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soyfer
Beiträge: 205
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Erstellt: 12.02.06, 22:16 Betreff: Re: Präanarchie? |
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Ich würde diese Diskussion gerne in verschiedene Bereiche teilen:
- Anarchie und „Faustrecht“
- Der Weg zum „Kettesprengen“
- Anarchie und Weltbild
- Anarchie und Veränderung und
- Anarchie und Armee
Ich verlasse hier die von mir gerne – scherzeshalber – angewandte hegelsche Dreiteilung, aber ich will hier ja auch nicht über die Behandlung zweier Fragen zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen, sondern lediglich diese fünf Fragen, im Prinzip unabhängig voneinander, reflektieren. Dass diese Fragen dann doch nicht so unzusammenhangslos herumstehen, ergibt sich aus der Tatsache, dass alle um das Thema Anarchie kreisen, sozusagen.
1. Anarchie und „Faustrecht“ Du schreibst (ich habe es leicht, hoffentlich nicht sinnentstellend, abgewandelt): Freiheit besitzt leider eine zu weit gesteckte Semantik, ich bin dagegen, dass dem Faustrecht (einer pervertierten Form von Freiheit/der Freiheit – das ist dann eben keine herrschaftslose Freiheit mehr) nachgegeben wird.
Anmerkung und Nachfrage: ich habe neben dein „von Freiheit“ als Alternative „der Freiheit“ gesetzt, da in dieser Diskussion die Freiheitsvorstellung sehr zentral ist und wie sich schon bei anderen Begriffen zeigte, die Vorstellung von etwas einen immensen Einfluss auf das Begreifen hat. Ich will auch nur kurz nachhaken, ob und wie du dies verstehst: „Form von Freiheit“ würde einer Vorstellung entsprechen, dass es mehrere Freiheitsformen gäbe und das „Fausrecht“ eine davon ist. „Form der Freiheit“ hingegen bedeutet, es gibt nur eine Freiheit, die als eine ihrer Unterformen das „Faustrecht“ in sich trägt.
Unabhängig davon aber kann ich dir in deiner Freiheitsdefinition nicht folgen. Denn als Begründung, dass man Anarchie nur über die Abwesenheit von Herrschaft definieren kann und nicht über Freiheit, führst du nun letztlich an, dass man Freiheit über die Abwesenheit von „Gesetz“ definieren müsse. Nach dem Rechtsgrundsatz, alles was nicht verboten ist, ist erlaubt und nach der Auffassung, dass Freiheit das Fehlen von Verboten ist, so folgt aus deiner Auffassung, dass damit Freiheit auch das „Faustrecht“ einschließt. Nun frage ich dich aber, warum sollte ein Faustrecht, das per Gesetz als legitim erkannt ist, Herrschaft sein soll (und es gab und gibt viele Rechtssysteme, die das Faustrecht von Menschen gegen andere anerkannten und akzeptieren, z.B. Spartiaten gegen Heloten, Herren gegen Sklaven, Arier gegen Juden, Polizei gegen Demonstranten), und das Faustrecht ohne Rechtsgrundlage aber Freiheit? Nein Freiheit ist auch nicht nur die Abwesenheit von Gesetz. Freiheit ist in seiner Ganzheit unteilbar, innerhalb des Menschen, außerhalb des Menschen und zwischen den Menschen. Alles ist Teil der einen Freiheit. Und warum ist das keine Metaphysik? Was passiert denn, wenn man Freiheit teilt, wenn man bestimmte Bereiche des Lebens frei und andere reglementiert gestaltet? In den reglementierten Lebensbereichen entstehen (künstliche) Zwänge und (künstliche) Verpflichtungen für jeden Menschen und diese Zwänge und Verpflichtungen erstrecken und dominieren auch die freien Bereiche des Lebens. Das ist letztlich dasselbe, saubere und verseuchte Wasser zu mischen. Das ist nachher auch nicht halb verseucht und halb sauber, sondern einfach nur ganz verseucht. Diese Zwang-Übertragung trifft nicht nur auf das Leben eines Menschen zu, sondern auch auf das zwischenmenschliche Leben. Die künstlichen Zwänge überträgt der ihnen unterworfene Mensch auf die Freien. Diese Zwänge übertragen sich sogar auf die Herrschenden, wie im Faustrecht z.B. die Stärkeren. Denn diese faustrechtliche „Freiheit“ ist die Quelle der Angst der Stärkeren vor 1. der Rache der Schwächeren und 2. vor dem potenziellen „noch-Stärkeren“. Auch der Herrschende ist also den künstlichen Zwängen ausgesetzt, die seine Herrschaft erzeugt und somit sein Leben von diesen bestimmt und nicht von der Freiheit. Spinoza hat dies Phänomen in seinem „Tractatus politicus“ einmal beschrieben. Ursache der Gewalt gegen das Volk in Staaten sei nicht die persönliche Bösartigkeit der Herrschenden, sondern ihre Angst vor dem Volk. Was gesetzesgesicherte und gesetzlose Herrschaft trennt ist nicht die „Freiheit“, denn die ist im ein, wie anderen Fall nicht vorhanden. Was sie trennt, ist die Willkür. Denn das Gesetz ist der Versuch der Herrschenden, ihre Herrschaft abzusichern. Nicht Gesetz sondern Herrschaft beschneidet Freiheit. Und nicht das Gesetz erzeugt Herrschaft, sondern Herrschaft das Gesetz. Daher ist das Faustrecht eine Form der gesetzlosen Herrschaft, aber keine Freiheit und genauso wenig Anarchie.
