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Anmerkungen zum Politikverständnis und Staatsauffassungen der Gegenwart
1. Politikverständnis
Bei Hättich - ähnlich bei Burdeau - heißt es: "Politik gibt es im Sinne einer Realität nur als Verhalten und Handeln. Sie hat keine Existenz, sie ist nicht etwas, das weiterliefe, wenn es einmal von Menschen geschaffen ist. Es gibt sie nur in der Wirklichkeit des Denkens, Sprechens und Verhaltens. Aber diese Realität ist nicht immer schon vorwegbestimmt. Man kann geradezu sagen, daß es keine eigene politische Realität gibt, daß das Politische vielmehr der sozialen Realität von den Menschen hinzugefügt wird". 1)
Was ist nun das Charakteristikum dieses menschlichen Verhaltens und Handelns welches der Politik eignet? Hättich führt diebezüglich aus: "Gesellschaftliches Dasein erweist sich uns letzten Endes als ein Komplex von Verhalten. Politik bezeichnet also ähnlich wie Religion, Wirtschaft, Bildung und auch Wissenschaft selbst ein bestimmtes Verhalten von Menschen". 2) Dieses Verhalten soll sich beziehen auf einen "spezifisch als politisch bestimmter Sozialbereich". 3) Diesen Strukturbereich der Gesellschaft bezeichnet Hättich als "der staatliche Bereich oder der Staat" 4) bzw. als den Bereich der "politischen Herrschaft. 5) So sieht er das Herrschaftsphänomen "im Zentrum alles Politischen“, 6) fügt jedoch notwendig und erklärend hinzu: "Jede politische Herrschaft bewirkt, setzt und stabilisiert Ordnung der Gesellschaft“, 7) d.h. politische Ordnung der Gesellschaft.
So ist Politik als politisches Handeln kein Handeln als spezifisches Herrschaftshandeln sondern "ein Handeln, das auf die politische Ordnung bezogen ist“. 8) Hierin übereinstimmend führt auch von der Gablenz aus: "Politik muß immer eine Ordnung des Zusammenlebens schaffen; Politik muß das Rechtsbewußtsein der Menschen befriedigen. So läßt sich definieren: >Politik ist Kampf um die rechte Ordnung!<“. 9) An anderer Stelle heißt es bei von der Gablenz: Die Funktion der Politik "ist die >Sicherung und Ordnung der Gesellschaft im ganzen<. (...) Dahin gehören die klassischen Tätigkeiten der Regierung, Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz. Dahin gehören die öffentlichen Berufe vom Polizisten bis zum Staatsoberhaupt. Dahin gehören die Einrichtungen des Parlaments, der Behörden, der Gerichte". 10)
Wenn v.d. Gablenz in der Politik >die Sicherung und Ordnung der Gesellschaft im ganzen< sieht, so befindet er sich in Übereinstimmung mit der Politikdefinition Otto Suhrs: Politik ist "Gestaltung des öffentlichen Lebens!". 11)
Zur Politik als Ordnungsgestaltung heißt es bei Heinz Laufer: "Das Bemühen um eine humane und funktionsfähige Ordnung ist gleichermaßen eine Aufgabe der Politik und des Rechts". 12) Wilhelm Hennis führt aus: "Politik, praktische Politik, das was die Politiker tun, hat die Erfüllung öffentlicher Aufgaben zum Gegenstand, wofür gewiß Macht vorhanden sein muß, geordnete Macht, Kompetenz, Amtsgewalt, die in den verschiedensten auch sehr unordentlichen Formen gewonnen sein mag, deren Begründung, Erhaltung und in der Regel doch wohl auch Bewahrung aber immer wieder auf die sie rechtfertigenden Aufgaben zurückverweist. 13) Zu diesen rechtfertigenden Aufgaben heißt es bei Hättich schlüssig: "Die Politik konkretisiert sich in einzelnen Sachbereichen ( zu diesen zählt er: Verfassungs-, Rechts- und Gesellschaftspolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitik, Kultur- und Bildungspolitik, Militärpolitik). Der Inhalt einer politischen Entscheidung kann einem mehr oder weniger präzise umrissenen Sachgebiet zugeordnet werden. Die Forderungen der Bürger und der Gruppen an die politische Führung (an das politische Ordnungshandeln; der Verf.) lassen sich konkret bestimmen als Interesse an einem Recht, an Schutz oder an materiellen oder ideellen Leistungen. (...) Die Sachbezogenheit der Politik rechtfertigt deren Charakterisierung als Gemeinwohlverwirklichung". 14) Was unter Gemeinwohl bzw. öffentlichem Wohl verstanden werden muß, wird weiter unten - im Abschnitt über die Staatsauffassungen - noch ausgeführt werden.
Hennis lehnt den Machtästhezismus" 15) im Politik- und Staatsverständnis, beispielsweise eines Max Weber oder Georges Burdeau, als "Entleerung des Denkens von Staat und Politik" 16) ab und betont, daß Politik "mehr ist als eine Technik des Machterwerbs“. 17) Bei Burdeau heißt es beispielsweise: "Deshalb können wir sagen, daß die Politik alle sozialen Erscheinungen umfaßt, soweit sie mit der Tätigkeit zusammenhängen, die entweder auf die Ergreifung der Macht oder auf ihre Ausübung abzielen". 18) Ein weiteres Beispiel für den von Hennis erwähnten Machtästhezismus, "als Entleerung des Denkens von Staat und Politik", wäre Max Weber. Er definiert: "Politik würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“. 19) Flechtheim sieht ebenfalls in der Politik zentral das Streben nach Macht oder gar die Widerspiegelung der Interessen einiger weniger Mächtiger. Nach ihm sind "politische Entscheidungen nur selten an sich >gut<, >gerecht<, oder >richtig<; sie sind vielmehr stark machtbedingt und –geprägt“. 20) Oder an anderer Stelle heißt es bei ihm: "Macht und Herrschaft sind stets die Media par exellance der Politik". 21)
Bei Hättich heißt es (in Übereinstimmung mit Hennis und dem von ihm abgelehnten Machtästhezismus): "In der Regel wird der Bestimmung des politischen Handelns als Machthandeln der Vorwurf einer unzulässigen Reduktion des Politischen gemacht. Der Vorwurf ist dann berechtigt, wenn der Machtbegriff eingeengt wird, so daß er eigentlich durch den Herrschaftsbegriff ersetzbar ist". 22) Lehmbruch möchte Politik ebenfalls nicht vom Kriterium der Macht her definiert wissen: "Besser versteht man Politik als gesellschaftliches Handeln (d.h. Handeln, das zweckhaft auf das Verhalten anderer bezogen ist), welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Konflikte über Werte (einschließlich materieller Güter) verbindlich zu regeln. Die bindende Wirkung solcher Regelungen muß nicht auf Zwang beruhen (die Definition der Politik als >legitimer Gewaltsamkeit< und des Staates durch das >Monopol der Gewaltsamkeit< ist zu eng, weil sie eine spezifische Form politischen Handelns absolut setzt); aber Verbindlichkeit ist ein wesentliches Merkmal politischer Konfliktregelung". 23)
