Katastrophaler Katastrophenschutz
Informationsvortrag vor großem Publikum über die Folgen einer Reaktorkatastrophe/ Kernkraftwerksgegner fordern sofortige AKW-Stilllegung
Wewelsfleth/Brokdorf
„Es gibt 20 Notfallstationen in Schleswig-Holstein,
die jeweils 1000 Personen aufnehmen können, die dekontaminiert sind –
also für 20 000 Menschen.“ Ob das im Ernstfall ausreichend ist, sei zu
bezweifeln, meinte Kartsen Hinrichsen, der als Sprecher der Initiative
„Brokdorf akut“ die Moderation eines Informationsabends übernommen
hatte, der sowohl die aktuelle Situation in Fukushima als auch den
Sonderkatastrophenschutz bei einer Reaktorkatastrophe in Brokdorf
beleuchtete. Dazu hatten Brokdorf akut, der BUND und attac Itzehoe in
die Mehrzweckhalle Wewelsfleth eingeladen. Anlass bot die „Aktionswoche
Katastrophale Risiken - AKW Brokdorf stilllegen“. Referentin war Dr.
med. Angelika Claußen, Vorsitzende der Gruppe Internationale Ärzte für
die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).
Vor einem großen Publikum – allerdings vermisste Moderator Karsten
Hinrichsen offizielle Vertreter des Kernkraftwerks Brokdorf – gab
Angelika Claußen einen Überblick über die aktuelle Lage im japanischen
Katastrophengebiet. Untermauert mit Bildern, die betroffen machen
angesichts der Verharmlosung der Situation durch dortige Regierung und
Behörden. Kontaminiertes Material, lediglich durch Plastikplanen
abgedeckt, lagert immer noch auf den Grünflächen im 30- bis 60-Kilometer-Umkreis
um die Sperrzone. Ungläubiges Kopfschütteln beispielsweise auch
angesichts tanzender, barfüßiger Mädchen an einem besonderen Festtag in
einem immer noch stark radioaktiv verseuchten Gebiet. Die 61-jährige
Ärztin beschrieb ein umfassendes, oft unfassbares Bild der gewollten
Normalität – und des völlig gescheiterten Katastrophenschutzes dort.
Doch wie sähe der Schutz der Bevölkerung in Deutschland, speziell in
hiesiger Region aus, wenn es einen Supergau im Kernkraftwerk geben
würde? Die Referentin kam ebenso wie der Moderator und die an der
anschließenden Diskussion Beteiligten zu einem vernichtenden Urteil,
angelehnt an eine Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz. Dieses hat
den Verlauf der Katastrophe von Fukushima untersucht und auf die
Verhältnisse in der Bundesrepublik übertragen.
Demnach wäre im Katastrophenfall in deutlich größeren Gebieten die
Einnahme von Jodtabletten vorzusehen (bis 180 Kilometer Entfernung statt
bisher 100 Kilometer) – und das nicht nur einmal sondern wiederholt.
Das Großlager für Jodtabletten liege in Neumünster, merkte Hinrichsen an
– fraglich sei, ob die Verteilung jener Tabletten im Ernstfall
tatsächlich rechtzeitig funktionieren würde. Laut Bundesamt werde auch
die Evakuierung, permanente Umsiedlung und Einnahme von Jodtabletten auf
wesentlich größeren Flächen erforderlich sein, wenn sie nicht erst bei
einer Strahlenbelastung von 100 milliSievert, sondern schon ab 20
milliSievert angeordnet wird.
Das bedeute, so Dr. Angelika Claußen, dass fast ganz Schleswig-Holstein
bis nach Dänemark, aber auch große Teile von Niedersachsen und Hamburg
im Fall einer Atomkatastrophe im Kernkraftwerk Brokdorf dauerhaft zu
evakuieren wäre. Dieser Realität seien die Katastrophenschutz-Behörden
nicht gewachsen. Die Diskussion mündete in die Forderung der
Atomkraftgegner, das Kernkraftwerk Brokdorf zum Schutz der Bevölkerung
umgehend stillzulegen. Es sei weder gegen Terrorangriffe noch gegen den
Absturz schwerer Flugzeuge wie des Airbus A380 gesichert. Landes- und
Bundesregierung wurden aufgefordert zu handeln. Nach deren Plänen soll
das AKW bis Ende 2021 in Betrieb sein.
Gleichzeitig wurde auf das ungelöste Problem der Langzeitlagerung
radioaktiven Mülls aufmerksam gemacht. Auch darüber entspann sich eine
ausführliche Diskussion. „Dazu braucht es noch viele kluge Köpfe“,
meinte Dr. Angelika Claußen, doch erst einmal „müssen die Kernkraftwerke
stillgelegt werden“.
Ilke Rosenburg