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Hadubrandt34
Ort: Holstein
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Erstellt: 17.08.03, 15:45 Betreff: Re: Quo vadis, SPD?
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Das Rot der SPD verblasst Gerhard Schröder und Olaf Scholz verteidigen soziale Einschnitte als gerechte Politik. Enttäuscht kehren tausende Mitglieder ihrer Partei den Rücken von Günther Lachmann
Der Organist zog zum Abschluss des Gottesdienstes alle Register. Doch die Orgelpfeifen waren noch nicht verstummt, da zog eine Schar katholischer Sozialdemokraten, einer Prozession gleich, schon mit entschlossenem Schritt zum politischen Frühschoppen ins nahe Bocholter Brauhaus. Dort nämlich hatte sich ihr Bundestagsabgeordneter Hans-Peter Kemper angekündigt.
Die Gaststube füllte sich schnell. Bier floss durch trockene Kehlen. Die wackeren SPD-Anhänger redeten sich die Köpfe heiß in der feucht-schwülen Atmosphäre, die sich denn auch bald in einem krachenden Gewitter entlud.
Rentner schimpften: "Ihr wollt uns die Rente kürzen. Und Olaf Scholz will uns auch noch weismachen, dass das gerecht ist. Nennst du das sozial?" Beamte protestierten: "Erst nehmt ihr uns das Weihnachts- und Urlaubsgeld, und jetzt soll auch noch die Kilometerpauschale fallen." Draußen kochte die Sonne den Asphalt weich, drinnen die Sozialdemokraten ihren Abgeordneten.
"Da war Feuer unterm Dach", sagt Kemper. "Nicht nur, dass sie mich angingen. Sie zogen auch übereinander her." Da entgegneten Gewerkschafter den Beamten: "Nun regt euch nicht auf. Ihr habt doch einen sicheren Arbeitsplatz. In der Metall-Industrie gibt's schon lange Urlaubs- und Weihnachtsgeld nur noch in stark abgespeckter Form. Und die Leute müssen täglich um ihren Job bangen."
Es war bereits weit nach 12 Uhr mittags, als Kemper die Lage endlich im Griff hatte. Ein solches Beben an der Basis hatte er noch nicht erlebt. "Ich muss schon zwei Stunden mit den Menschen diskutieren, damit sie begreifen, warum wir diese Politik machen müssen", sagt er. "Vor allem die kleinen Leute haben den Eindruck, es geht ihnen an den Kragen. Und sie sehen keine Perspektiven mehr für sich."
Den Sozialdemokraten in den Bezirken ist die eigene Partei fremd geworden. Sie fühlen sich heimatlos in der SPD ihres Vorsitzenden und Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Und seine Politik der sozialen Einschnitte empfinden sie selbst als zutiefst ungerecht.
"Wohlstand für alle", hatte ihnen 1959 das Godesberger Programm versprochen. Deshalb waren viele überhaupt erst in die SPD eingetreten. Über Jahrzehnte war vor allem dieser Satz sinnstiftend für sozialdemokratische Politik im Nachkriegsdeutschland.
Gerhard Schröder hat ihn in sein Gegenteil verkehrt. Des Kanzlers politischer Pragmatismus fordert "Abstriche für alle". Und jene, die an manchen Errungenschaften von Godesberg festhalten wollen, gelten plötzlich als Apologeten eines anachronistischen, romantisierenden Gesellschaftsideals.
In "13 Thesen für die Umgestaltung des Sozialstaats und die Zukunft sozialdemokratischer Politik" hat SPD-Generalsekretär Olaf Scholz den Paradigmenwechsel im Sinne Schröders festgeschrieben. Es sind Sätze wie diese, welche die Basis in Rage bringen: "Die Qualität von Gerechtigkeitspolitik ist (und war) niemals in erster Linie eine Frage der Quantität sozialer Transfers." Oder: "Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe und der Chancen ist selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als transfergestützte Nichtarbeit."
Niemand an der SPD-Basis leugnet die katastrophale Arbeitsmarktlage, den drohenden Kollaps des Sozial- und Gesundheitssystems und den daraus resultierenden Zwang zum Handeln. Aber die Sprache von Scholz und Schröder ist nicht mehr die ihre.
Altgediente Sozialdemokraten in den Ortsvereinen begreifen die neue Heilslehre vielmehr als apokalyptische Offenbarung. Viele sind ganz und gar fertig mit der SPD. Zu Tausenden geben sie ihre Parteibücher zurück. Nicht wenige waren über 30 Jahre dabei.
