plötzliche Kollaps einer hoch entwickelten Gesellschaft, sondern die finale Etappe in einem 100 Jahre währenden Prozess. Beweisen kann Varien auch das nicht - und ausgerechnet die neuesten Entdeckungen seiner Organisation lassen das Rätsel der Anasazi noch komplizierter erscheinen, als es ohnehin schon ist. Nordwestlich von Cortez führt eine Schotterpiste kilometerweit schnurgerade durch sanft gewelltes, grünes Farmland. Irgendwo, etwa ein Kilometer zu meiner Linken, versteckt sich der Goodman Canyon, doch der tiefe Einschnitt ist mit bloßem Auge nicht auszumachen. Die verborgene Stadt Zwei transportable rote Toilettenhäuschen am Rand der Schotterpiste markieren den Ort der aktuellsten Ausgrabung von Crow Canyon: die Shields Site. Rund 300 Meter dahinter steht mitten im Acker ein weißer Wohncontainer, an dessen Seiten sich schwarze Plastikplanen spannen. Im Umkreis von mehreren hundert Metern ziehen sich rund zehn Meter lange, zweieinhalb Meter tiefe und schulterbreite Furchen durch den Boden, als hätte jemand Schützengräben angelegt: die Grabungen der Forscher. In den fünfziger Jahren hat ein Farmer hier einen Kupfergürtel aus Mexiko gefunden - nie zuvor war etwas Vergleichbares so weit im Norden entdeckt worden. Der rötliche Ackerboden ist durchsetzt mit Tausenden von unscheinbaren, daumennagelgroßen Tonscherben. "Wir haben 1997 mit der Suche begonnen", erklärt der Ausgrabungsleiter Andrew Duff, " weil diese Funde auf eine große Siedlung hindeuten, auch wenn davon mit dem bloßen Auge nichts mehr zu sehen ist." Zuerst hätten sie den Boden mit elektromagnetischen Messgeräten auf Anomalien untersucht - die Geräte lieferten ihnen tatsächlich Hinweise darauf, daß sich ein bis drei Meter tief in der Erde die Grundmauern von Gebäuden verbargen. Zudem gruben sie an 18 zufällig ausgewählten Stellen den Boden auf - und stießen dabei auf die Reste einer Siedlung. Duff: "Jetzt suchen wir gezielt nach den Feuerstellen der Kivas. In der Asche haben wir Nahrungsreste wie Maiskörner oder Hirschknochen gefunden, die uns etwas über die Ernährung und das Klima verraten; außerdem können wir manche Holzreste datieren." Duff hatte erwartet, einen kleinen Pueblo auszugraben, der um 1190 aufgegeben worden war, weil die Bewohner - wie vermeintlich alle in der Mesa-Verde-Region - in eine Felsensiedlung zogen; hier wahrscheinlich in die von Goodman Point, kaum ein Kilometer weiter im nächsten Canyon. Doch er fand einen Komplex mit 600 bis 800 Räumen (die wohl nicht alle zur selben Zeit genutzt wurden) am Rande einer Straße, wie sie typisch ist für das System von Chaco. Und die Anlage muß von etwa 1100 bis 1260 bewohnt gewesen sein. "Es sind also doch nicht alle Anasazi in die Felsensiedlungen übergesiedelt", schließt Fluff daraus. "Vielleicht ist Shields nur die große Ausnahme. Die Menschen hier hatten es möglicherweise nicht nötig, weil sie sich bei Gefahr in den nahe gelegenen Goodman Point zurückziehen konnten." -- [16] -- "Oder", er lacht, "die Kerle hier waren diejenigen, vor denen sich alle anderen gefürchtet haben". Bis jetzt allerdings hat er auch darauf nicht den geringsten Hinweis gefunden. Doch selbst wenn die bis 1260 bewohnte Siedlung von Shields im Gegensatz zu den Felsenbehausungen praktisch schutzlos angelegt war - ein Indiz dafür, daß die Anasazi-Kultur im Frieden und nicht im Krieg untergegangen ist, kann die Anlage dennoch nicht sein. "Unter den Toten der Spätzeit finden sich überdurchschnittlich viele junge Erwachsene", sagt Duff. "Das könnte darauf hinweisen, daß in jenem Zeitraum die Gewalt unter den Anasazi deutlich zugenommen hat." Mark Varien von Crow Canyon und die meisten seiner Kollegen glauben (ohne dies freilich beweisen zu können), daß die Anasazi - was immer sie vertrieben haben mag - weit nach Südwesten und Südosten ausgewichen sind: in