Wenn Politik - durchaus weit verbreitet – gleichgesetzt wird mit "Streben nach Machtanteil" (Weber), so ist dies nicht nur "zu eng“ (Lehmbruch) und eine „Entleerung des Denkens von der Politik“ (Hennis) sondern auch eine Denkweise von nicht zu verkennender Brisanz. Sie führt zu einer irrationalen Diffamierung der unabdingbaren Notwendigkeit staatlicher legitimer Machtausübung. Die "Diffamierung der staatlichen Gewalt" präzisiert Laufer indem er ausführt: "Auch der Widerspruch zwischen staatlicher Machtausübung und freiheitlicher Friedhaftigkeit ist unumgänglich. Das demokratische System ist auf Grund seines rationalen Menschenbildes auf Diskussion, Interessenausgleich, rationale Mehrheitsentscheidung und Selbstbindung angelegt. Nicht wenige folgern daraus, daß in einer Demokratie staatliche Gewalt verschwinden müsse, der Einsatz juristischer Zwangsmittel oder gar die Anwendung physischer Gewalt sei demokratiefremd. Aus solchen Vorstellungen resultiert - gerade in jüngster Zeit - Empörung und Diffamierung, wenn immer demokratische Amtsträger (außenpolitische oder innenpolitische;RJE) Gewaltmaßnahmen ergreifen, um Existenz und Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens zu schützen und aufrechtzuerhalten". 24)
Auf Grund der Politikdefinition von Lehmbruch erhält die Politik einen eigenständigen politischen Handlungszusammenhang verbindlicher Konfliktregelung der sich politikwissenschaftlich abgrenzen läßt von anderen Handlungszusammenhängen; etwa dem wirtschaftlichen oder dem historischen Handlungszusammenhang. Ist Politik - so Lehmbruch – „gesellschaftliches Handeln, ausgerichtet gesellschaftliche Konflikte über Werte verbindlich zu regeln", so impliziert dies auch gleichzeitig eine Funktion der Politik als Entscheidungshandeln.
Nach Kindermann ist Politik in ihrer typischen staatlichen Primärfunktion "wertbezogenes, situationsbedingtes und lernfähiges Entscheidungshandeln, das die Aufgabe hat, arbeitsteilige Gesellschaftskörper im Rahmen ihrer staatlichen Organisation, durch ständige Ordnungsgestaltung funktionsfähig zu erhalten, für sie zu planen, sie zu verteidigen und ihre Beziehungen zu auswärtigen politischen Systemen zu regeln". 25) Das von Kindermann angeführte Entscheidungshandeln, oder generell die politischen Entscheidungen, werden von Flechtheim näher behandelt. Politisches Entscheidungshandeln, d.h. politische Entscheidungen und Maßnahmen, sind nach Flechtheim "beweglicher, formloser, vorläufiger und kurzlebiger ... als etwa Entscheidungen der Gerichte". 26) Nachdem er feststellt, daß Heraklits Erkenntnis, daß alles im Fluß sei, für die Politik ebenfalls zuträfe, fährt er fort: „Ermessen und Gutdünken, Wendigkeit und sogar Willkür spielen eine wichtige Rolle im politischen Verhalten. Die Politik sucht eine sich rasch ändernde, im Werden begriffene, stets neue Aspekte offenbarende, ausgesprochen geschichtlich-gesellschaftliche Realität zu beeinflußen und zu gestalten". 27)
Daraus folgt, daß es in der Politik keine absoluten Wahrheiten, keine unumstößlichen Gewissheiten geben kann“. 28) Über politisches Entscheidungshandeln heißt es bei Laufer: "Der Prozeß der politischen Entscheidung ist in der Demokratie ein Weg des Probierens und Irrens, ein Prozeß der Auseinandersetzung, des ständigen Hickhacks, des Nehmens und Gebens, des ständigen Kompromiß-Schließens. Das Ergebnis kann aber stets nur ein Relativ-Richtiges, ein Immer-Nur-Vorläufiges sein. Ein für allemal gültige Entscheidungen gibt es im demokratischen System nicht". 29) Jedoch hat diese Relativität des Politischen ihre Grenzen, welche gleichzeitig das Maß der Politik bestimmen. Die Relativität des politischem Handelns endet – so Laufer - "an den unabdingbaren kunstituierenden Prinzipien des demokratischen Systems wie: Selbstbestimmung des Volkes, Menschenwürde und Heiligkeit des Lebens, Freiheit und Eigentum, Gleichheit und Soziale Solidarität, Rechtsstaatlichkeit, Beschränkung, Verantwortung und Kontrolle der Macht.“ 30)
Flechtheim betont die Zeitkomponente aller Politik: "Sie wirkt von der Gegenwart her in die Zukunft hinein. Der Politiker rechnet in Jahren, der Staatsmann allenfalls in Jahrzehnten. Stets ist das Verhältnis zur Zeit, die Zeitbedingtheit, für alle Politik von entscheidender Bedeutung". 31) Weiterhin heißt es bei ihm über die Politik: "Nützlich und in einem weiteren Sinne >produktiv< ist sie, insofern sie eine Gesellschaft ordnet und sichert, ja sie verbessert und reformiert. Unproduktiv ist sie, insofern sie den Menschen überflüssigerweise reglementiert und manipuliert, unterdrückt und vergewaltigt und seinem wahren Wesen und seinen Möglichkeiten entfremdet“. 32)
Wie Lehmbruch sieht Flechtheim einen Bezug auf Werte in der bzw. durch die Politik. Es heißt diesbezüglich: „Beide Systeme - das politische wie das ökonomische - sollen das menschliche Verhalten regulieren und kontrollieren - im Interesse des Menschen und seiner Werte". 33)
Politik als Existenzbedingung von Gesellschaftssystemen
(Gemeinschaftsordnungen)
Kindermann stellt schlüssig fest: „Für arbeitsteilige Gesellschaftssysteme wird die Politik zur Existenzbedingung dadurch, daß das ständige Erfordernis allgemein oder partiell verbindlicher Regelungen öffentlicher Angelegenheiten (res publica) der Tatsache einer diesbezüglichen Willenskonkurrenz menschlicher Meinungs- und Interessenträger gegenübersteht. Dieser Widerspruch zwischen der Faktizität konkurrierender Willensrichtungen funktional aufeinander angewiesener Menschen und der Notwendigkeit der Koordination ihres interdependenten Handelns durch verbindliche Entscheidungen ist in allen überschaubaren Geschichtsepochen, in allen Kultur- und Gesellschaftssystemen, auf allen Ebenen und in allen Gruppierungen der gesellschaftlichen Existenz feststellbar". 34) Diesbezüglich sieht Kindermann die unentbehrliche Funktion in der Politik „in der Koordinierung gesellschaftlichen Verhaltens durch bestimmte Prozesse der Bildung und Durchsetzung verbindlicher Entscheidungen“. 35) Zu diesen verbindlichen Entscheidungen zur Daseinsgestaltung „gehören vor allem die Schaffung und Verteilung von Werten sowie die Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit“. 35)