In Niedersachsen schrumpfte die Mitgliederzahl in nur einem Jahr um 2700, in Nordrhein-Westfalen gar um 10 000. Bundesweit, schreibt "Bild", sollen es allein in den vergangenen sechs Monaten über 23 000 gewesen sein. Eine Volkspartei droht auszubluten.
"Die Stimmung in der Partei lässt sich am besten mit folgendem Bild beschreiben: Auf dem Parteitag am 1. Juli bekam der Traditionalist Ottmar Schreiner riesigen Beifall, weil er die Seele der Sozialdemokraten traf. Aber Gerhard Schröder erhielt die Stimmen, weil der Kopf weiß: Wir müssen die Lohnnebenkosten senken, sonst schaffen wir keine Arbeitsplätze", sagt Kemper.
Seit dem Parteitag im schmucklosen Berliner Hotel "Estrel" sind nicht einmal zwei Monate vergangen. Damals brachte Schröder die "Agenda 2010" auf den Weg. Dass er den Durchbruch schaffte, verdankte er nicht einmal so sehr sich selbst, sondern den leidenschaftlichen Reden von altgedienten SPD-Fahrensleuten wie dem früheren Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel, Bremens SPD-Bürgermeister Henning Scherf und dem Urgestein Erhard Eppler. Doch der Erfolg, die "Agenda" durchgesetzt zu haben, ist im Gedächtnis der Partei längst wieder verblasst.
Je deutlicher die Folgen für den Einzelnen werden - die Zuzahlungen im Gesundheitswesen, die Nullrunden bei der Rente, die Pauschalisierung der Sozialhilfe -, desto stärker bröckelt der Rückhalt für den Kanzler und seinen Generalsekretär in den eigenen Reihen. Die 140 Jahre alte SPD leidet Seelenqualen, sie ringt um das Soziale, die Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums, das Streben nach Chancengleichheit, sie ringt um das Rot in ihrer Politik, das zusehends verblasst. Sie kann vom "demokratischen Sozialismus" nicht lassen, auch wenn Olaf Scholz ihn rigoros aus dem Parteiprogramm streichen will.
Die im Marxismus verwurzelte Linke ist aufs Höchste alarmiert, warnt vor einem Frevel an ihrem Allerheiligsten. "Olaf Scholz darf der SPD nicht ihre Geschichte klauen", sagt die Sprecherin der Linken, Andrea Nahles. "Wenn man den demokratischen Sozialismus als Zielbeschreibung wegfallen lässt, bleibt nur noch der Ultrapragmatismus des Herrn Scholz übrig."
Oskar Lafontaine, von 1995 bis 1999 Vorsitzender der SPD und heute außerparlamentarisches Gewissen der Linken, erfasst gar Orwellsches Grauen. Er zieht den Vergleich zum "Wahrheitsministerium" im Roman "1984". "Heute übernehmen auch Sozialdemokraten das Urteil der Neoliberalen, der Sozialstaat mache die Menschen abhängig, versklave sie. Mit Orwell gesprochen: ,Freiheit ist Sklaverei"", sagt Lafontaine. So hart ist er früher nicht einmal mit der Union umgesprungen. Schließlich geht es um das ideologische Fundament für das 21. Jahrhundert, um die Frage, wie der Sozialstaat der Postmoderne aussehen soll.
Was jetzt beschlossen wird, ist auf Jahre hinaus unumkehrbar.
Sollte sich Scholz durchsetzen, prophezeien namhafte Politikwissenschaftler der Partei ein böses Erwachen. "Wenn Sozialdemokraten die sozialstaatliche Komponente vernachlässigen, verlieren sie die Wahlen", sagt Franz Walter. Sein Dresdener Kollege Joachim Amm spricht schlicht von einem folgenschweren "Etikettenschwindel". Die SPD betreibe eine Politik, für die eigentlich die FDP stehe.
"In der Partei gibt es eine tiefe Sehnsucht nach Orientierung", stellt der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Ottmar Schreiner, fest. "Die Verunsicherung hat schon zu tun mit dem pragmatischen Politikverständnis von Gerhard Schröder."
Sie liegt aber auch begründet in den Fehlern der Vergangenheit. Das letzte Programm der SPD stammt aus dem Jahr 1989. Es entstand vor der Einheit, vor dem Zerfall der Sowjetunion und vor den massiven Auswirkungen der Globalisierung. Es war also in zentralen Fragen schon von gestern, als es verabschiedet wurde. Während sich die sozialdemokratischen Parteien in Großbritannien und anderen europäischen Ländern vor dem Hintergrund der fundamentalen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den neunziger Jahren modernisierten, verharrte die SPD in Apathie.
