Thomas Kujawa
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Erstellt: 25.03.06, 19:03 Betreff: Leipzigs graue Haare: Was ist dran an der Floskel vom „demografischen Wandel“?
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geschrieben von: Ralf Julke am Samstag, 25. März 2006
Die Wortfügung „demografischer Wandel“ ist zum Mode-Spruch geworden, hat die im Jahr 2000 von Wolfgang Thierse beschworene Angst („Der Osten steht auf der Kippe!“) durch ein neues Menetekel ersetzt: deutsche Frauen bekämen zu wenig Kinder, die Gesellschaft vergreise. 1,39 Kinder pro Frau seien zu wenig. 2,1 Kinder pro Frau seien notwendig, um die Bevölkerung bei augenblicklicher Stärke zu halten. Davon ist auch Leipzig meilenweit entfernt.
Auf 4.370 Geburten kamen in der Messestadt im letzten Jahr 5.742 Todesfälle. Die Geburtenrate ist - seit dem absoluten Tiefststand im Jahr 1995 (2.405 Geburten) - kontinuierlich angestiegen, aber noch meilenweit davon entfernt, die Todesrate auch nur einzuholen. Jetzt scheint sich der Wert beim bundesdeutschen Durchschnitt einzupendeln. Geburtenfreude kann man das nicht nennen. Lebensfreude auch nicht.
Denn gerade die Leipziger, die eigentlich Familien gründen und Kinder bekommen sollten, haben die schlechtesten Einkommen. 2002 lag der Durchschnittsverdienst der 18- bis 35jährigen in Leipzig bei 875 Euro, mehr als 200 Euro weniger als die 35- bis 55jährigen bekamen, weniger auch, als Leipzigs Rentner erhielten (900 Euro). Ein Jahr später rutschte der Verdienst der Unter-35jährigen auf 754 Euro ab, das Einkommen der Rentner kletterte auf 950 Euro.
Solche Zahlen sind symptomatisch für das, was Politiker gern als „demografische Entwicklung“ bejammern. Mit den Steuerbefreiungsmodellen der Bundesfamilienministerin ist dem nicht beizukommen. In solchen Verdienstbereichen zahlt man keine Steuern. Da überlegt man lieber, ob man das Risiko eines Kindes überhaupt eingeht. Denn Kinder bedeuten in so einer Situation schnell den Absturz in die Sozialfalle. Der Rationalisierungsdruck nimmt immer mehr Unternehmen jeglichen Puffer, um das, was man früher „Babypause“ nannte, aufzufangen.
Kinder beenden nicht nur Karrierechancen, sie kegeln auch fleißigste Mitarbeiter(innen) von heute auf morgen aus dem Erwerbsleben. Mit dem Ergebnis, dass Paare mit Kindern von Jahr zu Jahr Einkommenseinbußen hinnehmen müssen (von 2002 auf 2003 allein 54 Euro), das Einkommen von Paaren ohne Kinder aber kontinuierlich wächst, jahraus, jahrein (von 2002 auf 2003 um 58 Euro). Eine Chance, im modernen Erwerbsleben zu bestehen, hat nur, wer kinderlos, mobil und unendlich flexibel ist.
Wer gar „allein erziehend“ ist, fliegt noch viel schneller aus dem Kreis: Das Einkommen der Alleinerziehenden in Leipzig nahm von 2000 bis 2003 um 215 Euro ab. Gleichzeitig stieg die Zahl der Singles und Alleinerziehenden in Leipzig. 45 Prozent aller Leipziger Haushalte sind schon Ein-Personen-Haushalte. Die Zahl der Alleinerziehenden stieg von 2000 bis 2004 auf 34.200. Die Zahlen von 2005 liegen noch nicht vor. Aber es ist ja auch nichts geschehen, diesen Trend zu stoppen.
Dazu reicht keine Steuerbefreiung für Kindererziehung und kein kostenloses Betreuungsangebot. Das sind nicht einmal Reparaturen an einem Erwerbssystem, das alle von vornherein aussortiert, die nicht 100prozentig für jede Art Arbeit zur Verfügung stehen. Und wer zur Verfügung steht, der wäre mit dem Klammerbeutel geprügelt, wenn er sich mit einer Familiengründung, erfüllten Kinderwünschen oder gar einem Immobilienerwerb einen Klotz ans Bein bindet. Es lohnt sich nicht, in Leipzig sesshaft zu werden, wenn der Arbeitsplatz morgen in Singapur ist.
