Melanie
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Erstellt: 26.09.05, 16:11 Betreff: Re: Das Leben der Christine Walter |
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10. – Rollentausch
„Aufstehen mein Schatz. Du musst zur Schule.“, sagte Frau Krossmann und küsste ihrer Enkelin auf die Stirn. Diese lag wie verrädert im Bett und wollte nicht aus den Federn. „Was? Wie spät ist es?“ Panik machte sich in Christine breit. „Wir haben verschlafen meine Kleine, die zweite Schulstunde ist schon angebrochen.“, entgegnete die Großmutter. „Scheiße!“, entfuhr es Christine und sprang schnell aus dem Bett. So schnell wie an diesem Morgen war sie noch nie zur Schule gehechtet. „Wo ist Andreas, wo ist Andreas?“, fragte sie sich immer wieder. Die große Pause hatte gerade begonnen, als sie das Schulgelände betrat. Und plötzlich...Andreas! Langsam kam er auf sie zu, flüsterte im Vorbeigehen: „Alles easy.“ und verließ daraufhin den Schulhof. Christine schaute ihm lächelnd nach, doch dann kamen einige Klassenkammeraden auf sie zu. „Scheiße, sie haben was bemerkt.“, grübelte Christine mit flauem Gefühl im Magen. „Du wolltest ja wohl nicht das Schulgelände verlassen, oder? Ohne uns!?“, fragte Martina interessiert. Christine fiel ein Stein vom Herzen und musste schmunzeln. Während sie nun das Schulgelände verließen, gab Christine verschmitzt zurück: „Ne, natürlich nicht! Ich hab auf euch gewartet. Wo ist Claudia?“ „Wahrscheinlich krank, mir egal. Wieso fragst du? Du weißt doch selber, dass sie nicht da ist.“, war Martinas Antwort. „Ach ja...na ja...ich bin mit den Gedanken gerade ganz woanders.“, redete Christine sich heraus. „Achso!?“, wurde Martina neugierig und hakte genauer nach. „Haste etwa nen Lover?“ Bevor Christine darauf antworten konnte, sah sie das Mädchen mit den langen blonden Haaren von früher, nach etlichen Jahren das erste mal wieder und war hin und weg. „Christine? Was is´n los? Kennst du die?” Christine wurde von Martina aus ihrer Trance gerissen. „Ach...die...die kenne ich aus meiner damaligen Schule, sie ging in meine Paraelklasse.“, gab sie schmunzelnd zurück. Dann drehte sich das Mädchen plötzlich zu ihr um und lächelte ihr entgegen. Christine stockte der Atem und hob nur kurz die Hand. Sie hatte nie mit dem Mädchen gesprochen, aber sie war ihr trotzdem in Erinnerung geblieben. Doch nun schien alles anders. Das blonde Mädchen gab ihrer besten Freundin noch einen Abschiedskuss und kam jetzt auf Christine zu. „Hey, was machst du denn hier? Gehst du jetzt auf diese Schule?“, wollte sie wissen. „Ja genau und du auf die Real nebenan!?“ „So ist es! Ich bin übrigens Diana und du Christine, nicht wahr?“ Diana lächelte ihr zu und Christine musste lachen. „Ja, die bin ich. Habe dich ja lange nicht gesehen. Wollte dich damals schon immer ansprechen, hab mich aber nie getraut.“ „Ging mir genauso. Hab dich immer beobachtet.“, bestätigte Diana. „Was ist nun, kommst du mit nach Penny?“, hakten die Klassenkammeraden nach. „Geht doch schon mal vor...ach und bringt mir ne Cola mit.“, gab Christine verwirrt zurück und sah Martina und die anderen auch schon in das Geschäft gehen. Christine und Diana standen nebeneinander und schauten sich entgegen. Wie lange hatte Christine auf diesen Moment gewartet gehabt, damals in der Grundschule. Sie hatte sich immer gewünscht, dass sie und Diana sich mal unterhalten würden. Verlassen stand sie oft in einer unscheinbaren Ecke des Schulhofes und warf einen Blick auf die schüchterne Person, die ihr gegenüber, an einer Säule gelehnt stand. Irgendwas war besonders an diesem Mädchen, fand Christine und musste jetzt, wo sie so darüber nachdachte, schmunzeln. „Hast du auch gerade Pause?“, fragte Christine. „Ne, ich hab Schulschluss. Unsere Lehrerin ist krank, deshalb. Ist auch besser so... Ich hab dich noch ganz gut in Erinnerung, du hattest genauso wenige Freunde wie ich und standest genauso bescheuert herum.“, rief Diana Erinnerungen an jene Zeit zurück. „Ja, ich hatte es auch nicht immer leicht.“ „Ich auch nicht. Kurz vor meiner Einschulung ist meine Mutter am Krebs gestorben, ich hatte null Bock und überhaupt keinen Kopf für die Schule. Weißt du, ich hab mir immer gewünscht, mit dir in einer Klasse zu sein.