Zwar wurde 1999 unter dem Vorsitz des damaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping eine Programmkommission eingesetzt. Was da allerdings in den Hinterzimmern erdacht wurde, liegt nach wie vor im Dunkeln. So blieb die Partei ihren Mitgliedern bis zu den Vorstößen von Olaf Scholz jede programmatische Antwort auf die wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme von heute schuldig.
"Natürlich muss eine Partei, die immer beansprucht hat, Programm-Partei zu sein, einigermaßen auf der Höhe der Zeit sein", sagt Schreiner. "Und die Debatte müsste geführt werden mit dem Ziel, zeitgemäße Antworten auf die neuen Herausforderungen zu finden. Einige führen sie jedoch in der Absicht, einen legitimatorischen Überbau zur praktischen Regierungsarbeit zu formulieren." Will heißen: Der Generalsekretär agiert als Erfüllungsgehilfe des Kanzlers.
Allein schon der Verdacht, Scholz könnte sozialdemokratische Ideale für eine neoliberale Regierungspolitik verkaufen, wird den Unmut von der Basis auch in die Bundestagsfraktion tragen. "Es wird Streit geben, weil erkennbar versucht wird, die Teilhabe-Aspekte an Arbeit und Bildung auszuspielen gegen die Verteilungsgerechtigkeit", glaubt Schreiner.
Gerade in der zentralen Frage der Verteilungsgerechtigkeit wirkt die Kluft zwischen der SPD-Linken und Scholz unüberbrückbar. Während der Generalsekretär erklärt: "Wir müssen bei der Gerechtigkeit mehr auf die Teilhabe blicken (...), weil es in Deutschland eine gewaltige Umverteilung von oben nach unten gibt", argumentiert Schreiner: "Verteilungsgerechtigkeit ist ein Wert an sich. Ich glaube zudem: Je ungleicher eine Gesellschaft wird, desto schwieriger wird es, die Beschäftigungskrise zu lösen." Überhaupt sei in Deutschland seit Jahren keine Beschäftigungspolitik mehr gemacht worden. Für den Fall, dass die Konjunktur nicht anspringt, rechnet er daher im Winter mit fünf Millionen Arbeitslosen. Trübe Aussichten.
Sollte er Recht behalten, würden die Abgeordneten vor der Frage stehen, wie sie den Menschen in den Wahlkreisen die Notwendigkeit von Reformen erklären. Sie müssten die Antworten auf Fragen wie "Warum trifft es mich?" wissen. "Wer das jetzt nicht erkennt, der wird kalt erwischt", weiß Hans-Peter Kemper spätestens seit jenem heißen Frühschoppen in Bocholt.
Erschienen in der "Welt am Sonntag"
------------------------------------- Now time is right for us to see Our land will long for liberty And fallen heroes calling me We'll stand in bravery.... Anywhere beyond the raging sea We will fight for our destiny Anywhere beyond the raging sea We will always run free.....
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Mr. X
Ort: Planet Erde
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Erstellt: 17.08.03, 15:26 Betreff: Quo vadis, SPD?
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Scholz: Bildung geht vor Rente Die SPD will Investitionen in die Bildung für Kinder in Zukunft Vorrang vor Rentenerhöhungen einräumen. "Die Ursachen von Arbeitslosigkeit und sozialem Ausschluss zu vermeiden", sagte SPD-Generalsekretär Olaf Scholz dem Tagesspiegel am Sonntag, sei "von größerer Bedeutung als das konkrete Rentenniveau". (Der Tagesspiegel, 17.08.2003)
Herr Scholz, seit einem guten Jahr sind Sie Generalsekretär der SPD. Und genau so lange liegt Ihre Partei in Umfragen unter 30 Prozent. Was machen Sie bloß falsch? Das hat nichts mit mir zu tun, sonst ließe sich das Problem ja leicht beheben. Die SPD ist nun mal in einer komplizierten Situation. Wir müssen sehr viele, sehr schwierige Reformen auf den Weg bringen. Und das löst nicht nur Freude bei den Menschen aus. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir den Lohn der Mühe erhalten und uns die Wähler für unsere mutige Politik belohnen werden.
Mit dieser Erklärung beruhigen Sie die Partei nun schon seit Januar.