Die produzierende Wirtschaft in Leipzig wächst. Aber viel zu langsam - und auf schwankendem Grund. Automobilindustrie und Logistik - die beiden am stärksten wachsenden Cluster - sind Branchen, die leben von höchster Mobilität. Und urbane Berufe, die an den Standort gekoppelt sind, die auch nachhaltig zu sichern wären, werden miserabel bezahlt. Ein Leipziger Bäcker verdient 7,31 Euro in der Stunde, ein Klempner 8,80 Euro. Sie bekommen als erste zu spüren, wenn die Kaufkraft der Leipziger weiter sinkt.
Trotzdem hat Leipzig Glück. Seine Einwohnerzahl steigt seit 2002 langsam aber kontinuierlich. Ausschließlich durch Zuwanderung. Die Stadt gilt als Zukunftsoption. Hier ist die Palette des Lebens-Notwendigen - anders als in vielen ländlichen Bereichen - noch erhalten, angefangen von der ärztlichen Versorgung bis zur Kultur. Nachweislich sind es gerade innerstädtische Quartiere wie Schleußig und Südvorstadt, die für junge Leute und Familien besonders attraktiv sind. Aber auch Lindenau und der Leipziger Osten gewinnen an Zuspruch. Während Stadtrandquartiere - allen voran Grünau - immer mehr an Attraktivität verlieren. Von 1989 bis heute verlor der Stadtteil im Westen Leipzigs fast die Hälfte seiner Einwohner.
Aber wohin geht die Reise? Bislang konnte Leipzig noch stark von Zuzügen aus dem Umlang zehren. Da ist ein Ende absehbar. Seit 1989, als noch 5 Millionen Menschen in Sachsen lebten, sind fast 800.000 Einwohner des Freistaats aus der Statistik „verschwunden“, abgewandert. Bis 2015 soll sich die Bevölkerung des Freistaats knapp über 4 Millionen einpendeln. Davon sind freilich 22 Prozent der Sachsen über 65 Jahre alt. Was natürlich kein Problem ist, wenn man noch fit ist und tatsächlich Geld hat, das man ausgeben kann.
Aber jede nachfolgende Rentnergeneration wird ärmer sein als die heutige. Nicht nur Rentenkürzungen sind zwangsläufig, auch die jetzt verkündeten „Nullrunden“ sorgen alljährlich für ein Absinken der Renten um den simplen Inflationsbetrag von rund 2 Prozent. Und das bei Lebenserwartungen von deutlich über 80 Jahren. Es geht dabei nicht um die Frage „Wer soll das bezahlen?“ Das kann niemand bezahlen.
Das können nicht einmal die vielen flexiblen und mobilen Arbeiter, mit denen sich Sachsen in den globalen Wettbewerb gestürzt hat, stolz darauf, dass man gegenüber westdeutscher Tarifbindung mit flexiblen Lohn- und Arbeitszeitmodellen punkten kann. So bekommt man zwar die Aufträge, aber keine stabilen Arbeitsverhältnisse, die auch die Beschäftigung von Müttern, Vätern, Behinderten und Älteren abfedern, von Menschen, die nicht 40 Stunden die Woche 100 Prozent geben können.
Darüber ist nachzudenken. Auch darüber, ob jedes Unternehmen und jede Branche im globalen Wettbewerb bestehen muss. Denn jeder Bereich, der sich in direkte Konkurrenz mit internationalen Konkurrenten versetzt sieht, verliert seine Pufferzonen, muss zwangsläufig alles wegrationalisieren, was Flexibilität und Gewinn schmälert. Mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie erfasst das jetzt auch weite Teile im Service-Bereich. Es ist an der Zeit nachzudenken, ob der so genannte „demografische Wandel“ nicht Ergebnis einer Wirtschaftspolitik ist, die wichtige gesellschaftliche Schutzräume aufgegeben hat für einen Wettbewerb, der unerbittlich auf Kosten der Zukunft ausgetragen wird.
Es gibt kaum ein Feld, wo Zukunft so deutlich mit Kindern assoziiert wird wie in der Demografie. Aber was ist das für eine Zukunft, in der Kinder als nicht mehr bezahlbar gelten? Als Risiko für das eigene Überleben? Die Frage ist berechtigt und wird in der Leipziger Internet Zeitung ab jetzt in lockerer Folge thematisiert unter dem einprägsamen Titel „Leipzigs graue Haare“. Dass es dabei nicht nur um Haarkünstler, rührige Senioren und eine Stadt in seltsamen Sparzwängen geht, ist logisch.
LIZzy-Leser dürfen gespannt sein - auch auf die Antworten, die gegeben werden. Und nicht jede Antwort, das sei garantiert, wird ins übliche „Schema F“ passen. Bleiben Sie neugierig.
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