Zur Bedeutung der Politik für die Existenz des Menschen heißt es bei Laufer: „... die Regierenden sichern die Existenzfähigkeit der politischen Gesellschaft und ihrer Mitglieder; von den Regierenden hängt weitgehend das Glück – um eine aristotelische Formulierung zu verwenden – der Menschen ab". 37) Und an anderer Stelle: „ Der Mensch – und zwar in seiner individuellen konkreten Existenz und nicht in einer vagen unpersönlichen Menschlichkeit – ist im freiheitlichen demokratischen System das höchste Gut und der maßgebende Bezugspunkt für politisches Handeln“. 38)
Das politische Handeln in den Teilgebieten der Politikwissenschaft
Die Komplexität politischen Handelns wird in verschiedenen Teilgebieten der Politikwissenschaft unter jeweils besonderem Aspekt untersucht: „Die Lehre von den >politischen Systemen< untersucht die empirische, beobachtete Wirklichkeit politischen Handelns innerhalb des Staates; dabei kommen dann auch die sozialen Bedingungen politischen Handelns und die Formen der Vergesellschaftung, in denen es sich vollzieht (häufig als Objekt der >politischen Soziologie< bezeichnet), ins Blickfeld. Das politische Handeln im zwischenstaatlichen Verhältnis ist Gegenstand der Lehre von den >Internationalen Beziehungen<. Diese empirischen Teildisziplinen stehen in enger Wechselbeziehung mit der theoretischen Refelxion über das Ziel und die Rechtfertigung politischen Handelns, die sich als >Politische Theorie< auch verselbständigt hat und sich mit den Vorstellungen von der Politik als (normativ) aufgegebenes Handeln auseinandersetzt, wie sie uns in der politischen Ideengeschichte begegnen“. 39)
Die Bedeutung der Politikbestimmung für die elementaren Fragen der Politikwissenschaft
Die elementaren Fragen der Politikwissenschaft sind „eng verknüpft mit der Bestimmung ihres Gegenstandes" 40) heißt es bei Hättich. Laufer führt dieabezüglich aus: „Politisches Handeln- und Staatstätigkeit sind zentrale Gegenstandsbereiche der Politischen Wissenschaft. Sie sind Grundlage der individuellen und sozialen Existenz des Menschen und bestimmen die Modi menschlichen Daseins. Ihre inhaltliche Gestaltung hängt aber von theoretischen Konzeptionen über Zweck und Maß der Politik, über Ziel und Aufgaben des Staates ab. Analyse von praktischer Politik, politischen Systemen, Staatstätigkeit und Politikeffizienz bedürfen der vorherigen prinzipiellen Klärung, was gegenwärtig von Politiik und Staat gedacht und was darunter verstanden wird". 41)
Politikdefinition und Wertprämissen
Hierzu bemerkt Hättich treffend: Bei der Frage nach der politischen Ordnung insgesamt geht es um die Frage... "inwieweit die Politikwissenschaft, an den Werten und Normeinstellungen der politischen Gesellschaft partizipieren kann und darf. Hier wird mitunter in einem sehr rigorosen Puritanismus von der Politikwissenschaft verlangt, daß sie sich von diesen Wertungen freihält". 42) Jedoch "ebenso wie die Medizin nicht aufhört eine Wissenschaft zu sein, wenn sie mit der selbstverständlichen Voraussetzung arbeitet, daß die Gesundheit ein Wert ist, also vom Wertbegriff der Gesundheit als ihrer fundamentalen Voraussetzung ausgeht, hört die Politikwissenschaft nicht auf Wissenschaft zu sein wenn "sie für bestimmte Fragestellungen, durchaus legitimiert ist, an den Wertprämissen der Gesellschaft, in der sie lebt, zu partizipieren, sosehr ist sie aber auch aufgefordert und in dieser Hinsicht auch leistungsfähig, diese Wertprämissen kritisch zum Gegenstand ihrer Untersuchung zu machen“. 43) „Ihr Verhältnis zu den Wertprämissen ihrer Gesellschaft kann nur das einer kritischen Partizipation sein". 44) Gemeint sind etwa Werthaltungen der Gesellschaft wie Freiheit oder Menschenwürde. Diese Werthaltungen bedingen wiederum konkrete Ordnungsvorstellungen.
Das die Politikwissenschaft, deren Inhalt die Politik, d.h. die
Beschäftigung mit der politischen Ordnung ist, an Wertprämissen
- wie etwa die genannten - partizipieren muß, erfolgt, aus der
Tatsache, daß die Wissenschaft nur in einer freiheitlichen
Ordnung (als gesellschaftliche Voraussetzung ihrer eigenen
Existenz) "die Funktion der Kritik übernehmen" 45) kann. Dies bedeuted, daß die Politikwissenschaft "offensichtlich die Freiheit zu ihrer eigenen Voraussetzung hat. Damit ist auch die Wissenschaft auf eine Wertentscheidung als ihrer eigenen Voraussetzung verwiesen. Sie muß sich um ihrer selbst willen zur Freiheit bekennen. ... Wissenschaftler und Institutionen der Wissenschaft haben somit allen Anlaß, sich für die freiheitliche Ordnung einzusetzen und über die Grundsätze dieser Ordnung zu reflektieren". 46) "Das aber läuft konsequenter Weise auf ein Bekenntnis zur freiheitlichen Ordnung und zur Ablehnung unfreiheitlicher Systeme hinaus". 47)
2. Staatsauffassungen
Auf die Frage: >Hat unser Staat Zukunft?< heißt es bei Konrad Löw: 'Nirgendwo auf der ... Welt entwickeln sich politische Ordnungsformen, die ein Absterben des Staates in naher oder ferner Zukunft erwarten lassen". 1) Nach Ellwein ist die in den letzten Jahren verstärkt feszustellende Hinwendung zum Staatsbegriff ein Beweis für "die Kontinuität und Stabilität einer Konstruktion" die manigfache Veränderungen und Mißbräuche erlebt, sich aber nicht überlebt hat". 2)