Ich habe nicht erwartet, dass wir mal eben im Vorübergehen ein paar Reformen machen und dann gleich wieder alle begeistert sind. Und ich erwarte auch für den Herbst noch intensive Diskussionen über die Politik der SPD. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Und als Generalsekretär hoffe ich natürlich, dass uns die Wählerinnen und Wähler dann auch bei den nächsten Wahlen unterstützen werden.
Warum ist es denn so schwer, Ihre Reformen zu verstehen?
Es ist nun mal so in Deutschland, dass die Mehrheit der Bevölkerung tief greifende Reformen fordert. Man will Politiker, die handeln und nicht nur reden. Aber wenn dann eine Regierung die Probleme anpackt, herrschen bisweilen Skepsis und Verzagtheit.
Vielleicht spüren die Menschen, dass Ihr Weg nicht der richtige ist?
Die Menschen können uns vertrauen. Und zwar nicht, weil ich glaube, dass wir immer die richtigen Entscheidungen treffen. Sondern weil wir erkannt haben, dass die Reformen keinen Aufschub dulden, dass das Wichtige getan werden muss. Dieser Weg setzt eine klare Zielbestimmung voraus. Die haben wir mit der Agenda 2010 vorgenommen. Und wir machen handfeste Politik – etwa in der vergangenen Woche mit den Gesetzentwürfen, die das Bundeskabinett beschlossen hat. Dass es am Ende immer Veränderungen daran geben wird, liegt in der Natur der Sache. Denn wir leben in einem föderalen Land, in dem der Bundesrat mit entscheidet. Und letztlich ist diese Suche nach einem Kompromiss auch gar nicht so schlecht.
Ist das Misstrauen der Menschen nicht vielmehr ein Reflex auf die Sprunghaftigkeit der SPD?
Wir haben nicht immer alles richtig gemacht. Und wir haben auch einige Entscheidungen revidiert. Aber das ist doch verständlich angesichts des umfassenden Reformbedarfs, den es in Deutschland gibt. Immer konsequent sind wir aber beim Senken von Steuern und dem Stopfen von Steuerschlupflöchern geblieben. Und Konstanz zeigt die SPD bei ihrem Weg, die Beiträge zu den Sozialversicherungen zu senken. Ein erster Schritt war die Rentenreform in der letzten Amtszeit von Rot-Grün. Weitere werden die Gesundheitsreform und die Fortsetzung der Rentenreform in dieser Amtszeit sein.
Was hat die SPD eigentlich aus den Fehlern der letzten Regierungszeit gelernt?
Das notwendige Tempo der Reformen ist in der Hoffnung auf einen baldigen Konjunkturaufschwung unterschätzt worden. Doch mit diesem Irrtum sind wir ja nicht allein. Wer hat schon damit gerechnet, dass die Wirtschaft in Deutschland drei Jahre hintereinander stagniert? Wir haben in der ersten Legislaturperiode die Steuerreform und die ersten Schritte der Rentenreform auf den Weg gebracht. Und nun werden wir die nächsten nötigen Reformschritte noch bis zum Jahresende umsetzen. Das gilt für den Arbeitsmarkt genauso wie für das Gesundheitssystem und auch die Rente.
Nicht nur die Opposition wirft Ihnen handwerklichen Pfusch vor, sondern auch Verbände und Kommunen.
Das mit dem Pfusch ist doch nur so ein Spruch. Die Gesetze, die wir jetzt auf den Weg bringen, sind alle sehr sorgfältig vorbereitet. Und was die Geschwindigkeit angeht, da möchte ich sehr deutlich sagen: Wir müssen jetzt die Entscheidungen treffen, damit die anspringende Konjunktur im nächsten Jahr unterstützt wird. Und wir müssen jetzt die Solidarsysteme zukunftsfest machen, damit die Belastungen der Bürger und Unternehmen sinken und mehr Menschen Arbeit finden. Deutschland hat keine Zeit zu verlieren.
Was sagen Sie denn einem Arbeitslosen, der 13 Monate keinen neuen Job gefunden hat und auf einmal gezwungen sein wird, von Sozialhilfe zu leben?
