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Freiheit ohne Gleichheit - damals wie heute aktuell!

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bjk

Beiträge: 7353
Ort: Berlin


New PostErstellt: 29.08.04, 16:38  Betreff:  Freiheit ohne Gleichheit - damals wie heute aktuell!  drucken  weiterempfehlen




Einer der Gründe, warum ich "Neues Deutschland" gerne lese, ist neben der in unserer Presselandschaft leider selten gewordenen unabhängigen Sachlichkeit in der informativen politischen Berichterstattung auch ganz besonders die inhaltlich und thematisch hervorragend gestaltete Wochenendbeilage. Hier sind in der Rubrik "Geschichte" aber auch im "Forum", ohne nun etwa die anderen Rubriken herabzusetzen, regelmäßig hochinteressante Beiträge zu finden.

Hochaktuell ist der nachfolgende Beitrag von Prof. Dr. Helmut Bock, kopiert aus: http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=58737&IDC=29



Freiheit ohne Gleichheit

Die welthistorische Deklaration vom 26. August 1789

Von Prof. Dr. Helmut Bock


Freilich traten sie streitbar auf. Die Abgeordneten des Dritten Standes schworen am 20. Juni 1789 im Ballhaus zu Versailles, eine liberale Verfassung des Königreiches ausarbeiten zu wollen. Sie erklärten sich zur konstituierenden »Nationalversammlung«: provokativ und selbstbewusst – gegen die gleichzeitig tagenden Generalstände des Adels und der Geistlichkeit. Nicht diese, sie selbst waren es, die rund 96 Prozent der Bevölkerung Frankreichs repräsentieren wollten. Vom reichen Bürger bis zum elenden Bettler, die schlechthin überwiegende Masse der Nation.Aber sie hatten keine radikale Revolution im Sinn. Diese Juristen und Beamten, Bankiers und Kaufleute, Grundbesitzer und Fabrikanten, Literaten und Gelehrten wollten einen Konsens für Reformen erreichen, damit das Königtum künftig »auf den festen Grundlagen« einer Verfassung überdauern mochte. Der Abgeordnete Sieyès hatte diesen Anspruch durchaus gemäßigt formuliert: »Was ist der Dritte Stand? Alles. Was war er bisher in der politischen Ordnung? Nichts. Was fordert er? Etwas zu sein.« Selbst dem Befehl des Monarchen, sich aufzulösen, begegneten die Abgeordneten mit moderaten Worten ihres Stimmführers Mirabeau: »Wir werden unsere Plätze nur unter dem Zwang der Bajonette verlassen.«

Am 14. Juli hingegen stürmte eine bewaffnete Menge die Pariser Bastille. Nur wenige Tage später brachen Bauernhaufen in vielen Landesteilen die Tore von Herrensitzen und Klöstern. Das Volk stand auf gegen Hochwohlgeborene und begüterte Schwarzkittel, deren Privilegien unter Staatsschutz und dem Heiligenschein der Althergebrachtheit gesichert schienen.


Reformer & Revolutionäre

Ob nun die parlamentarische Selbsterhöhung der Deputierten des Dritten Standes oder erst die offene Rebellion der Straße den Beginn der Revolution anzeigte – die oft diskutierte Frage scheint müßig. Man bedenke, dass die frisch gebackene Nationalversammlung eine Ermutigung für widerständische Volkselemente war, dass letztere aber den Deputierten überhaupt erst einen Rückhalt gegen die drohende Polizei- und Militärmacht des Regimes anboten. Allerdings: Das Volk nötigte den selbst ernannten Volksvertretern einen keineswegs erwünschten Handlungsdruck auf. Resultat dieser Wechselbeziehung zwischen liberalen Reformabsichten und volksrevolutionärer Gewalt war die augenblickliche Vertagung langfristiger Verfassungsdebatten. Jetzt erfolgte die sehr eilige Initiative für neue, freiheitliche Rechtsnormen – und nicht zuletzt: für die Besänftigung der Massen.

Die Nationalversammlung inszenierte Verzichterklärungen von Adligen und Klerikern, die in der Nachtsitzung des 4. August einigen ihrer Privilegien entsagten. Sie beschloss sodann die welthistorische Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789.

Die meisten Abgeordneten hatten über den Streitschriften ihrer geistigen Väter, der »Lumières«, Träger des Lichts, der Aufklärung, begriffen: Nach den ungeschriebenen Gesetzen der Natur mussten alle Menschen als ursprünglich »gleich«, also auch »gleich berechtigt« aufgefasst werden. Im Namen des Naturrechts, das durch die Kraft der philosophisch-moralischen Vernunft zu anwendbaren Regeln gelangt schien, war eine von Vorrechten entfesselte Menschen- und Bürgerordnung zu schaffen. Nationale und internationale Verhältnisse sollten kommen, in denen »Freiheit« und »Gleichheit« für alle Individuen als Menschenrechte garantiert, überdies die Souveränität der Völker vor Willkürakten, Aggressionen und Angriffskriegen gesichert seien.

