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Hadubrandt34


New PostErstellt: 17.08.03, 15:45     Betreff: Re: Quo vadis, SPD?

Das Rot der SPD verblasst
Gerhard Schröder und Olaf Scholz verteidigen soziale Einschnitte als gerechte Politik. Enttäuscht kehren tausende Mitglieder ihrer Partei den Rücken
von Günther Lachmann

Der Organist zog zum Abschluss des Gottesdienstes alle Register. Doch die Orgelpfeifen waren noch nicht verstummt, da zog eine Schar katholischer Sozialdemokraten, einer Prozession gleich, schon mit entschlossenem Schritt zum politischen Frühschoppen ins nahe Bocholter Brauhaus. Dort nämlich hatte sich ihr Bundestagsabgeordneter Hans-Peter Kemper angekündigt.


Die Gaststube füllte sich schnell. Bier floss durch trockene Kehlen. Die wackeren SPD-Anhänger redeten sich die Köpfe heiß in der feucht-schwülen Atmosphäre, die sich denn auch bald in einem krachenden Gewitter entlud.


Rentner schimpften: "Ihr wollt uns die Rente kürzen. Und Olaf Scholz will uns auch noch weismachen, dass das gerecht ist. Nennst du das sozial?" Beamte protestierten: "Erst nehmt ihr uns das Weihnachts- und Urlaubsgeld, und jetzt soll auch noch die Kilometerpauschale fallen." Draußen kochte die Sonne den Asphalt weich, drinnen die Sozialdemokraten ihren Abgeordneten.


"Da war Feuer unterm Dach", sagt Kemper. "Nicht nur, dass sie mich angingen. Sie zogen auch übereinander her." Da entgegneten Gewerkschafter den Beamten: "Nun regt euch nicht auf. Ihr habt doch einen sicheren Arbeitsplatz. In der Metall-Industrie gibt's schon lange Urlaubs- und Weihnachtsgeld nur noch in stark abgespeckter Form. Und die Leute müssen täglich um ihren Job bangen."


Es war bereits weit nach 12 Uhr mittags, als Kemper die Lage endlich im Griff hatte. Ein solches Beben an der Basis hatte er noch nicht erlebt. "Ich muss schon zwei Stunden mit den Menschen diskutieren, damit sie begreifen, warum wir diese Politik machen müssen", sagt er. "Vor allem die kleinen Leute haben den Eindruck, es geht ihnen an den Kragen. Und sie sehen keine Perspektiven mehr für sich."


Den Sozialdemokraten in den Bezirken ist die eigene Partei fremd geworden. Sie fühlen sich heimatlos in der SPD ihres Vorsitzenden und Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Und seine Politik der sozialen Einschnitte empfinden sie selbst als zutiefst ungerecht.


"Wohlstand für alle", hatte ihnen 1959 das Godesberger Programm versprochen. Deshalb waren viele überhaupt erst in die SPD eingetreten. Über Jahrzehnte war vor allem dieser Satz sinnstiftend für sozialdemokratische Politik im Nachkriegsdeutschland.


Gerhard Schröder hat ihn in sein Gegenteil verkehrt. Des Kanzlers politischer Pragmatismus fordert "Abstriche für alle". Und jene, die an manchen Errungenschaften von Godesberg festhalten wollen, gelten plötzlich als Apologeten eines anachronistischen, romantisierenden Gesellschaftsideals.


In "13 Thesen für die Umgestaltung des Sozialstaats und die Zukunft sozialdemokratischer Politik" hat SPD-Generalsekretär Olaf Scholz den Paradigmenwechsel im Sinne Schröders festgeschrieben. Es sind Sätze wie diese, welche die Basis in Rage bringen: "Die Qualität von Gerechtigkeitspolitik ist (und war) niemals in erster Linie eine Frage der Quantität sozialer Transfers." Oder: "Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe und der Chancen ist selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als transfergestützte Nichtarbeit."