Nein. Er muss nicht von Sozialhilfe leben, sondern er erhält anstelle der schon bisher aus Steuermitteln bezahlten Arbeitslosenhilfe das Arbeitslosengeld II. Wer so lange keine Arbeit gefunden hat, wird auch in Zukunft vor Armut geschützt bleiben. Auf das Arbeitslosengeld II werden Sozialversicherungsbeiträge gezahlt. Hinzu kommen Leistungen für die Familie, die Unterkunft und ein zweijähriger Zuschlag. Vom eigenen Vermögen bleiben das Haus, das Auto und die geförderte Altersvorsorge anrechnungsfrei. Im Übrigen: Der beste Schutz vor Armut ist ein Arbeitsplatz. Genau deshalb verändern wir ja auch vieles bei der Bundesanstalt für Arbeit. Heute fühlen sich arbeitslose Menschen häufig eher verwaltet als unterstützt. Bisher kamen auf einen Vermittler bis zu 800 Arbeitslose. Das haben wir auf 400 gesenkt. Künftig wird ein Vermittler 75 Arbeitslose betreuen.
Wie soll Ihnen denn ein Arbeitsloser dort, wo es keine Jobs zu vermitteln gibt, vertrauen?
Verabschieden wir uns doch von dieser fatalistischen Vorstellung, dass es Vollbeschäftigung nur anderswo, aber nicht in Deutschland geben kann.
Fordern Sie blindes Vertrauen in die Richtigkeit Ihrer Politik?
Natürlich nicht. Aber zunächst einmal die Einsicht, dass nicht alles so bleiben kann, wie es ist. Ist es denn gerecht, wenn heute ein arbeitsloser Packer, der 30 Jahre geackert hat, weniger Arbeitslosenhilfe vom Steuerzahler erhält, als jemand, der vier Jahre als Akademiker gut verdient hat? Diesen Missstand ändern wir. Wir schützen die Menschen vor Armut und helfen ihnen, Arbeit zu finden.
Fragen wir doch mal einen Selbstständigen, dem Sie Steuerentlastung versprochen haben, nach seinem Vertrauen. Der muss jetzt Gewerbesteuer zahlen und seine Pendlerpauschale wird gestrichen.
Die Steuern in Deutschland müssen und werden für alle gesenkt. Dass mancher Steuerprivilegien dafür hergeben muss, ist nur gerecht. Zumal, wenn es sich, wie bei der Eigenheimzulage und der Pendlerpauschale, um fragwürdige Subventionen handelt.
Und worauf sollen die SPD-Bundestagsabgeordneten vertrauen, die Ihre Gewerbesteuerreform ablehnen?
Ich rate jedem, der jetzt in dieser hitzigen Debatte argumentiert, sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, worum es eigentlich geht. Die Kommunen sollen mehr Geld erhalten. Die Regierung hat nun vorgeschlagen, 2,5 Milliarden Euro vor allem aus den Kassen von Bund und Ländern an die Kommunen zu geben. Und das soll geschehen, ohne dass Unternehmen, die Verluste machen, Gemeindewirtschaftssteuer zahlen müssen. Das ist doch vernünftig.
Was macht Sie denn so sicher, dass Sie am Ende auch das Richtige getan haben werden?
Dazu braucht man natürlich einen Kompass. Richtig ist für mich alles, was der wirtschaftlichen Belebung dient. Und richtig ist Gerechtigkeit. Das heißt, dass die Menschen, die Unterstützung benötigen, diese vom Sozialstaat auch erhalten.
Und falsch ist der „demokratische Sozialismus" in Ihrem Parteiprogramm?
Ich denke, darüber werden wir uns auseinander setzen müssen. Ich selbst sehe den Begriff des demokratischen Sozialismus in der SPD nicht als das an, wofür er von manchem herangezogen wird, nämlich als gesellschaftliches Ziel, das die SPD anstrebt. Es gibt keinen gesellschaftlichen Zustand mit diesem Namen, der auf unsere marktwirtschaftlich geprägte Demokratie folgen wird. Und deshalb sollten wir nicht solche Illusionen erzeugen. In meinem Verständnis ist die SPD eine Emanzipations- und keine Transformationsbewegung.
„Aber die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie muss zu den Zielen der SPD gehören."
In welchem Seminar haben Sie das denn gelernt?
Wir zitieren Olaf Scholz in einem Beitrag der „Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft" aus dem Jahr 1987.
Das liegt Gott sei Dank lange zurück. Die SPD ist die älteste emanzipatorische Bewegung unseres Landes. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass die Menschen, die nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren sind, Chancen haben, an Bildung und Arbeit teilzunehmen. Und das wird unsere Aufgabe bleiben.
Es gibt Genossen, die Ihnen vorwerfen, dass Sie der SPD die Geschichte klauen wollen.