Im merkwürdigen Glauben, die Unkenntnis der Menschenrechte sei die »einzige Ursache« der öffentlichen Missstände und Verderbtheit der Regierungen, erklärten die Abgeordneten eben diese »angestammten, unveränderlichen und heiligen Rechte« am 26. August 1789 in einem grundgesetzlichen Prinzipien-Katalog. Verbindlich für jedermann, zumal für gesetzgebende und ausübende Staatsgewalten. »Artikel 1. Frei und gleich an Rechten werden die Menschen geboren und bleiben es. Die sozialen Unterschiede können sich nur auf das gemeine Wohl gründen. Artikel 2. Der Zweck jedes politischen Zusammenschlusses ist die Bewahrung der natürlichen und unverlierbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Bedrückung.« Auf den ersten Blick fällt auf: »Gleichheit« fehlt unter den eigens hervorgehobenen Grundrechten. War sie schlicht vergessen worden? Oder waren diese Stellvertreter der Nation bereits von Argwohn getrübt? Immerhin empörten sich Bauern und Arme mit dem Ruf »Freiheit und Gleichheit!« auch gegen reiche Bürger, die als Großpächter und Gutsbesitzer das Landvolk bedrückten. Überdies war gemeldet worden, Bürgermiliz sei für den wohllöblichen Zweck der »Ordnung und Sicherheit« in die Dörfer marschiert – 33 Aufrührer seien gehängt worden. Blieb daher die »Gleichheit«, nun auch vom »Pöbel« beschworen, aus Parlament und Gesetzesbeschluss verwiesen?

Zeitgenossen und spätere Historiker versichern: Ernstliche Vorbehalte gegen die »Gleichheit« hätten bei der Mehrzahl der Deputierten nicht bestanden. Waren nicht »Freiheit« und »Gleichheit« nahezu identisch? »Freiheit« war doch unmöglich, wenn nicht allen Franzosen die gleichen Rechte und Pflichten zuerkannt wurden: König, Bischof, Besitzbürger, Bauer, Handwerker, Lohnarbeiter, Habenichts – ein jeder freie Mensch und Staatsbürger sollte dieselben Gesetze genießen und achten. »Artikel 4. Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was anderen nicht schadet. Also hat die Ausübung der natürlichen Rechte bei jedem Menschen keine anderen Grenzen als die, den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte zu sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden.« Es war die Rechts-»Gleichheit« also, die das Maß der »Freiheit« festlegte. Und sie erschien den Parlamentariern vereinbar mit den erwähnten »sozialen Unterschieden«, der Ungleichheit von Besitz und Eigentum.

Indem die Deputierten die Offensive des Liberalismus vorantrieben, machten sie auch vor dem König nicht halt. Sie ersetzten den Anspruch absolutistischer Selbstherrschaft durch das rechtsstaatliche Prinzip der »Volkssouveränität«. Artikel 3: Eine Regierung habe nur im Interesse der Regierten, nicht der Regierenden zu arbeiten. Der Ursprung aller Souveränität liege bei der Gesamtheit des Volkes (»dans la nation«), so dass »keine Körperschaft« und auch »kein Einzelner« eine Gewalt ausüben dürfe, die nicht explizit vom Volk ausgehe. Zudem könnte eine gesellschaftliche Ordnung nicht als rechtsstaatlich gelten, deren Verfassung keine Teilung der Gewalten in Gesetzgebung, Staatsverwaltung und Rechtsprechung vorschreibe (Art. 16).

Die Situation, in der solches debattiert und beschlossen wurde, brachte sogar Texte hervor, die nicht bloß »bürgerlich-liberalistisch« zu nennen sind. Da wurden volksnahe, real-demokratische Verheißungen formuliert. Alle Staatsbürger sollten »in der gleichen Weise zu allen Würden, Stellungen und öffentlichen Ämtern zugelassen« werden – »je nach ihrer Fähigkeit und ohne andere Unterschiede als ihre Tüchtigkeit und Begabung« (Art. 6). Die öffentliche Gewalt durfte nur »zum Nutzen aller eingesetzt« werden – »nicht aber zum Sondervorteil derjenigen, denen sie anvertraut ist« (Art. 12). Für den Unterhalt dieser Gewalt und die Ausgaben der Staatsverwaltung war eine allgemeine Steuer vonnöten – »auf alle Bürger zu verteilen«, aber »nach Maßgabe ihres Vermögens« (Art. 13). Und: Die in der Gesellschaft vereinigten Bürger sollten hinfort nicht mehr das bürokratisch gegängelte Objekt eines autoritären Staates, seiner Machthaber und Beamten sein – vielmehr das Recht besitzen, »von jedem öffentlichen Beauftragten ihrer Verwaltung Rechenschaft zu fordern« (Art. 15). Für den Fall der Selbstüberhebung künftiger Machtträger bot das Grundprinzip des »Widerstands gegen Bedrückung« die Rechtlichkeit streitbarer Alternativen an.