Auch für Böckenförde ist der Staat nach wie vor "für die Ordnung des politischen Zusammenlebens der Menschen in der heutigen Welt noch bestimmend und ohne sichtbare Alternative ...". 3) Burdeau schreibt über den Staat allgemein: "Alles, was nach außen die Existenz des Staates zum Ausdruck bringt, umfaßt eine tiefe Realität, eine Realität geistiger Ordnung, die der Vielfalt der Phänomene, in denen sie empirisch zum Ausdruck kommt, einen Sinn verleiht. Tatsächlich ist der Staat kein von sich aus entstandener Organismus, sondern ein Kunstgebilde. Er besteht nur durch einen überlegten Willen, der sich täglich erneuert". 4) Jeder Mensch, der "über die Forderungen der Ordnung nachdenkt ... (nimmt) letzten Endes den Staat als Werkzeug der Verwirklichung unseres zeitlichen Schicksals in sein Denken" 5) auf. Ähnlich heißt es treffend bei Böckenförde: "Der Staat der europäischen Neuzeit und ebenso unser gegenwärtiger demokratischer Rechts- und Sozialstaat ist keine naturgegebene Einrichtung, sondern eine Einrichtung, die bewußt geschaffen ist, und zwar geschaffen für Zwecke. (Böckenförde macht hier folgende Anmerkung in der Fußnote: „In diesem Sinne ist der neuzeitliche Staat ein typisches Werk des okzidentalen Rationalismus, ein Produkt dessen, daß die Menschen die Ordnung und Organisation ihres politischen Zusammenlebens aus eigenen, ihrer Selbsterhaltung dienenden Zwecksetzungen vornehmen und nicht (mehr) einer - geglaubten - vorgegebenen Ordnung der Welt (lex aeterna) nachbilden“.) Sie ist von Menschen erdacht und für Menschen erdacht, für ihr Zusammenleben in Frieden, Sicherheit und Freiheit. Von den Zwecken her, für die der Staat erdacht und geschaffen wurde, bestimmt sich sein Wesen und hat sich seine Struktur geformt". 6)
Häufig wird der Staat gesehen "einerseits als eine soziale Gestalt (eine Gruppierung von Menschen), andererseits als eine juristische Institution". 7) Als eine juristische Institution soll heißen, "daß die Gruppierung (von Menschen) auf der Grundlage einer Rechtsregelung aufgebaut ist, welche ihre Konstitution und ihr Funktionieren lenkt". 8) Auf Grund dieser zweifachen Perspektive heißt es dann bei v.d. Gablenz: Der Staat ist einerseits "die zentrale Institution der Politik in einem bestimmten Raum" und andererseits der Bereich "in der sich das öffentliche Leben abspielt, aber nicht nur in der unmittelbaren Staatstätigkeit, sondern auch überall dort, wo die Initiative von einzelnen und Gruppen aus anderen Berufen, aus Kirche, Wirtschaft usw. in den Staatsapparat hineinwirkt“. 9)
Diesen Dualismus der Betrachtungsweise beschreibt Flechtheim mit den Worten: "Richten wir unser Augenmerk auf das Volk oder die Öffentlichkeit, so erscheint der Staat als Assoziation oder Vereinigung; betrachten wir ihn als Herrschaftssystem oder Machtstruktur, so erscheint er als Institution". 10) Aus institutioneller Sicht heißt es bei Ellwein: Der Staat ist "mit Hilfe der ihn bildenden Institutionen (Behörden, Einrichtungen), des dazugehörigen Personals (Staat als Arbeitgeber oder Dienstherr) und der für Institutionen und für das Personal ebenso wie in den Außenbeziehungen gültigen formalisierten Regeln und ihrer standardisierten Nachprüfbarkeit identifizierbar. Er ist nicht (mehr) identifizierbar hinsichtlich seiner Aufgaben, weil diese teils nicht mehr überschaubar, teils auch nicht mehr begründbar sind. (...) Der Staat gehört zur Politik. Diese zielt im weiteren Sinne auf die Handhabung der Staatsapparatur und der damit verbundenen Macht". 11) Institutionell sieht auch Jellinek den Staat wenn er schreibt: Der Staat ist "die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskörperschaft“. 12) In Bezug auf die Haltbarkeit dieser beiden Betrachtungsweisen des Staates (Staat als soziale Gruppierung, Staat als Institution) führt Dabin aus: "Indessen reichen die beiden >Gesichtspunkte<, der soziale (oder soziologische) und der juristische, selbst wenn sie zusammengenommen werden, nicht aus, um eine auch nur elementare Vorstellung vom Staat zu geben. In der Tat sind Gruppierungen ganz anderer Art (etwa Handelsgesellschaften, Gewerkschaften, die gemeinnützigen Körperschaften) zugleich soziale Bildung und juristische Institution“. 13)
Dabin sagt grundsätzlich über den Staat: "Der Staat ist nicht irgend eine Wirklichkeit, die außerhalb des Menschen und seines Willens steht. Im Gegenteil, der Staat ist ein psychologisches und moralisches Werk der Menschen: er existiert nur in und durch die Handlungen der Menschen, die ihn errichten und die an ihm teilhaben, sei es als Beherrscher, sei es als Beherrschte. In eben dieser fortwährenden und koordinierenden Tätigkeit der Menschen existiert der Staat materiell". 14)
Nach Dabin stellt sich der Staat - der heutige freiheitlich strukturierte Staat - primär nach rein phänomenologischen Gesichtspunkten betrachtet im großen und ganzen folgendermaßen dar:
Er ist:
„1. Eine Pluralität von Männern, Frauen und Kindern, die auf einem Stück Land ansässig sind, das ihr Vaterland ist.
2. Unter diesen Individuen besteht eine bestimmte Gruppierung mit verpflichtendem und dauerhaftem Charakter, die die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit zusammenfaßt und sich gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Beziehungen zeitlicher Ordnung als überlegen erweist.
3. Im Innern dieser Gruppierung besteht eine hierarchische
Gliederung, die einen regieren und verwalten, verfügen über den Zwang, ihre Entscheidungen zur Geltung zu bringen; die übrigen werden regiert und verwaltet.
4. Zwischen Regierenden und Regierten besteht ein Austausch von Verpflichtungen; die Regierten tragen mit ihren Kontributionen zur Aufrechterhaltung und zum Weiterleben der Gruppe bei; die Regierenden arbeiten für die Verteilung der Vorteile des Lebens in der Gruppe unter den Regierten". 15)
Der Staat stellt sich also dar als eine Gruppierung - mit verpflichtendem und dauerhaftem Charakter - von Menschen, grundlegend ist eine hierarchische, d.h. auf Herrschaft aufgebaute Arbeitsteilung, mit dem Zweck die Gruppe aufrechtzuerhalten und ihr Weiterleben zu sichern.
Dabin versteht unter dem Staat das "Ganze der Gruppe", 16) sieht Staat als "Synonym des Ganzen der politischen Gesellschaft". 17) Der "Austausch von Verpflichtungen ... zur Aufrechterhaltung und zum Weiterleben der Gruppe" läßt den Staat als die "ausdrücklich im Hinblick auf das allgemeine Wohl eingesetzte Gesellschaft" 18) erscheinen. Dabin stellt von vielen unbestritten fest: „Unter den Elementen, die für die Existenz des Staates notwendig sind, ragen zwei besonders hervor: eine Bevölkerung und ein begrenztes Stück Land der Erdoberfläche. Man kann sich den Staat nicht ohne das Element Bevölkerung und nach unserer Ansicht auch nicht ohne das Element Land vorstellen. Aber eine Bevölkerung und ein Boden bilden noch immer keinen Staat. Der Staat entsteht erst, wenn eine auf einem Boden seßhafte Bevölkerung From und Gestalt des Staates annimmt.