Niemand an der SPD-Basis leugnet die katastrophale Arbeitsmarktlage, den drohenden Kollaps des Sozial- und Gesundheitssystems und den daraus resultierenden Zwang zum Handeln. Aber die Sprache von Scholz und Schröder ist nicht mehr die ihre.

Altgediente Sozialdemokraten in den Ortsvereinen begreifen die neue Heilslehre vielmehr als apokalyptische Offenbarung. Viele sind ganz und gar fertig mit der SPD. Zu Tausenden geben sie ihre Parteibücher zurück. Nicht wenige waren über 30 Jahre dabei.


In Niedersachsen schrumpfte die Mitgliederzahl in nur einem Jahr um 2700, in Nordrhein-Westfalen gar um 10 000. Bundesweit, schreibt "Bild", sollen es allein in den vergangenen sechs Monaten über 23 000 gewesen sein. Eine Volkspartei droht auszubluten.


"Die Stimmung in der Partei lässt sich am besten mit folgendem Bild beschreiben: Auf dem Parteitag am 1. Juli bekam der Traditionalist Ottmar Schreiner riesigen Beifall, weil er die Seele der Sozialdemokraten traf. Aber Gerhard Schröder erhielt die Stimmen, weil der Kopf weiß: Wir müssen die Lohnnebenkosten senken, sonst schaffen wir keine Arbeitsplätze", sagt Kemper.


Seit dem Parteitag im schmucklosen Berliner Hotel "Estrel" sind nicht einmal zwei Monate vergangen. Damals brachte Schröder die "Agenda 2010" auf den Weg. Dass er den Durchbruch schaffte, verdankte er nicht einmal so sehr sich selbst, sondern den leidenschaftlichen Reden von altgedienten SPD-Fahrensleuten wie dem früheren Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel, Bremens SPD-Bürgermeister Henning Scherf und dem Urgestein Erhard Eppler. Doch der Erfolg, die "Agenda" durchgesetzt zu haben, ist im Gedächtnis der Partei längst wieder verblasst.


Je deutlicher die Folgen für den Einzelnen werden - die Zuzahlungen im Gesundheitswesen, die Nullrunden bei der Rente, die Pauschalisierung der Sozialhilfe -, desto stärker bröckelt der Rückhalt für den Kanzler und seinen Generalsekretär in den eigenen Reihen. Die 140 Jahre alte SPD leidet Seelenqualen, sie ringt um das Soziale, die Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums, das Streben nach Chancengleichheit, sie ringt um das Rot in ihrer Politik, das zusehends verblasst. Sie kann vom "demokratischen Sozialismus" nicht lassen, auch wenn Olaf Scholz ihn rigoros aus dem Parteiprogramm streichen will.


Die im Marxismus verwurzelte Linke ist aufs Höchste alarmiert, warnt vor einem Frevel an ihrem Allerheiligsten. "Olaf Scholz darf der SPD nicht ihre Geschichte klauen", sagt die Sprecherin der Linken, Andrea Nahles. "Wenn man den demokratischen Sozialismus als Zielbeschreibung wegfallen lässt, bleibt nur noch der Ultrapragmatismus des Herrn Scholz übrig."


Oskar Lafontaine, von 1995 bis 1999 Vorsitzender der SPD und heute außerparlamentarisches Gewissen der Linken, erfasst gar Orwellsches Grauen. Er zieht den Vergleich zum "Wahrheitsministerium" im Roman "1984". "Heute übernehmen auch Sozialdemokraten das Urteil der Neoliberalen, der Sozialstaat mache die Menschen abhängig, versklave sie. Mit Orwell gesprochen: ,Freiheit ist Sklaverei"", sagt Lafontaine. So hart ist er früher nicht einmal mit der Union umgesprungen. Schließlich geht es um das ideologische Fundament für das 21. Jahrhundert, um die Frage, wie der Sozialstaat der Postmoderne aussehen soll.


Was jetzt beschlossen wird, ist auf Jahre hinaus unumkehrbar.


