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WG: Bildungschancen für Einweandererkiner, Reportage

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Thomas Kujawa
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Beiträge: 1247
Ort: Mitteldeutschland


New PostErstellt: 02.03.05, 23:28  Betreff: WG: Bildungschancen für Einweandererkiner, Reportage  drucken  weiterempfehlen Antwort mit Zitat  

aus der taz

Verschollen an deutschen Schulen

Ihre Eltern kannten die Kultur nicht, sie hatten keine Fürsprecher und das
Schulsystem setzte sie auf die falschen Karrieregleise. Zwei Beispiele
bildungshungriger Einwandererkinder, die versuchen, aus den Sackgassen der
deutschen Schule auszubrechenAUS KARLSRUHE
STEFANIE ADAMCZYK
Anahita ist zwanzig. Die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens hat Anahita in
einer baden-württembergischen Großstadt verbracht. Seit sie vierzehn ist,
jobbt sie regelmäßig, hilft mal als Verkäuferin, mal als Kellnerin aus.
Derzeit serviert sie wieder. In der Musikbar "Radio Oriente" - klassische
Typbesetzung, denn Anahita ist Iranerin.
Wenn es nach dem Berufsberater gegangen wäre, den sie nach ihrem
Hauptschulabschluss vor vier Jahren orientierungslos aufsuchte, würde sie so
etwas heute wohl hauptberuflich machen. Sie sei so keck und wortgewandt. Ob
sie nicht Verkäuferin werden wolle, hieß es damals. "Nur weil ich in meinem
Berufsfragebogen angegeben habe, dass ich gern etwas ,mit Menschen' zu tun
haben möchte?", fragt Anahita heute. "Was sonst schreibt man schon mit 16
Jahren auf solch einen Zettel?"
Die junge Frau, die hier mit großen fragenden Augen schaut, will niemandem
einen persönlichen Vorwurf machen. Will nicht behaupten, dass nur Schüler
mit ausländischem Hintergrund so abgefertigt werden - und wischt diese
Annahme gleich mit einer energischen Handbewegung vom Tisch. Sie wolle nur
die Chance, die ihr zusteht. "Ich war noch so klein, als ich nach
Deutschland kam, dass ich zumindest sprachlich alle Möglichkeiten gehabt
hätte, etwas aus mir zu machen", meint Anahita in akzentfreiem Deutsch.
Trotzdem sei sie, wie sie es heute empfindet, erst einmal auf die
Hauptschule abgeschoben worden. "Ich hatte einfach keinen Fürsprecher."
Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Sonderschule - was gemeinsam begonnen
hat, wird in Deutschland nach vier Jahren Grundschullaufbahn auseinander
getrieben, um in der angeblich begabungsgerechten Richtung weiter zu machen.
Getrennt nach Fähigkeiten. Der Blick in die Daten des Statistischen
Bundesamtes macht jedoch auch deutlich, dass es auf diese Weise zu einer
sozialen Verzerrung kommt.
So stehen einem Ausländeranteil von rund 12 Prozent an bundesdeutschen
Grundschulen, ganze 19 und 16 Prozent an Haupt- und Sonderschulen gegenüber,
während nur magere 4 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund nach der
Grundschule auf ein Gymnasium wechseln. Integrationsversäumnis. Das
zumindest findet, wer nach Gründen sucht. Die Begegnung mit Anahitas Mutter
etwa bedeutet zunächst einmal die Begegnung mit einer augenscheinlich
westlichen Frau. Erst als diese iranische Mutter, die mit kurzen blondierten
Haaren, in Pulli und Hose vor einem steht - und von der man bereits weiß,
dass sie sogar liberal genug ist, um ihre Tochter auch unverheiratet mit
ihrem Freund zusammenleben zu lassen -, erst als diese Frau den Mund
aufmacht und nur Farsi herauskommt, wird das eigentliche Problem deutlich.
Diese Frau weiß, dass sie es ist, die sich hätte integrieren müssen. "Doch
wann immer meine Mutter kleine Schritte in die deutsche Sprache unternommen
hat", erklärt Anahita, "wurde sie verlacht und gedemütigt." So bleibt sie
lieber taub und stumm. Und fühlt sich schuldig, dass ihre vier Kinder
ihretwegen immer wieder zurückgesetzt wurden. Denn was ihr heute noch immer
unmöglich ist, war zur Grundschulzeit ihrer Tochter vor über zehn Jahren
erst recht nicht machbar: eine aktive und unterstützende Planung der
Schullaufbahn. "Menschen sind verschieden und Kulturen sind verschieden -
und wir konnten nur aus dem lernen, was man uns erklärt hat", weiß Anahita.
So wurde zum Beispiel ihr ein Jahr älterer Bruder Arash noch mit einer
leeren Schultüte eingeschult. "Mama hatte die Tüte nur schnell besorgt, weil
am Vorabend eine Nachbarin sagte, dass man die in Deutschland braucht.
Erklärt, dass da auch noch etwas reinsoll, hat uns jedoch niemand." Heute
können sie darüber lachen. Damals war es nur traurig. Ist es eigentlich
immer noch.
Das Schicksal mit der leeren Schultüte blieb Anahita erspart, denn die