“ Diana schaute etwas verlegen zur Seite. „Hey, muss dir doch nicht peinlich sein, ging mir genauso!“ Christine lachte aus vollstem Herzen, auch Diana konnte sie mit ihrem Humor anstecken. Dann fuhr Christine fort: „Wir hätten uns bestimmt super verstanden, weil wir in einer ähnlichen Lage steckten. Meine Mutter starb auch sehr früh, musste zu meinen Großeltern. Tja und hab alles kurz vor der Einschulung erfahren!“ Christine stiegen wieder die Tränen in ihre Augen. Ihr Leben erschien ihr so sinnlos, seitdem sie ihre Mutter verlassen hatte. „Ihr Tod war bestimmt auch für dich ein harter Schlag.“, versuchte Diana zu trösten. Christine schluchzte und wischte sich mit der flachen Hand einmal über die Augen. „Ihr Tod eher weniger, ich wusste ja von nichts. Sie hat mich Wochen zuvor ja kaum noch in den Arm genommen. Schlimm war, als ich dann meine Großeltern lautstark über ihren Tod diskutieren hörte. Somit lag die Wahrheit auf dem Tisch.“, gab Christine mit rauer und verletzter Stimme zu verstehen. Sie musste schlucken, sie hatte einen fetten Kloß im Hals. Sie räusperte sich. „Ich find´s komisch.“, fand Diana. „Was findest du komisch?“ Christine schaute auf. „Na, dass wir beide so offen reden, obwohl wir uns gar nicht richtig kennen. Es ist beinahe so, als währest du schon ewig lang eine Freundin.“ „Ich wäre gerne deine Freundin gewesen, das kannst du mir glauben. Hab dich nie vergessen.“ „Ich dich auch nicht. Kannst du dich noch an den letzten Schultag in der Grund erinnern? Ich war nah davor, auf dich zuzugehen, um dir zu sagen, dass ich dich mochte.“, lachte Diana. „Christine, kommst du? Es ist 11:10 Uhr! Wir müssen weiter, sonst kommen wir noch zu spät.“, hörte Christine plötzlich die Stimme von Martina hinter sich. „Ja, ich komme.“ Sie lächelte Diana zu. „Man sieht sich.“ Und verschwand. „Wo ist meine Cola?“ „Hier! Sag mal, wer war denn das? Und was hattest du so lange mit der zu bereden?“ „Ach nichts weiter. Sag schon, wie viel schulde ich dir?“ „Wie?“ „Na für die Cola!“, wiederholte Christine. „Die hab ich so günstig geschossen, lass stecken!“, lachte Martina. „Achso, verstehe.“, gab Christine mit einem Unterton in der Stimme zurück und schaute Martina entsetzt entgegen.
Christine nahm den Unterricht wie immer nur teilweise wahr. Irr schwirrten ganz viele Gedanken durch den Kopf. Am liebsten hätte sie sich irgendwo auf der Toilette verkrochen und erst mal geweint. Das war doch ein wenig viel für sie gewesen. Die Erinnerungen an ihre Mutter, dann dieses komische Kribbeln in ihrem Bauch, wenn sie Diana sah und dann war da noch die Frage was jetzt zwischen ihr und Nick passieren würde? War er nur ein guter Freund, oder lief da eventuell mehr!? Christine war unruhig und stielte aus dem Fenster. Sie brauchte jemanden zum Reden, sofort. Sie fragte sich schon die ganze Zeit wo Claudia steckte und was Andreas jetzt machte. Mit einem von beiden musste sie jetzt reden. Außerdem wollte sie wissen, wie die Arbeit gelaufen war, die Andreas für sie geschrieben hatte. Etwas unwohl war ihr schon zumute und vor allem schaute Frau Erichson immerzu zu ihr herüber. Hatte sie den Rollentausch von Christine und Andreas doch durchschaut und wollte Christine nach dem Unterricht eventuell sogar noch sprechen? Viele ungeklärte Fragen ließen Christine für den Rest der Schulstunden einfach nicht los. Ihr kleines Herz schlug ganz wild in ihrer Brust. Sie konnte es schon förmlich hören, sie saß wie gerädert an ihrem Tisch und kritzelte angespannt die Sätze von der Tafel auf ihr Heft. Man konnte keinen einzigen Buchstaben wirklich erkennen. „Währe doch nur Claudia hier.“, machte sich Christine ihre Gedanken. Sie knallte den Stift auf ihr Schulheft und rannte zur Tür hinaus in die Schultoilette. Einige Schüler lachten, kicherten vor sich hin, oder flüsterten mit ihrem Nachbarn. Die Lehrerin allerdings fand daran überhaupt nichts witziges. Sie machte sich ernste Sorgen um das Mädchen. Ihr war Christine schon lange aufgefallen, durch ihr Verhalten. Sie wollte sich umgehend mit der Klassenlehrerin in Verbindung setzen und vor allem mit Christine sprechen. Währenddessen übergab sich Christine in der Kloschüssel, heute war ein harter Tag für sie gewesen, außerdem bekam ihr der Alkohol nicht gut, den sie am Vorabend getrunken hatte. Verzweifelt schlich sie sich zurück auf ihren Platz. „Gut gut Kinder, machen wir für heute etwas früher Schluss.