Unvollständige Legitimation der Staatsgewalt oder: Geht alle Staatsgewalt nur vom volljährigen Volk aus?
von Lore Maria Peschel-Gutzeit
Wer legitimiert die Staatsgewalt? Knapp 16 Millionen minderjährige Bürgerinnen und Bürger unseres Staates (Stand: 31.12.1995) sind nach Art. 38 II GG von der Teilnahme an den Wahlen und damit von der Mitwirkung an der Legitimation der Staatsgewalt ausgeschlossen. Tatsächlich legitimieren also nur etwa 80% der Bevölkerung die Staatsgewalt – und zwar auch mit Wirkung für die nichtbeteiligten rund 20%. Minderjährige sind eigenständige Rechtspersonen. Sie sind auch Inhaber von Grundrechten. In vielfältiger Weise nehmen sie am gesellschaftlichen, finanziellen und politischen leben teil – sei es unmittelbar, sei es vertreten durch die Eltern. Ihre Beteiligung ist dabei nicht auf die Inanspruchnahme bestimmter Rechte beschränkt. Schon frühzeitig werden sie auch in die Pflichten eines Staatsbürgers eingebunden: So beginnt die strafrechtliche Verantwortung z.B. vor dem Eintritt in die Volljährigkeit. In einer Hinsicht sind sie freilich gänzlich ausgeschlossen. An der Konstitution der Staatsgewalt wirken sie nicht mit, sie haben – obwohl unbezweifelbar Mitglied unseres Staatsvolkes – nicht teil an der Volkssouveranität nach Art. 20 II GG, von ihnen scheint keine Staatsgewalt auszugehen. Art. 38 II Halbs. 1 GG bestimmt nämlich, daß die Wahlberechtigung erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres erreicht wird.
Gibt es bessere Wege? Die Forderung, bei der Legitimation der Staatsgewalt auch die Stimmen der Minderjährigen zu berücksichtigen, wird seit langem erhoben, mit unterschiedlicher Begründung und differenzierten Zielen. Die einen fordern ein selbst auszuübendes Wahlrecht ab 14 oder 16 Jahren – einige sogar ab der Geburt. Andere fordern ein sogenanntes Familienwahlrecht, also die Erhöhung der originären Stimme der Eltern. Die dritte Forderung zielt darauf ab, jedem Deutschen von Geburt an das Wahlrecht zu gewähren und dessen Ausübung für die Zeit der Minderjährigkeit des Kindes auf die Eltern zu übertragen (gegen diese Forderung v. Münch, NJW 1995, 3164). Um die dritte Forderung geht es in den nachstehenden Überlegungen. Um keinen Irrtum zu erzeugen: Wer dies will, muß selbstverständlich eine Änderung des Art. 38 II Halbs. 1 GG anstreben.
Warum haben Minderjährige kein Wahlrecht? Zur Rechtfertigung der geltenden grundgesetzlichen Regelung wird im wesentlichen ins Feld geführt, eine Ausübung des Wahlrechts durch einen (gesetzlichen) Stellvertreter verstoße gegen den Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl, da der Stellvertreter (Elternteil) anstelle des Wahlberechtigten (Minderjährigen) auch die inhaltliche Wahlentscheidung treffe (so z.B. v. Münch, NJW 1995, 3165). Und die Höchstpersönlichkeit der Wahl sei notwendig, um Manipulationen – bis hin zum Stimmenkauf – zu verhindern. Es trifft zu, daß derjenige, der seine Stimme durch einen Vertreter abgeben läßt, damit nicht höchstpersönlich wählt. Zu fragen ist aber, ob die Höchstpersönlichkeit der Wahl eine verfassungsrechtliche Bedingung ist. Der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl ergibt sich nicht aus dem Grundgesetz: Er leitet sich allenfalls mittelbar aus dem Erfordernis der geheimen Wahl ab. Aber auch hier gibt es Ausnahmen: Bei der Briefwahl und der Stimmenabgabe mit Hilfe einer Vetrauensperson. Hier wird die Höchstpersönlichkeit durchbrochen oder bleibt doch ungarantiert, ohne daß dies für verfassungsrechtlich unzulässig oder auch nur bedenklich gehalten wird: Denn, so wird argumentiert, dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl werde so jedenfalls entsprochen. Ihm werde in höherem Maße Rechnung getragen, als wenn Abwesende von der Wahl ausgeschlossen würden.
