Düsseldorf (rpo). Der Zweite Weltkrieg war vorbei, aber das soziale Elend der Nachkriegszeit riesengroß. Vor diesem Hintergrund gründete ein Kinderarzt in Hannover vor genau 50 Jahren den Kinderschutzbund. Heute ist der Verein mit 50.000 Mitgliedern die größte Lobby für Kinder in Deutschland und setzt sich vor allem für eine gewaltfreie Erziehung und gegen die zunehmende Armut in Familien ein. Zum 50. Geburtstag des Kinderschutzbundes sprachen wir mit dem Präsidenten Heinz Hilgers über seine Arbeit und Missstände in der gegenwärtigen Familienpolitik.
Frage: Wie sind Sie zu Ihrer Tätigkeit beim Kinderschutzbund gekommen?
Hilgers: Ich habe mich immer schon für die Interessen von Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Als Vater von drei Kindern, als Jugendamtsleiter in der Stadt Frechen, als Vorsitzender der Gewerkschaftsjugend im Kreis Neuss oder als kinder- und jugendpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen hat mich das Thema immer bewegt.
Frage: Worin liegen die Verdienste des Kinderschutzbundes?
Hilgers: Der Kinderschutzbund ist die größte Lobby für Kinder in Deutschland. Mit 50.000 Mitgliedern, 3.500 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mehr als 10.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern betreibt er selbst zahlreiche Hilfseinrichtungen für Familien und Kinder.
Dazu zählen in ganz Deutschland unsere Kinderschutzzentren, Beratungsstellen, das bundesweite Kinder- und Jugendtelefon, das Elterntelefon, die Kinderhäuser Blauer Elefant, die Elternkurse "Starke Eltern Starke Kinder" sowie das Projekt "Kind im Krankenhaus". Ebenso haben wir Spielstuben, Kindertageseinrichtungen und Kleiderläden eingerichtet. Wir bieten Spielplatzbetreuung an genauso wie Hausaufgabenhilfe, sozialpädagogische Familienhilfe, neue Ganztagsschulprojekte und rechtlich verbriefte Institutionen wie "Betreuter Umgang" und Verfahrenspflegschaften.
Frage: Wie haben sich die Probleme von Eltern und Kindern in den vergangenen 50 Jahren verändert?
Hilgers: Vor 50 Jahren war Deutschland am Anfang des Wiederaufbaus. Für viele Familien ging es um die tägliche Existenz. Vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, war unbekannt. Aber auch Probleme, wie Gewalt in der Familie oder sexueller Missbrauch, wurden verdrängt. Heute hat der Kinderschutzbund Arbeitsschwerpunkte, die sich an den gesellschaftlichen Problemen vieler Familien und Kinder orientieren. Deshalb sind Gewalt gegen Kinder und Armut von Familien unsere zentralen Themen. Wir werden uns in Zukunft aber stärker dem Thema Bildung zuwenden.
Gegen eine Politik des Rasenmähers
Frage: Welche konkreten Forderungen stellen Sie heute an eine kinder- und familienfreundliche Politik?
Hilgers: Wir fordern einen gerechten Familienleistungsausgleich mit 300 Euro Kindergeld für jedes Kind. Wir erwarten, dass mehr getan wird, um das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in der Lebenswirklichkeit zu realisieren, und wir verlangen, dass die soziale Infrastruktur für Familien mit Beratungsangeboten, Kindertageseinrichtungen und kindgerechten Ganztagsschulen bedarfsgerecht und qualifiziert ausgebaut wird, anstatt mit der Rasenmähermethode zu kürzen. Kinder und Familie müssen außerdem an allen sie betreffenden Entscheidungen besser beteiligt sein.
Frage: Zur Situation der Kinder im europäischen Vergleich: Wo steht Deutschland in puncto Kinderfreundlichkeit?
Hilgers: Deutschland nimmt in Europa in Sachen Kinderfreundlichkeit einen der letzten Plätze ein. Das beweist auch die seit Jahren extrem niedrige Geburtenrate. Frankreich, die skandinavischen Länder und die Benelux-Staaten haben einen sozial gerechteren Familienleistungsausgleich, ein leistungsfähigeres Bildungswesen mit bedarfsdeckenden Ganztagsplätzen und deshalb mehr Kinder und ein kinderfreundlicheres Klima in Gesellschaft und Politik.
Frage: Ihre persönliche Bilanz zum Jubiläum: Wo sehen Sie besondere Erfolge bzw. Misserfolge Ihrer Arbeit?
Hilgers: Der größte Erfolg des Kinderschutzbundes war, dass zum 1.Januar 2000 das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung im § 1631 BGB gesetzlich verankert werden konnte. An dieser Stelle stand früher das elterliche Züchtigungsrecht. Ein Misserfolg wäre, wenn durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld auf dem Niveau der Sozialhilfe die Zahl der Kinder, die in bitterer Armut leben, von einer auf anderthalb Millionen steigt.