“, sprach die Lehrerin. Gejubel herrschte im Klassenraum. Nur von Christine kam nichts. Versteinert saß sie auf der Schulbank und sah auf ihr vollgekritzeltes Stück Papier. „Kinder, verlasst das Schulgebäude bitte leise, nebenan wird noch eine Arbeit geschrieben.“, ermahnte die Lehrerin. Die Schüler gingen nun der Reihe nach auf den Flur und verließen den Klassenraum. Nun stopfte auch Christine ihre Sachen in ihren Ranzen und hob ihn sich auf die Schultern. „Moment noch Christine, ich will mit dir sprechen.“ Frau Erichson hielt sie an der Schulter zurück. „Scheiße, wusst´s ich doch.“ Christine zitterte am ganzen Körper, warum durfte sie nicht wie jeder andere auch endlich nach Hause gehen!? Die Tür fiel ins Schloss und Frau Erichson setzte sich auf ihr Pult, das Bein über das andere geschlagen. „Setz dich doch, dann fällt es dir vielleicht leichter mir zu erzählen was mit dir los ist!“, hauchte die Lehrerin freundlich. Christine setzte ihren Ranzen ab und setzte sich nun ebenfalls auf einen Tisch gegenüber, ließ die Beine baumeln und schaute immer noch auf den Boden herunter. Auf keinen Fall wollte sie, dass man ihre Tränen sah und schon gar nicht die Lehrerin, entfuhr es Christine. „Was soll denn mit mir los sein!?“ „Ich sehe es doch Christine! Aber das ist ja nicht nur heute so, dass ist schon von Anfang an. Du schweigst dich aus und ich hab das Gefühl es wird immer schlimmer. Bedrückt dich irgendwas?“ Die Lehrerin stellte ihre Beine auf den Boden, ging zu Christine herüber, setzte sich neben sie und strich ihr sorgend über die Schulter. Christine wagte es sich nicht aufzuschauen. Ihre Wangenmuskeln fingen an zu zittern und ihre Stirn zog sich in Falten. „Nein, alles bestens. Wirklich, warum fragen Sie?“, gab sie so gelassen wie möglich zurück. „Hattest du Probleme mit der Arbeit in der ersten Stunde?“, wollte Frau Erichson wissen. „Die weiß was, hundert pro.“, Christines Körper verkrampfte sich immer mehr. Ihr Magen zog sich in sich zusammen, ihr war richtig schlecht geworden. „Ne, alles easy gelaufen! Ich hab ein gutes Gefühl.“, gab sie zurück, war sich jetzt aber nicht mehr so sicher. Sie dachte an Andreas letzte Worte und hoffte, dass er mit seiner Aussage Recht behalten würde. „Das ist schön, es währe schließlich das erste Mal.“ „Wie meinen Sie das!?“, wurde Christine zickig und immer unruhiger. „Bisher hast du nicht so gute Arbeiten geschrieben, ich habe oft deine Schrift nicht entziffern können. An deiner Klaue musst du noch arbeiten Christine. Du hast doch einen Bruder!?“ „Nein, hab ich nicht.“, gab sie schnell Antwort und verstrickte sich immer mehr in Lügen. „Deine Großmutter meinte so etwas! Ich meine ja nur...vielleicht hast du auch eine gute Freundin, die dir eventuell mal helfen könnte, oder aber auch deine Oma oder Opa!?“ Christine schüttelte den Kopf und eine Träne lief ihr die Wange herunter. Sie wurde von Frau Erichson sofort entdeckt. Sanft streichelte sie Christine über ihren Rücken. „Was immer dich auch traurig macht, du kannst es mir ruhig sagen.“ Die Schulglocke ertönte und Christine hatte genug. „Mit mir ist alles in Ordnung, ich glaube eher, dass Sie Hilfe brauchen!“, schrie Christine, schnappte sich ihren Ranzen und verschwand eilig zur Tür heraus. So schnell wie sie am Morgen zur Schule erschienen war, hatte sie die Schule auch wieder verlassen. Sie setzte einen Schritt vor den anderen, so schwer war sie noch nie voran gekommen. Ihre Gedanken waren nur noch bei Andreas. Er war der einzige, der sie bestimmt verstehen konnte. Sie brauchte seinen Halt, seine Unterstützung. Sie musste ihn suchen, am besten zuerst auf dem Fabrikgelände. Nach Hause wollte sie jetzt nun wirklich nicht. _________________
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