Familie hatte gelernt. Doch etwas anderes blieb unerklärt: "Ich wusste
nicht, dass die Zukunft eines Kindes in Deutschland schon nach der vierten
Klasse entschieden wird", sagt die sprachlose Mutter. "Im Iran gibt es
schulisch nur einen Weg - und der führt, wenn man gut genug ist, an die
Universität." Und genau dort will Anahita hin. Medienwissenschaftlerin
werden. Nicht Verkäuferin, nicht Kellnerin. Was dieses Ziel angeht, befindet
sie sich in Deutschland derzeit auf einem weiten Umweg: dem über das
Abendgymnasium.
Einem Weg, der dem so genannten zweiten Bildungsweg angehört, und bei dem
das Abendgymnasium nur eine der Optionen ist, auch nach einer zu frühen
Auslese im regulären Schulbetrieb noch einen seinen Fähigkeiten
entsprechenden Abschluss zu erhalten.
Einen Weg zum nachträglichen Abitur, den auch Dijana geht. Dass sie ebenso
wie Anahita Kind von Migranten ist, spielt dabei jedoch keine Rolle. "Auch
anders sind Wege manchmal einfach nicht gerade", meint die 27-Jährige und
erzählt von ihrem Werdegang, der sie über die Realschule zunächst zur
ausgebildeten Arzthelferin machte. "Was ich aber eigentlich immer sein
wollte, war selbst Ärztin." Und genau in diesem Moment geht ein belebender
Ruck durch die junge Frau, die sich bislang etwas abgespannt an ihrer
Kaffeetasse festzuhalten schien - monoton, müde, gegen das warme Gelb der
Wände im Café etwas blass wirkend. "Erst habe ich gedacht, das ginge nicht
mehr. Es sei zu spät, weil niemand rechtzeitig daran gedacht hat, mich
gleich aufs Gymnasium zu schicken. Aber dann habe ich mich irgendwann
entschlossen, meinen Traum doch noch anzupacken." Sie überlegt einen Moment,
ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen, der Mund kräuselt sich, bevor Dijana
sich berichtigt: "Nein, ich habe mich entschlossen, für meinen Traum zu
kämpfen!"
Wem diese Formulierung im Zusammenhang mit Bildung etwas hart erscheint, der
muss selbst nach einer passenderen suchen, wenn er von Dijanas Tagesablauf
hört. "Ich habe keinen freien Tag in der Woche." Wieder wirkt sie müde,
zieht an ihrer Zigarette. Vor ihr liegt ein Mathebuch. Es ist 17 Uhr. Kleine
Verschnaufpause. Seit zwölf Uhr mittags bis vor einer halben Stunde hat sie
noch in einem Internetcafé gekellnert. Jetzt hat sie noch fünfzehn Minuten -
dann wird sie bis 22 Uhr schräg gegenüber im Abendgymnasium sitzen. So sieht
Dijanas Montag aus. Der Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. "Freitags habe ich
keine Abendkurse", sagt sie. "Dann kann ich von zwölf bis halb neun im Café
arbeiten."
Freitags, 20.30 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt sieht man Dijana aus dem
Internetcafé stürmen und es scheint ihr gar nicht schnell genug nach Hause
gehen zu können, wenn sie die Straße runter und die Treppe hoch in den
vierten Stock eilt.
Und dann gleich wieder runter - denn sie hat sich nur kurz umgezogen. "Am
Wochenende bediene ich zusätzlich noch in einer Bar. Freitags ab neun,
samstags und sonntags ab sieben Uhr." Bis Dijana schließlich erneut die
achtzig Stufen zu ihrer Wohnungstür in Angriff nimmt und oben bleiben kann,
wird es oft vier Uhr in der Früh.
Halb verteidigend, halb resignierend meint sie: "Tja, geht leider nicht
anders." Sonst käme sie finanziell nicht über die Runden.
Warum sie nicht einfach in ihrem erlernten Beruf arbeitet? Achselzucken. Die
Arbeitszeiten ließen sich nicht mit ihren Abendkursen vereinbaren. Und wann
nimmt sie sich Zeit zum Lernen? Vormittags, vor Klausuren oft auch noch
nachts. Aber sie habe ja schon gesagt, dass sie zu kämpfen bereit ist. Und
Dijana schließt: "Weißt du, wer nach dem ersten halben Jahr nicht aufgegeben
hat, der will es wirklich."
Sie will es. Wie auch Anahita und mit ihnen tausende in Deutschland. Rund
3.300 sind es allein in Baden-Württemberg. Wenn die Landesregierung dort ab
2005 die Zuschüsse für den zweiten Bildungsweg wie geplant kürzt, wird der
Weg für all jene noch etwas steiniger. "Ein Schulgeld von 1.200 Euro im Jahr
könnte ich mir wohl kaum leisten", meint Dijana.
Um diese drohenden Kosten vielleicht doch noch abwenden zu können, zieht sie
so mit Anahita durch die Straßen und sammelt Unterschriften für eine
Petitionsliste, die unter der Adresse www.betteln-fuer-bildung.de
im Internet steht. Sätze, welche die
beiden Abendschülerinnen dabei immer wieder einstecken müssen, sind: "Warum
geht ihr nicht einfach arbeiten?" und "Selbst schuld! Ihr hättet ja Abi
machen können, wie andere auch."

taz Nr. 7604 vom 2.3.2005, Seite 18, 287 Zeilen (TAZ-Bericht),

STEFANIE ADAMCZYK
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