das Gebiet der heutigen Hopi und Zuni in Arizona sowie zu den Pueblo-Indianern am Rio Grande. In Arizona gibt es heute noch elf Hopi-Pueblos und eines der Zuni; 19 weitere Pueblos liegen am Rio Grande. Die dort lebenden Indianer sprechen fünf Sprachen aus drei Sprachfamilien. Gut möglich, daß in einer dieser Siedlungen die Sprache, die Kultur, die Nachfahren der Baumeister von Chaco und Mesa Verde überlebt haben. Die Pueblo-Indianer selbst wissen es nicht. Ihre Legenden berichten zwar von Vorfahren, die aus dem Norden gekommen sind, und sie verehren die alten Anasazi-Stätten als heilige Orte. Doch ihre Mythen sind zu vage, als daß sich daraus eine plausible Geschichte rekonstruieren ließe. Archäologen von Crow Canyon haben 1990 Castle Rock Pueblo ausgegraben, eine mittelgroße Siedlung auf hohen, schwer zugänglichen Felsen im McElmo Canyon. Brandspuren zeigen, daß dieses Pueblo zwischen 1280 und 1285 angegriffen und zerstört worden ist. 39 unbegrabene Leichname lagen in oder vor der Ruine, die von Frauen und Männern. "Eine der seltenen Beweise für kriegerische Gewalt", so Varien. "Irgendjemand hat Castle Rock allein zu dem Zweck angegriffen, um das Pueblo auszulöschen. Ich habe aber keine Ahnung, wer das gewesen ist." Waren es jene Krieger, vor denen die Anasazi der Cliff Dwellings geflohen sind? Wer sonst könnte es gewesen sein - Jahrhunderte, bevor andere Indianerstämme in dieses Land eindrangen? Und warum hat man bis heute keine einzige Spur von den Angriffen gefunden? Der letzte Tempel "Im Südwesten treffen Sie auf mehr Archäologen pro Quadratmeter als irgendwo sonst in den USA", sagt Varien lachend. "Und es gibt da draußen zwischen den Canyons 100000 bis 200000 noch unberührte archäologische Stätten. -- [17] -- Irgendwann wird irgendwer schon etwas Entscheidendes finden." Das wahrscheinlich letzte Bauwerk der Anasazi in Mesa Verde, vielleicht das letzte Gebäude, das sie überhaupt errichtet haben, steht auf einer Felszunge, die sich fast 300 Meter hoch zwischen Fewkes und Cliff Canyon schiebt. Ein seltsames Bauwerk in Sichtweite einiger der größten Felsensiedlungen in Mesa Verde: ein großer Halbkreis, wie er typisch ist für Chaco, mit zylindrischen Kivas im Innern, deren Form ebenfalls aus dem untergegangenen Reich im Süden stammt und nicht aus Mesa Verde. Die vier bis fünf Meter hohen Mauern bestehen aus fein zurechtgeschlagenem , an den Rändern sogar poliertem Sandstein. Aber nicht eine Tür, nicht ein Fenster, nicht einmal ein Belüftungsschlitz durchbricht die Wände. "Sun Temple" haben Wissenschaftler den Komplex getauft. "Sonnentempel". Denn könnte ein derart unzugängliches und zugleich an so exponierter Lage liegendes Gebäude anderen als kultischen Zwecken gedient haben? Welche Riten aber könnten hier vollzogen worden sein? Und warum wählte der unbekannte Architekt eine Bauform, die mehr als 100 Jahre vor seiner Zeit und an einem ganz anderen Ort gepflegt worden war? Der Komplex muß, wie Analysen des Baumaterials ergeben haben, um 1275 errichtet worden sein. Manche Forscher vermuten, daß der Bau dieses Tempels eine verzweifelte Reaktion der Anasazi auf die geheimnisvolle, finale Bedrohung gewesen sein könnte, der ihre Kultur zu dieser Zeit ausgesetzt war: ein sakrales Gemeinschaftswerk, das den Zorn der Götter besänftigen sollte. Haben die Baumeister das im Sinne gehabt, dann wäre auch diese letzte Hoffnung bitter enttäuscht worden: Der Sonnentempel ist unvollendet - das letzte Rätsel der Anasazi -- Ende -- [Cay Rademacher, 35, ist Redakteur von Geo und Geo Epoche. Er hat Amerikanische und Alte Geschichte studiert.]
liebe Grüße Sandro
"They say if you play the Windows XP CD backward, you can hear satanic words." - "Oh, that´s nothing. If you play it forward it installs Windows XP...!"
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