Diese Form und Gestalt, die eine besondere Anordnung der Beziehungen zwischen Individuen, die die Bevölkerung bilden, darstellen, sind für den Staat einzig und allein konstitutiv“. 19)
Neben den unveränderlichen Elementen (Staatsvolk/Staatsgebiet) treten noch zwei weitere konstitutive Elemente, die Dabin bezeichnet mit A) der Zweck des Staates: das zeitliche Wohl und B) die Autorität oder die politische Gewalt. Dabin verweist darauf, daß auch Burdeau und Jellinek "zugunsten dieser Unterscheidung" 20) sich aussprechen.
Zu den unveränderlichen Elementen - Bevölkerung und Staatsgebiet als physischer und räumlicher Untergrund - stellt Dabin unter anderem im einzelnen fest:
Zur Bevölkerung: Die Unverletzlichkeit der Person eines jeden Staatsbürgers kann der Staat "nicht verkennen", er hat jedenfalls kein Recht dazu, oder noch schärfer, „er darf den Menschen, als Person nicht verändern wollen oder ihm Gewalt antun, indem er ihn, zur Sache macht". 21) So ist folglich "der Begriff des Staates ... untrennbar von einer Konzeption des Menschen". 22) Jede, die menschliche Personalität leugnende Doktrin führt, so Dabin mit Recht, zu einer menschenverachtenden Staatlichkeit. Man könnte sagen: Sinn, Ziel und Zweck aller Staatlichkeit ist der Mensch.
Zum Staatsgebiet: Dabin verweist darauf.. "daß die staatliche Gruppierung als solche eine bodenständige Niederlassung voraussetzt, ohne welche es keinen Staat geben kann. Der Staat ist, insofern er eine bodenständige Niederlassung fordert, eine >Gebietskörperschaft<“. 23)
Zu den eigentlich konstitutiven Elementen - "durch welche der Staat als eigene und abgegrenzte Wirklichkeit angesprochen werden kann " - 24) heißt es:
A) Der Zweck des Staates: Das zeitliche öffentliche Wohl (als Endzweck oder causa finalis des Staates):
"Zu der Kollektivität der Individuen ... fügt der Staat eine neue einigende und in einem gewissen Sinne überlegende konstitutive Bildung einer organisierten und hierarchisierten Gesellschaft hinzu, deren spezifisches Ziel oder deren Zweck ein Gut ist, das man öffentlich nennt, und noch genauer gesagt (nach der christlichen Unterscheidung des Zeitlichen und Himmlischen), das zeitliche öffentliche Wohl". 25)
Denn "jede Gruppierung einschließlich des Staates ist eine >Sache<, aber sie ist objektiv wie subjektiv in der Intention der Teilhabenden wesentlich eine >Sache, die einen Zweck hat>“. 26) So ist der Staat nach Dabin eine "Zusammenfassung der Bemühungen im Hinblick auf die Verwirklichung dieses oder jenes Zweckes, der den Sinn der Gruppierung und die Ursache ihres Vorhandenseins ist, also folglich eine Aktionsgemeinschaft, die gebildet wurde als Mittel, zu einem Resultat zu gelangen, welches nicht gegeben sondern erst zu schaffen ...“ 27) ist.
In bezug auf das zu schaffende öffentliche Wohl, dem Zweck des Staates, hat der Bürger - so Dabin - das Recht, folgendes vom Staat zu erwarten: "Nach außen hin erwartet die Allgemeinheit zunächst vom Staat die wirksame Verteidigung des Gemeinwesens gegen Angriffe, den Schutz ihrer individuellen Glieder und die Förderung ihrer Interessen im Ausland". 28) Jedoch erwartet der Bürger auch vom Staat, daß er mit anderen Staaten zusammenarbeitet in allem " was von gemeinsamen Interesse ist, er muß sich eventuell auch in größere regionale oder weltpolitische Formationen mit allgemeinen oder spezialisierten Aufgaben integrieren. In dem Maße, wie sich die Allgemeinheit infolge der Weltentwicklung universalisiert, ist es Sache jedes Staates im Interesse seiner eigenen nationalen Allgemeinheit, sich seinerseits zu universalisieren, indem er sich einem größeren Zusammenhang einordnet". 29)
Nach innen hin erwartet die Allgemeinheit von der politischen Gesellschaft Staat als Hauptdienste:
„1. Innerhalb des Gemeinwesens Frieden und Sicherheit durch Errichtung eines bestimmten Grundgesetzes zu wahren;
2. die oft disparaten und schlecht aufeinander abgestimmten Einzeltätigkeiten der Individuen und Gruppen auf eine gewisse rationelle Koordinierung zu bringen;
3. den Individuen und Gruppen bestimmte Mittel, die sie zur Durchführung ihrer Aufgaben und zur Verwirklichung ihres eigenen Wohls brauchen, zugänglich zu machen;
4. darüber (zu) wachen, daß bei jedem Bedürfnis, das die Allgemeinheit angeht, Abhilfe geschaffen wird; gegebenenfalls Dienste oder Ämter eingerichtet werden, die Vorkehrungen treffen können“. 30)
Zusammenfassend heißt es bei Dabin über die Aufgaben des Staates, indem er hier übereinstimmend Jellinek zitiert: "Es sind also nur die planmäßigen solidarischen menschlichen Lebensäußerungen, die dem Staat eigentümlich sind. Bewahren, Ordnen, Unterstützen sind die drei großen Kategorien, auf die sie sich zurückführen lassen". 31)
B) Die Autorität oder die politische Gewalt (als normatives Moment oder causa formalis des Staates):
"Im Falle des Staates kann man unterschiedslos von öffentlicher Autorität, Gewalt oder Regierenden (als Inhaber der Autorität oder Gewalt) reden“. 32)
"Einerseits trifft man die Autorität in allen Gesellschaften, wo entweder auf Grund der großen Zahl der Zusammengeschlossenen oder auf Grund der Vielfältigkeit des sozialen Ziels und der Mittel, dieses zu erreichen, eine Leitung sich aufdrängt, um zu einem gemeinsamen Willen und infolgedessen zur Wirksamkeit der Anstrengungen zu führen, die ohne Leitung vergeblich blieben. Und es kommt vor, daß dort, wo die Anstrengungen dem menschliche Egoismus oder der menschlichen Faulheit unangenehm ist, die Autorität mit dem Recht ausgestattet sein muß, Sanktionen in Form wirksamer Strafen zu verhängen. Das ist die >Disziplinargewalt<, die eine gewisse potestas oder Gewalt der Gruppen über ihre Mitglieder voraussetzt. Wenn jedoch die in Frage stehende Autorität die Autorität des Staates ist, so ist sie mit unvergleichlichen Spezialvollmachten ausgerüstet. Sofern sie ihrem Ziel dient, nämlich dem öffentlichen Wohl, steht sie in der weltlichen Ordnung an erster Stelle; ja, sie besitzt >das Monopol des Zwanges<". 33) Die staatliche Autorität ist die "Hüterin des Interesses der Allgemeinheit der Bürger". 34)