Anarchie und Freiheit sind daher nicht einfach nur die Abwesenheit von Herrschaft. Ihre vollständige Abwesenheit ist aber die Voraussetzung für Anarchie und Freiheit. Auf der Basis der Herrschaftslosigkeit kann dann Freiheit, d.h. Anarchie entstehen.
2. Der Weg zum „Kettensprengen“
Als ich sagte, dass man Anarchie nicht im hier und jetzt leben kann, sagte ich nicht, dass man nicht daran schon im hier und jetzt arbeiten sollte und daran arbeiten muss, um sie zu erreichen. Aber es ist ein Unterschied, ob ich glaube, in im hier und jetzt in einer hierarchielosen Gemeinschaft Anarchie leben zu können, oder ob ich davon ausgehe, dass auch diese hierarchielose Gruppe keine Anarchie ist, aber mit ihr Anarchie vorbereitet werden kann, wenn man sich gemeinsam darum bemüht. In so fern gebe ich dir in deinen Beschreibungen völlig recht, dass es wichtig ist, das Wesen und die Schwachstelen der Ketten kennenzulernen und andererseits, so gut als möglich auch praktisch zu erfahren, wie es ohne Ketten ginge und welche Schwierigkeiten dann auf einen lauern. Aber auch diese Überlegungen und Versuche finden außerhalb der Anarchie statt, dass muss uns bewusst sein. Anders als in der Anarchie wird es auch in der hierarchielosen Gruppe Formen der Herrschaft geben, wenn man etwas zustande bringen will. Führt man keine strukturelle Hierarchie ein (Gruppenchef, Vizechef etc.), so entsteht eine informelle Hierarchie; die Sprachgewaltigeren, die Aktiveren, die Erfahreneren und die Geldgeber werden immer mehr Einfluss darauf haben, wo es lang geht, sprich, den Weg den anderen vorgeben. Diese haben letztlich nur die Möglichkeit, freiwillig zu folgen oder sich der Sache fern zu halten und damit noch schweigsamer und passiver zu werden. Somit bleibt irgendwann nur der Kern übrig, der in den zentralen Fragen einer Meinung ist und daher auch der Hierarchie nicht bedarf. Diese Art Meinungsauslese ist aber keine Form der Anarchie, denn sie hat es nicht geschafft, allen Menschen dieser Gruppe in ihrer Unterschiedlichkeit Gestaltungsfreiheit zu geben, sie hat sich auf eine Meinung reduziert. Und das ist was ganz anderes. Der Weg zum Kettensprengen geht daher nicht über „Anarchie“ im Kleinen, er geht über die öffentliche Kritik an der Herrschaft mit dem Versuch, so viele wie möglich und so stark wie möglich zu werden. Und der Weg benötigt so wenig interne Herrschaft unter den Anarchisten, wie möglich. Aber dies Ziel ist in den Zeiten der Herrschaft nicht ganz erreichbar und wird so lange nicht erreichbar sein, wie die Anarchie in Konkurrenz zur Herrschaft steht. Und da Herrschaft Anarchie nie dulden wird, wird es nie ein konkurrenzloses Nebeneinander von beidem geben. Was also anarchistische Gruppen nicht zu leisten vermögen, ist schon heute Anarchie erlebbar zu machen. Aber was sie leisten MUSS ist, das Problem zu verdeutlichen, damit die Anarchisten nicht nach Beseitigung der Herrschaft den Irrtum begehen, eine neue Herrschaft aufzubauen, weil sie das so gewohnt sind.
3. Anarchie und Weltbild
Selbstverständlich hat jeder Mensch eine Art mehr oder weniger bewusstes Weltbild. Das ist geprägt durch Erziehung, aber auch durch die Sprache (z.B. Zeitverständnis etc.). Und so basiert auch mein Bild auf Ideen, die ich von anderen übernommen habe, die großteils aus diesem Kulturkreis kommen. Und da in Europa Religion/Christentum – auch in der Form der Hinterfragung und Negierung (Hobbes, Spinoza, die Aufklärung) – extrem prägend war, so finden sich selbstverständlich auch bei meinen Ideen „religiöse“ Traditionen wieder. Dennoch spielt ein konkretes Weltbild letztlich für die Anarchie keine wesentliche Rolle. Denn Anarchie ist die Negation der Herrschaft. Das durch Erziehung und „reale“ Welt erzeugte Weltbild ist überall auf der Welt die Legitimierung der Herrschaft, so unterschiedlich diese Weltbilder und die Legitimation auch sein mögen, überall begründen sie die jeweilige Herrschaft. Somit ist Anarchie die Negation des überall auf der Welt erzeugten Weltbildes zur Legitimierung der Herrschaft; in Europa und grosse modo auch Nordamerika basierend auf christlichen Wurzeln, in Ostasien (wenn ich das unwissend so verallgemeinern darf) basierend auf östlich-esoterischen Wurzeln, im arabischen Raum auf moslemischen Wurzeln, etc. Und bei Indianern und Afrikanern basierend auf ihrem Naturreligionshumbug. Ich kann doch in Japan oder sonst wo hingehen und europäische Herrschaftsideologien hinterfragen, die es da so nicht gibt. In Japan muss ich die japanischen Herrschaftsideologien hinterfragen. Und so überall.