Sollte sich Scholz durchsetzen, prophezeien namhafte Politikwissenschaftler der Partei ein böses Erwachen. "Wenn Sozialdemokraten die sozialstaatliche Komponente vernachlässigen, verlieren sie die Wahlen", sagt Franz Walter. Sein Dresdener Kollege Joachim Amm spricht schlicht von einem folgenschweren "Etikettenschwindel". Die SPD betreibe eine Politik, für die eigentlich die FDP stehe.

"In der Partei gibt es eine tiefe Sehnsucht nach Orientierung", stellt der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Ottmar Schreiner, fest. "Die Verunsicherung hat schon zu tun mit dem pragmatischen Politikverständnis von Gerhard Schröder."


Sie liegt aber auch begründet in den Fehlern der Vergangenheit. Das letzte Programm der SPD stammt aus dem Jahr 1989. Es entstand vor der Einheit, vor dem Zerfall der Sowjetunion und vor den massiven Auswirkungen der Globalisierung. Es war also in zentralen Fragen schon von gestern, als es verabschiedet wurde. Während sich die sozialdemokratischen Parteien in Großbritannien und anderen europäischen Ländern vor dem Hintergrund der fundamentalen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den neunziger Jahren modernisierten, verharrte die SPD in Apathie.


Zwar wurde 1999 unter dem Vorsitz des damaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping eine Programmkommission eingesetzt. Was da allerdings in den Hinterzimmern erdacht wurde, liegt nach wie vor im Dunkeln. So blieb die Partei ihren Mitgliedern bis zu den Vorstößen von Olaf Scholz jede programmatische Antwort auf die wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme von heute schuldig.


"Natürlich muss eine Partei, die immer beansprucht hat, Programm-Partei zu sein, einigermaßen auf der Höhe der Zeit sein", sagt Schreiner. "Und die Debatte müsste geführt werden mit dem Ziel, zeitgemäße Antworten auf die neuen Herausforderungen zu finden. Einige führen sie jedoch in der Absicht, einen legitimatorischen Überbau zur praktischen Regierungsarbeit zu formulieren." Will heißen: Der Generalsekretär agiert als Erfüllungsgehilfe des Kanzlers.


Allein schon der Verdacht, Scholz könnte sozialdemokratische Ideale für eine neoliberale Regierungspolitik verkaufen, wird den Unmut von der Basis auch in die Bundestagsfraktion tragen. "Es wird Streit geben, weil erkennbar versucht wird, die Teilhabe-Aspekte an Arbeit und Bildung auszuspielen gegen die Verteilungsgerechtigkeit", glaubt Schreiner.


Gerade in der zentralen Frage der Verteilungsgerechtigkeit wirkt die Kluft zwischen der SPD-Linken und Scholz unüberbrückbar. Während der Generalsekretär erklärt: "Wir müssen bei der Gerechtigkeit mehr auf die Teilhabe blicken (...), weil es in Deutschland eine gewaltige Umverteilung von oben nach unten gibt", argumentiert Schreiner: "Verteilungsgerechtigkeit ist ein Wert an sich. Ich glaube zudem: Je ungleicher eine Gesellschaft wird, desto schwieriger wird es, die Beschäftigungskrise zu lösen." Überhaupt sei in Deutschland seit Jahren keine Beschäftigungspolitik mehr gemacht worden. Für den Fall, dass die Konjunktur nicht anspringt, rechnet er daher im Winter mit fünf Millionen Arbeitslosen. Trübe Aussichten.


Sollte er Recht behalten, würden die Abgeordneten vor der Frage stehen, wie sie den Menschen in den Wahlkreisen die Notwendigkeit von Reformen erklären. Sie müssten die Antworten auf Fragen wie "Warum trifft es mich?" wissen. "Wer das jetzt nicht erkennt, der wird kalt erwischt", weiß Hans-Peter Kemper spätestens seit jenem heißen Frühschoppen in Bocholt.


Erschienen in der "Welt am Sonntag"

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Now time is right for us to see
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