Dabin weiter: "Das allgemeine Wohl aber verlangt anders und mehr als das von der Ethik vorgeschriebene Verhalten, ein Verhalten, das nicht im voraus definiert ist und nicht dem Belieben des einzelnen anheimgegeben werden kann, sondern das von einer Autorität bestimmt werden muß". 34) Einer Autorität mit der Eigenschaft als treibendes und regulierendes Prinzip (Vgl. Dabin, S. 135). "Daraus folgt, daß die erste Wohltat, die der Staat der Öffentlichkeit erweist, darin besteht, ihr eine Regierung zu geben, denn es gäbe sonst kein allgemeines Wohl, und die Anarchie würde weiterhin herrschen, ob mit oder ohne den Willen der Menschen, wenn die in einem Staat Verbundenen nicht einer Regierung unterworfen wären". 35)
Die von den Amtsträgern eines Staates - so Heinz Laufer - zum Zwecke des öffentlichen Wohls "ausgeübte Herrschaft hat folgende Kennzeichen: sie ist abgeleited und nicht originär; befristet, anvertraut, kontrolliert; auf Konsensus beruhend (und) abberufbar". 36) Über die Notwendigkeit staatlicher Machtausübung stellt Laufer fest: "Auch in einer Demokratie gibt es unvernünftige, streitsüchtige, nach Zerstörung trachtende Menschen, die die Funktionsfähigkeit bedrohen. Aber die staatliche Selbsterhaltung darf auch in einem demokratischen Staat nicht vernachlässigt werden. Doch das setzt staatliche Gewalt und - wenn erforderlich - ihre wirksame Ausübung voraus. Um die Gegensätzlichkeit von Freiheit und Staatsgewalt, Frieden und Machtausübung kommt auch das demokratische System nicht herum". 37)
Der Staat als Ergebnis humaner Ordnungsvorstellungen, endzweckhaft ausgerichtet auf das öffentliche Wohl, ausgestattet mit einer notwendigen - den Interessen oder besser Zwecken der Allgemeinheit dienenden - legitimen Autorität, als treibendes und regulierendes Prinzip, ist nach Dabin mehr als der Ausfluß eines Monopols an Macht im Sinne Max Webers, Flechtheims oder anderer. Eine nicht haltbare Reduzierung auf den Macht- bzw. Herrschaftsaspekt tritt etwa Dabin entgegen indem er ausführt: "Mag es auch zunächst die formale Organisation sein, die ins Auge fällt - im Staat sein Machtaspekt -, so ist es doch das Ziel, das es zuerst freizulegen gilt, wenn man den Daseinsgrund der Organisation sowie die Modalitäten seiner Struktur begreifen will". 38) Weiter heißt es bei Dabin - den Machtästhezismus bestimmter Autoren
zurückweisend - : Den Staat mit der Regierung oder mit der Macht zu identifizieren "als ob diese allein den Staat bilde und die Regierten auf die Stufe reiner Untertanen der Staatsgewalt verwiesen, ist eine unvollständige und falsche Ansicht". 39)
Der Staat ist nach Böckenförde Friedenseinheit, Entscheidungseinheit und Machteinheit sowie Herrschaftsordnung und Freiheitsordnung. 40)
Friedenseinheit soll heißen, daß menschlicher Meinungs- und Willenspluralismus nicht zur physischen Gewaltanwendung im Staat führt, sondern in rechtlich geordneten Verfahren ausgetragen wird.
Machteinheit soll heißen, daß der Staat auch fähig sein kann, geltende Normen und getroffene Entscheidungen durchzusetzen. Die Friedenseinheit erfordert Entscheidungs- und Machteinheit. Zur Bedeutung der vom Staat - gesehen als politisch Einheit - geschaffenen Friedenseinheit heißt es: "Die Herstellung und Erhaltung dieser Friedenseinheit, die nicht ohne besondere politische Anstrengungen möglich ist, stellt eine eminente politische Kulturleistung dar, und sie ist zugleich eine sittliche Kulturleistung". 41) Böckenförde weiter: "Wenn der Staat so um seiner Friedensaufgabe willen den Charakter als Entscheidungseinheit und als Machteinheit hat und haben muß, ist er aus sich heraus Herrschaftsordnung, darin zugleich aber Freiheitsordnung. (...) Nicht Freiheit und Herrschaftslosigkeit, sondern Freiheit und Herrschaftsordnung sind miteinander verknüpft. Freiheit, verstanden als Möglichkeit der Selbstbestimmung, ist als gesicherte und beständige Freiheit nur möglich als rechtlich begrenzte Freiheit". 42)
Was die Aufgaben des Staates betrifft, so heißt es bei Böckenförde: "Als Entscheidungseinheit und Machteinheit, in seinem Charakter als Herrschaftsordnung ist der Staat nicht für sich selbst erdacht und geschaffen worden, sondern um fundamentale menschliche Lebenszwecke zu verwirklichen und zu sichern: äußeren Frieden, Sicherheit des Lebens und des Rechts, Freiheit (im Sinne von Selbstbestimmung), Ermöglichung von Wohlfahrt und Kultur. Diese Zwecke stellen keine Zutat dar, die auch entfallen könnte, sie machen das geistige Prinzip des Staates aus, begründen seine Vernünftigkeit und seinen Charakter als (all)gemeines Wesen". 43)
Der Staat ist also ein Wesen der Allgemeinheit, eine Aktionsgemeinschaft aller, geschaffen von Menschen für Menschen. So ist der Staat nicht in seinem Wesen Instrument bzw. Monopol der Macht sondern Sachwalter öffentlicher Interessen, Sachwalter des öffentlichen Wohls. Der Staat "kann und hat ... die Konstitutionsbedingungen der Subjektivität, der Freiheit der Person und die Achtung des Gewissens, zu schützen, auch gegenüber seinem eigenen Handeln zu schützen. (...) Der Staat hat weiter die Möglichkeit und Aufgabe, den Prozeß geistig-kulturellen Lebens und geistig-kultureller Bewegung als einen freien zu gewährleisten und zu schützen, in dem das geistig-kulturelle, aber auch das sittliche Bewußtsein des Volkes sich zu artikulieren und weiterzutragen vermag und nicht durch partikuläre geistige Bewegungen, die auf Alleingang und Beherrschung zielen, überwältigt wird". 44)
Fünf typische Wesensmerkmale kennzeichnene nach Kindermann den modernen Staat. Er unterscheidet sich von anderen politischen Organisationen:
„1. durch seine spezifische Bezogenheit auf ein bestimmtes Gebiet mit zumeist angebbaren international anerkannten Grenzen;
2. durch seine Bezogenheit auf die Bevölkerung dieses Gebietes, verbunden mit seinen Funktionen der Ordnung, des öffentlichen Lebens innerhalb der Grenzen des Staatsgebiets, und seiner Verteidigung nach außen;