Das will ich nicht. Das könnte ich übrigens auch gar nicht.
Verstehen Sie denn deren Ängste?
Ganz ehrlich: nein. Die eigentlich spannende Frage ist doch, wie wir heute mehr Lebenschancen und Teilhabe für mehr Menschen schaffen. Das ist doch ein ur-sozialdemokratisches Anliegen. Die SPD war immer die Partei der Gerechtigkeit in Deutschland. Und das wird sie auch weiterhin sein. Nur müssen wir im 21. Jahrhundert über das Wesen von Gerechtigkeit neu nachdenken. Nehmen wir die Ergebnisse von Pisa. Es ist doch erschreckend, wenn in Deutschland ein Arbeiterkind eine fünf- bis siebenmal geringere Chance hat, das Abitur zu erwerben, als ein Kind aus einer Akademikerfamilie. Oder wenn jeder zehnte Schüler die Schule ohne jeden Abschluss verlässt. Ich sehe darin eine Ungerechtigkeit, mit der sich die SPD beschäftigen sollte.
Indem Sie SPD-Traditionen wegschieben?
Eben nicht. Die SPD hat immer für eine solidarische Gesellschaft gekämpft. Und dafür werden wir auch in Zukunft streiten. Wenn es allerdings so ist, dass in vielen westlichen Ländern immer mehr Menschen aus dem solidarischen System herausfallen und keine Chance auf Teilhabe erhalten, dann muss man diese dramatische Entwicklung aufhalten. Das hohe Niveau unseres Sozialstaates ist eine Errungenschaft, die sich sehen lassen kann. Dabei bleibt es auch.
Heißt das, die historische Aufgabe der SPD von der Umverteilung ist erfüllt, jetzt geht es nur noch um Teilhabe?
Das ist nicht meine Ansicht. Beim Kindergeld, bei der Grundsicherung für Alte, beim Wohngeld haben wir seit 1998 die Leistungen verbessert, im Steuersystem vor allem kleine und mittlere Einkommen und Familien entlastet. Darauf sind wir richtig stolz. Doch es kann in Zukunft nicht mehr nur darum gehen, das Niveau der Umverteilung zu erhöhen. Das kann niemand glaubwürdig versprechen. Das Maß der Gerechtigkeit wird vielmehr davon abhängen, wie viele Menschen an unserem auf Erwerbsarbeit ausgerichteten System teilhaben können. Der Schlüssel zu mehr Gerechtigkeit in diesem Sinn liegt vor allem in der Bildung. Denn Menschen, die keinen Hauptschulabschluss haben, werden in ihrem ganzen Leben immer mehr mit Armut zu kämpfen haben als Diplom-Ingenieure.
Ist das der Abschied von der Gleichheit?
Im Gegenteil, es geht um gleiche Chancen für alle. Deutschland muss viel mehr Geld in die Bildung seiner Kinder und Jugendlichen investieren. Es ist doch wichtiger, die Ursachen von Arbeitslosigkeit und sozialem Ausschluss im voraus zu vermeiden, als später mit staatlichen Transferleistungen einzugreifen, wenn der „soziale Schadensfall" schon eingetreten ist. Das ist von größerer Bedeutung als das konkrete Rentenniveau.
Dann haben die Jungen ein Recht darauf, sich jetzt zu beklagen, dass Politik auf ihrem Rücken gemacht wird?
Jeder hat ein Recht, sich zu beklagen. Ich sage: Es gibt ein Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, und die Politik darf es nicht klein reden. Die Probleme sind aber auch lösbar. Das ist das, was wir mit unserer Rentenreform vorhaben. Es geht um die Balance zwischen den Leistungen für die Älteren und den Belastungen der Jüngeren. Auch die Frage der Staatsverschuldung dürfen wir auf keinen Fall aus dem Blick verlieren. Kluge Reformen sind auch besser als überspitzte Auseinandersetzungen, wie wir sie in den letzten Tagen erlebt haben. Die Äußerungen des jungen CDU-Politikers Mißfelder waren peinlich und zynisch.
Hat die SPD dazu den Mut, wenn doch die Zahl der älteren Wähler die der jungen weit übertrifft?
Ja. Und ich bin überzeugt, dass die meisten älteren Wählerinnen und Wähler die Notwendigkeit der Reformen verstehen.
Das Gespräch führten Markus Feldenkirchen und Antje Sirleschtov.
[editiert: 31.01.07, 09:06 von bjk]
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