4. Anarchie und Veränderung
Es gibt im Deutschen einen schönen Spruch: Nichts ist so beständig, wie die Veränderung. Und gerade Europa ist geprägt durch viel und ständige Veränderung. Es ist gerade 90 Jahre her, dass eine gewaltige Revolution eine neue Gesellschaftsform einführte, gerade mal 16 Jahre her, dass diese wieder zusammenbrach, es gerade mal 60 Jahre her, dass in den Köpfen von Deutschen und Franzosen das schlimme Wort „Erbfeindschaft“ nicht schon mit der Schulerziehung eingebläut wurde. Kein Weltreich, keine Ideologie der Geschichte hatte ewig Bestand. Daher ist auch in der europäischen Tradition nahezu undenkbar, einer bestimmten Herrschaft oder Ideologie dies zuzugestehen. Aber Anarchie ist weder eine bestimmte oder unbestimmte Herrschaft, noch ist es eine Ideologie. Es ist die Negierung von Herrschaft, die Negierung von Zwängen, die Menschen dazu bewegen, anderen Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Es ist nicht die Legitimierung von Zwängen, es ist die Negierung der Zwänge, die Negierung von Herrschaft und daher die Negierung von Konkurrenz. Der treibende Motor der Veränderung ist die Konkurrenz. In den Zeiten, als eine Mangelwirtschaft existierte, da hatte Herrschaft den Sinn, einigen Wenigen den Luxus auf Kosten der Minimalerfordernisse der Anderen zu ermöglichen. Heute leben wir in einer Überflussgesellschaft und wenn dies entsprechend verteilt würde, könnte das auch auf die gesamte Welt zutreffen. Herrschaft ist daher nicht nur ungerecht, sondern heute zusätzlich auch höchst überflüssig. Ohne den Reichen ihren Luxus zu nehmen, könnten heute die Armen wahrscheinlich im selben Luxus leben. Und wenn mir irgendjemand erzählt, dass es tatsächlich nicht genug Kaviar für alle Menschen gibt, so, bitte, daran soll Anarchie scheitern? Ich will hier nur zu bedenken geben, dass viel auf der Welt gemocht und geliebt wird, weil es Statussymbol ist. Möglicherweise, wenn Kaviar oder sonstwas nicht Symbol für Reichtum und Exklusivität ist, mögen ihn schon viel weniger. Ich jedenfalls verzichte liebend gerne darauf. Ich will hier nur erwähnen, dass erhaltene mittelalterliche Rezepte – für Hof- und Fuggerspeisungen(Fugger=neben den Medici reichste Handelsfamilie im Spätmittelalter), Bauernrezepte haben sich nicht erhalten – beweisen, dass nach heutigen Geschmack die Speisen völlig verwürzt waren. Warum? Weil Gewürze aus fernen Ländern kamen, China, Indien, arabischer Raum. Und Gewürze galten als blanker Luxus. Schmiss man also Unmengen dieser Gewürze ins Essen, so wurde allen gezeigt, wir können uns das leisten. Dieser Brauch hörte auf, als die Gewürze in größeren Mengen eingeführt wurden, an Wert entsprechend verloren und also kein Statussymbol mehr waren. Warum soll es anderen Statussymbolen nicht genauso ergehen? Wenn sie jeder haben kann, sind sie nichts besonderes mehr. Es gibt also keinen Grund anzunehmen, warum ein Zustand, der keine Konkurrenz hat und keine erzeugt, sich verändern sollte. Aber diese Hypothese kann ich natürlich nicht beweisen und würde auch denken, sich dann um das „Warum“ Gedanken zu machen, wenn es Anzeichen der „gesellschaftlichen Veränderung“ in der Anarchie gibt. Denn jetzt ist das alles nur spekulativ.
5. Anarchie und Armee
IN der Anarchie wird es keine Armee geben können, denn sie ist eine Institution mit Sonderkompetenzen, die es schlicht nicht geben kann. VOR der Anarchie gibt es sie, dass wissen und sehen wir. Und in einer Zeit, in der Herrschaft und Anarchie in Konkurrenz zueinander stehen, wäre der Versuch, eine Armee Zwecks Verhinderung von Herrschaft zu installieren oder zu nutzen, ein ausgesprochen riskantes Unterfangen. Sollte das aber sein, so kann niemand von uns sagen, WAS dies dann sein wird; denn das können nur konkrete pragmatische Zwänge der Nochherrschaft uns aufdiktieren.
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