3. durch die diesen Zwecken dienende Aufrechterhaltung einer pyramidal strukturierten Organisation von Vollzugs-, Kontroll- und Entscheidungsinstanzen, an deren Spitze die Regierung im engeren Sinne steht;
4. durch den Anspruch der Regierung auf ein wie auch immer legitimiertes Monopol an physischer Zwangsgewalt zur Erfüllung ihrer Ordnungs- und Verteidigungsfunktion, und
5. durch den in diesem Zusammenhang seitens der Regierungsgewalt erhobenen Anspruch auf staatliche Souveränität". 45)
Neben den bereits von Aristoteles präzisierten klassischen Staatsmerkmalen, d.h. Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt - die übliche Definition die neuzeitlich auf Georg Jellinek zurückgeht - und die „von Kindermann in Anlehnung an Max Weber hinzugefügten Charakteristika“ 46) des Monopols an physischer Zwangsgewalt und den Anspruch auf staatliche Souveränität, fügt Schellhorn ein weiteres charakteristisches Merkmal hinzu. Er schreibt:
Es „gilt ferner, daß der moderne Staat eine optimal differenzierte, durch Kommunikation integrierte Organisationseinheit darstellt, die lokalisierbar, d.h. abgrenzbar gegenüber anderen ebensolchen Organisationseinheiten ist. Das Kennzeichen der durch Informationsprozesse kommunikativ bedingten Organisation staatlicher Nachrichtenaufnahme und -verarbeitung, d.h. Umsetzung von Entscheidungen in Handlungskonzepte, denen Aktionen folgen, prägt ein neues Charakteristikum des modernen Staates, seine Geselligkeit. Die Organisationseinheit Staat, als formal-analytische Kategorie zur Erfassung entscheidungsbedingter zeit- und ortsgebundener gesellschaftlicher Ordnungsgestaltung, kann im Zeitalter der totalen Kommunikation (z.B. INTELSAT und internationale Presseagenturen, oder heute das Internet, wäre hinzuzufügen) nicht mehr auf die oben erwähnten fünf Wesensmerkmale reduziert werden. Moderne staatliche Organisationzeinheiten sind >gesellig<, weil sie in den allumfassenden Rahmen einer unseren Globus umspannenden Kommunikation gestellt sind". 47) Und weiter: "Kein Staat kann sich im Atom- und Kommunikationszeitalter eine Isolierung vom Strang täglicher Globalin-formation leisten". 48) Diesbezüglich spricht auch Heinz Laufer vom heutigen Staat, dem "demokratischen Staat der Gegenwart, dem Staat des Industriezeitalters" 49) als einem "Staat in der Abhängigkeit der internationalen Verflechtungen". 50)
Als 7. Wesensmerkmal eines Staates neben den Genannten (Staatsgebiet, Staatsbevölkerung, Staatsregierung, Monopol physischer Zwangsgewalt, Anspruch auf staatliche Souveränität und Abhängigkeit durch die internationalen Verflechtungen) wäre für die Existenz einer Staatlichkeit, das heißt, ob ein Staat vorhanden ist oder nicht, eine autochthone Staatsgewalt zu fordern. Autochthon soll heißen, die Staatsgewalt muß - zumindest in irgendeiner Form - eigenständig (oder wörtlich: bodenständig) sein, also dem eigenen Volk entspringen und darf nicht von einer fremdländischen Macht aufoktroyiert oder durch Handlanger (im eigenen Volk!) aufrechterhalten werden. Einer jener Staats- und Völkerrechtler die dies vertreten, Prof. Dr. Otto Kimminich, schreibt: "Wenn aber ein Staat als Rechtssubjekt bestehen soll, muß nach der Drei-Elementenlehre neben Volk und Gebiet die Staatsgewalt als drittes Element vorhanden sein. Und es darf nicht eine beliebige Staatsgewalt sein, sondern es muß die Staatsgewalt des Volkes sein, das auf dem betreffenden Gebiet lebt. Sonst würde es sich um eine Kolonie, ein Protektorat, ein Mandatsgebiet oder ein in sonstiger Weise abhängiges Territorium nicht aber um einen souveränen Staat handeln". 51)
Kindermann betrachtet "die einzelnen Staaten als geschlossene soziopolitische Entscheidungs- und Aktionssystame, deren Zweck in der Erfüllung ... (der von ihm) dargelegten staatlichen Primärfunktionen der Politik liegt. Nach innen wirkt das staatliche Entscheidungszentrum (oder Regierung im engeren Sinne) als steuernder >Regulator< der arbeitsteiligen Leistungen der Gesellschaft". 52) Das Verhalten des Entscheidungszentrums, der Regierung, wird (innerstaatlich) direkt oder indirekt beeinflußt durch die "als Subsysteme des staatlichen Entscheidungssystems fungierenden parteipolitischen, wirtschaftlichen regionalen, ethnischen, religiösen oder beruflichen Interessengruppen sowie die materiellen Machtmittel des Staates, die Massenmedien und vor allem auch die konkreten Führungs- und Entscheidungssysteme des Staates". 53)
Die Definition von Kai M. Schellhorn lautet: "Heute läßt sich der Begriff >Staat< umschreiben als die vorherrschende Organisationsform einer arbeitsteiligen Gesellschaft, die ein durch staatliche Normen geordnetes Zusammenleben ermöglicht, deren Interessen nach außen vertreten und die gegen Angriffe anderer Staaten geschützt werden soll". 54) Zum inneren Gefüge eines Staates heißt es bei Schellhorn: "Im Regelfall wird ein Staat in der formalen wissenschaftlichen Abstraktion als ein pyramidenförmiges Anweisungs- und Vollzugsmodell gouvernementaler und innergesellschaftlicher Entscheidungsprozesse dargestellt". 55) "Allgemein betrachtet, verfügen alle Staaten über eine innere Pyramidalstruktur, die in einzelne Schichten aufgegliedert werden kann, wenn der potentielle machtpolitische Einfluß als Maßstab dient. Den im Regelfall stärksten Einfluß im Sinne der Ausübung politischer Macht, die sich auf die Durchsetzung politischer Interessen bezieht, wird eine Regierung ausüben können. Es folgen unmittelbar (manchmal gleichrangig oder sogar vorrangig) die Kräfte der sozio-ökonomischen Führungsschicht, die Massenmedien, die Meinungsführer und auf der untersten Ebene die Staatsbürger bzw. das Volk". 56) Zur sozio-ökonomischen Führungsschicht zählt Schellhorn alle Wirtschaftskräfte, Parteien, Verbände, Gewerkschaften, Kirchen.
Besser könnte die Entmachtung des wahren Souveräns, nämlich des Volkes, dessen Entmündigung, nicht beschrieben werden!