Aufgeschreckt von Sansculotten und Landvolk verabschiedete die Nationalversammlung im stürmischen Sommer 1789 mit gebotener Eile diese Geburtsurkunde eines neuen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft. Die 17 Punkte der Erklärung besiegelten nicht nur die Abschaffung des monarchischen Gottesgnadentums sowie der Privilegien des Adels und des Klerus, stellten nicht nur den Grund- und Kapitalbesitz unter den Schutz der baldigen Verfassung, sondern kündigten eine zivilisatorisch-humane Aufgabe an: den »frei« und »gleich« geborenen Menschen und Staatsbürger in einer gerecht und freiheitlich gestalteten Gesellschaft.

Und doch waren es die Wohlhabenden, die den Honig aus der Blüte sogen! Das offenbarte binnen Jahresfrist die Verfassungsdebatte der Parlamentarier. Zum Beispiel: Wer sollte die künftige Nationalversammlung, die gesetzgebende Körperschaft, wählen? – Allein der Besitzende sei der »wahre Aktionär am großen Gesellschaftsunternehmen«, agitierte der Vordenker Sieyés im Geiste des Liberalismus. Gesetzgebung, Staatsverwaltung, Kommunalvertretungen seien nichts anderes als »Eigentumsangelegenheiten«, woran »nur Eigentümer ein legitimes Interesse« hätten. Der Mann, der zuvor die umfassende Einheit des Dritten Standes beschworen hatte, spaltete jetzt die Nation in »Aktivbürger« und »Passivbürger«. Nur guten Steuerzahlern gewährte das Wahlgesetz ein Recht, das Parlament zu wählen: von 26 Millionen Franzosen nur 4,3 Millionen. »Freiheit« und »Gleichheit« gerieten unter den Vorrang des »Eigentums«. Das hieß in der Erneuerung von Staat und Gesellschaft: »Freiheit« und »Sicherheit« der Eigentümer des Bodens, des Kapitals, der größeren Produktionsmittel – und im Alltag der Revolution: Entfesselung des Spekulanten- und Schiebertums, skrupellose Bereicherung der Reichen.


Gemein- & Privatwohl

Aus der kritischen Reflexion dieses Tatbestands wuchsen gegen den zeitgenössischen »Liberalismus« die volksnahen Alternativen auf: Strömungen des »revolutionären Demokratismus«. Jean-Paul Marat warnte in seiner Zeitung »Ami du peuple«: »Wenn erst das Wahlrecht auf die Wohlhabenden beschränkt ist, werden die Wahlen nur zugunsten der Reichen ausfallen... Was wäre durch die Beseitigung der Adelsaristokratie gewonnen, falls an ihre Stelle die Geldaristokratie tritt?« Selbst auf der Parlamentstribüne enthüllte der Abgeordnete Robespierre, was die Debatten bedeuteten: »Dass die Gesetze, dass die Verfassung nicht für das Gemeinwohl, sondern für den privaten Nutzen einer bestimmten Klasse von Menschen geschaffen worden wären; dass sie nicht gemeinsames Eigentum aller Glieder der Gesellschaft, sondern Erbteil der Reichen wären.« Fälschlich werde behauptet, dass alle Menschen »gleich geboren« seien – tagtäglich widerlegt durch verhängnisvolle Erfahrung.

»Liberté! Ègalite! Fraternité!«

Der ewige Dreiklang war nicht Losung von 1789 und nicht Geist vom Geiste der Bourgeoisie. Er erstand 1793 im »Klub der Cordeliers« (»Gesellschaft der Freunde der Menschen- und Bürgerrechte«): Streitruf der Volksrevolutionäre – an die Adresse der Besitzenden.



Prof. Bock veröffentlichte bei der Hellen Panke e.V. eine Broschüre zum Thema »Freiheit, Gleichheit – und kein Ende« (Berlin 2001).

(ND 28.08.04)


[editiert: 29.08.04, 16:49 von bjk]



Dateianlagen:

Sieg des Dritten Standes über die Privilegierten.jpg (66 kByte, 328 x 434 Pixel)
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