Was zeigt die Geschichte? Im Laufe der Rechtsgeschichte haben sich die verschiedenen Systeme und die von ihnen gewährten Wahlberechtigungen immer wieder verändert. So durften einst nur Personen von Stand, dann auch selbständige Bürger, später jeder volljährige Mann, also auch die Farbigen in den USA, und schließlich sogar die Frauen wählen. In Deutschland wurde das Wahlalter von 25 Jahren (in der Zeit vor 1918) auf 18 Jahre (im Jahre 1970) – und jüngst für die Kommunalwahl in Niedersachsen sogar auf 16 Jahre – herabgesetzt. Alle diese Änderungen waren übrigens stets als abwegig betrachtet worden, bevor sie, zum großen Teil erst nach langwierigen Verhandlungen über Jahre hinweg, durchgesetzt werden konnten. Auch heute, 1997, scheint es nicht anders zu sein:
Gibt es eine angemessene Lösung? Die Rechtsstellung Minderjähriger bringt es mit sich, daß sie in nahezu jeder Hinsicht – auch und gerade bei höchstpersönlichen Angelegenheiten – von ihren Eltern vertreten werden. Der Stimmabgabe bei einer politischen Wahl liegt eine Entscheidung zugrunde, die unmittelbare Konsequenzen für den einzelnen Wähler nicht hat. Die Auswirkungen für jeden und damit auch für den minderjährigen Wähler sind weit weniger entscheidend als manche Verfügung, die die Eltern etwa in finanzieller Hinsicht mit Wirkung für ihre Kinder treffen. Zudem wären Eltern auch hier nach ihrer verfassungsrechtlichen Treuhänderstellung stets verpflichtet, ihre Wahl am Wohl des Kindes auszurichten. Und im übrigen hätten sie die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis ihres Kindes zu selbständigem verantwortungsbewußtem Handeln bei Abgabe der Stimme des Kindes in Stellvertretung stets zu berücksichtigen. Sie hätten, wenn und soweit die Entwicklung des Kindes dies zuläßt, die Frage der politischen Entscheidung mit dem Kinde zu besprechen und Einvernehmen mit ihm anzustreben, § 1626 II BGB. Auch der oft gehörte Einwand, wer denn die Entscheidung treffen solle, wenn z.B. Vater CDU, Mutter SPD wähle, ist unbegründet. Das Gesetz trifft in § 1628 BGB eine Konfliktregelung, die auch hier einschlägig wäre: Das Gericht übertrüge bei unlösbarem Konflikt einem von beiden Elternteilen die Gesamtentscheidung. Die Schwierigkeit, die kindeswohlgerechteste Entscheidung bei der Wahl zwischen politischen Parteien herauszufinden, ist unverkennbar, aber nicht unlösbar, zumal das richterliche Einigungsgespräch nach § 1628 II BGB auch hier die entscheidende Bedeutung haben dürfte. Aber auch andere Lösungen sind denkbar: Hattenhauer (JZ 1996, 9 [16]) hat hierzu den Vorschlag unterbreitet, jedem Elternteil pro Kind nur eine halbe Stimme einzuräumen. Dabei folgt das Recht der Stellvertretung auch bei der Stimmabgabe dem Sorgerecht. Hat also nur ein Elternteil das elterliche Sorgerecht, so steht ihm auch die ganze Stimme zu. Der Einwand schließlich, hinsichtlich der Ausübung des Wahlrechts durch die Eltern könne das Wächteramt des Staates unterlaufen werden, geht ebenfalls fehl. Worin könnte bei Wahlausübung durch die Eltern die unmittelbare Gefährdung des Kindes liegen? Selbst wenn nicht Aspekte, die für Kinder und ihr Umfeld wichtig sind, bei der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte politische Partei eine Rolle spielen, so schadet das doch nicht unmittelbar, und mittelbare Auswirkungen elterlichen Handelns unterliegen nicht der Überwachung durch die staatliche Gemeinschaft.Was würde sich gesellschaft-lich und politisch ändern?Könnte sich eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag dazu entschließen, Art 38 II Halbs. 1 GG entsprechend den vorherigen Ausführungen zu ändern, so wäre ein großer Schritt in Richtung Familien- und Kindergerechtigkeit unserer Gesellschaft getan: Die Bestimmung in Art. 20 II GG, wonach alle Staatsgewalt vom Volke, d.h. dem ganzen, ausgeht, würde erstmals vollständig umgesetzt. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahlen, der zugleich Ausdruck der Gleichheit aus Art. 3 GG ist, würde erheblich gestärkt, denn 20 Millionen Minderjährige würden ihre Stimme durch einen Stellvertreter abgeben können. Die Bedeutung des Staatsziels aus Art 20a GG, wonach der Staat in der Verantwortung für die künftigen Generationen steht, würde erheblich aufgewertet werden, wenn die Interessen der nachwachsenden Generationen schon jetzt ihrer Zahl entsprechend Niederschlag in dem Wahlverhalten finden könnten. Würden die Minderjährigen – über ihre Eltern – eine Stimme haben, so wäre allein ihre Gruppe, also ohne die betroffenen Eltern, schon größer als die der Senioren. Eine solche Änderung im Wahlrecht würde endlich die soziale Symmetrie, die verloren gegangen ist, wieder herstellen oder doch verbessern. Andere Schwerpunkte könnten in der Politik gesetzt werden, weil Familien mit minderjährigen Kindern auf dem Markt der knappen öffentlichen Ressourcen mit anderen starken "Interessengruppen" endlich konkurrieren könnten. Schließt man aber Minderjährige weiterhin von der Teilnahme an Wahlen aus, so bleibt es bei der bekannten "Schieflage" zu Lasten der Familien mit Kindern, die einschlägige Interessenverbände und die Kirchen seit Jahren beklagen. Wenn die Situation von Familien mit Kindern, die sich als einzige der Sicherung der Zukunft unserer Gesellschaft widmen, nachhaltig verbessert werden soll, muß sie in ihrer Gesamtheit das ihr zustehende politische Gewicht erhalten. Das geschieht am ehesten und am sichersten durch die Gewährung des Wahlrechts für alle Bürgerinnen und Bürger von der Geburt an.
Gekürzte Fassung eines Artikels in der Neuen Juristischen Wochenschrift 1997, Heft 43 (2861 – 2862).