Literaturangabe:
A) Fundstellenverzeichnis zum Teil I. Politikverständnis
1) Manfred Hättich: Grundbegriffe der Politikwissenschaft, Darmstadt 1969, S. 8
2) Manfred Hättich: Lehrbuch der Politikwissenschaft, Bd.1, Mainz 1967. S. 27
3) Ebd., S. 30
4) Ebd., S, 31
5) Ebd., S. 31
6) Ebd., S. 31
7) Ebd., S. 32
8) Ebd., S. 34
9) Otto Heinrich von der Gablenz: Einführung in die Politische Wissenschaft, Köln und Opladen 1965, S. 14
10) Ebd., S. 38
11) Zitiert nach v.d.Gablenz, a.a.O., S. 38
12) Heinz Laufer in: Grundkurs Recht für Sozialwissenschaftler I, WS 1979/80
13) Wilhelm Hennis: Politik als praktische Wissenschaft - Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, S. 92
14) M. Hättich: Lehrbuch der PW, Bd.1, S. 203
15) Hennis, a.a.O., S.247 (Anmerkung Nr.40)
16) Ebd., S. 34
17) Ebd., S. 34
18) Georges Burdeau: Politica - Einführung in die politische Wissenschaft, Neuwied 1964, S. 79
19) Max Weber: Politik als Beruf. Gesammelte politische Schriften, 1959, S. 494
20) Ossip K. Flechtheim: "Politische Wissenschaft: Wesen und Umfang"; in: O.K. Flechtheim (Hrsg.), Grundlegung der politischen Wissenschaft, Meisenheim 1958, S.64
21) Ebd., S. 65
22) M.Hättich: Lehrbuch der PW, Bd. 1, S. 27
23) Gerhard Lehmbruch: Einführung in die Politikwissenschaft, Stuttgart 1970, S.17
24) Heinz Laufer: "Die Widersprüche im freiheitlichen demokratischen System - oder die Demokratie als eine coinzidentia oppositorum"; in: Leonhard Reinisch (Hrsg.): Freiheit & Gleichheit - oder die Quadratur des Kreises, München 1974" (Heft A 42 der Bayr.Landeszentrale für p.B.) Seite 21
25) Gottfried Karl Kindermann: "Internationale Politik - Eine Einführung in das Fach". in: Leonhard Reinisch (Hrsg.), Politische Wissenschaft heute, München 1971, S. 92
26) O.K. Flechtheim, a.a.0., S. 63
27) Ebd., S. 63
28) H. Laufer: Die Widersprüche im freiheitlichen demokratischen System. aaO., S. 20
29) Ebd., S. 20
30) Ebd., S. 20
31) O.K. Flechtheim, a.a.O., S. 59
32) Ebd., S. 61
33) Ebd., S. 61
34) Gottfried Karl Kindermann: Grundelemente der Weltpolitik, München 1977; S. 30/31
35) Ebd.; S. 31
36) Ebd., S. 31
37) Heinz Laufer: "Regierungslehre", in: Leonhard Reinisch (Hrsg.): Politische Wissenschaft heute, München 1971, S. 82
38) H. Laufer: Die Wiedersprüche im Freiheitlichen demokratischen System, S. 18
39) G. Lehmbruch, a.a.O., S.18
40) Hättich, Lehrbuch der PW, Bd. 1, S. 41/42
41) Heinz Laufer in: Mitteilungen aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Universität München, Nr. 10, WS 1979/80, Hrsg. v. H. Laufer/K.v.Sicherer, München 1979, Seite 312
42) M. Hättich, Lehrbuch der PW, Bd.1, S.47
43) Ebd., S. 50
44) Ebd., S. 52
45) Ebd., S. 54
46) Ebd., S. 54
47) Ebd., S. 55
B) Fundstellenverzeichnis zum Teil II. Staatsauffassungen
1) Konrad Löw: Unser Staat heute - Rechtestaat, Demokratie, Sozialstaat; München 1977, Seite 11
2) Thomas Ellwein: Regieren und Verwalten, Opladen 1976,
Seite 220
Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Staat als sittlicher Staat, Berlin 1978, S. 9/10
4) Burdeau, a.a.O., S. 263
5) Ebd., S. 265
6) Böckenförde, a.a.O., S. 12
7) Jean Dabin: Der Staat, Neuwied und Berlin 1964, Seite 11/12
8) Ebd., S. 12
9) v.d.Gablenz. a.a.O., S. 40
10) Flechtheim, a.a.O., S. 84
11) Ellwein, a.a.O., S. 220
12) Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre, Darmstadt 1959, S. 183
13) Dabin, a.a.O., Seite 14
14) Ebd., S. 57
15) Ebd., S. 19
16) Ebd., S. 7
17) Ebd., S. 11
18) Ebd., S. 74
19) Ebd., S. 21
20) Ebd., S. 21 (Anmerkung Nr. 2)
21) Ebd., S. 23
22) Ebd., S. 23
23) Ebd., S. 43
24) Ebd., S. 52
25) Ebd., S. 52/53
26) Ebd., S. 58
27) Ebd., S. 63
28) Ebd., S. 74
29) Ebd., S. 75
30) Ebd., S. 75
31) Ebd., S. 75 (Anmerkung Nr.4)
32) Ebd., S. 136 (Anmerkung Nr.3)
33) Dabin, a.a.O., S. 56
34) Ebd., S. 57
34a) Ebd., S. 139
35) Ebd., S. 137
36) Heinz Laufer: Die Widersprüche im freiheitlichen demokratischen System, S. 22/23
37) Ebd., S. 21
38) Dabin, a.a.O., S. 58
39) Ebd.. S. 138
40) Vgl. Böckenförde, a.a.O., S. 12ff
41) Ebd., S. 13
42) Ebd., S. 16
43) Ebd., S. 18/19
44) Ebd., S. 32
45) G.K. Kindermann: Internationale Politik - Eine Einführung in das Fach, S. 94
46) Kai M. Schellhorn: Die Analyse Multistaatlicher Politik - Versuch einer Arbeitsanleitung, München 1972, S. 8
47) Ebd., S. 8/9
48) Ebd., S. 11
49-50) Heinz Laufer: Die Widersprüche im freiheitlichen demokratischen System, a.a.O., S. 21
51) Otto Kimminich: "Deutschland als Rechtsbegriff und Aufgabe", in: Zur Lage der Nation - die Folgen der Verträge, Materialien der „Gaumburger Gespräche“; Heft X, 1977, Hrsg.: Arbeitskreis „Deutschland- und Außenpolitik der CSU“.
52) Kindermann, Grundelemente der Weltpolitik, a.a.O., S. 51
53) Ebd., S. 51/52
54) Kai M. Schellhorn: "Der Staat: Die wichtigste Aktionseinheit, in der Internationalen Politik"; in: G.-K. Kindermann (Hrsg.), Grundelemente der Weltpolitik, München 1977, S. 99
55) Schellhorn, Die Analyse Multistaatlicher Politik, a.a.O, S. 10
56) Schellhorn: "Der Staat: Die wichtigste Aktionseinheit in der Internationalen Politik, a.a.O., S.111