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Gruppe Enigma
Wortlust und Weltmacht
Das Forum für Wortspieler
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Scriptor
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Beiträge: 3004 Ort: 2 Meter über meinen Füßen
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Erstellt: 23.06.08, 02:50 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Selma ist ein merkwürdiges Mädchen. Nicht nur weil sie den gleichen Nachnamen hat wie Marge Simpsons Schwester, sondern weil sie mit ihren gerade einmal 14 Jahren doppelt so viel raucht wie Petty und Selma zusammen. Eigentlich ist sie ja eine ganz liebe, meist ein wenig träge zwar, aber doch wirklich lieb. Auch ihre ständig roten Augen stören nicht besonders. Wenn sie nicht nett ist, dann sitzt sie in der hintersten Reihe und trommelt auf dem Tisch und kriegt manchmal Nasenbluten oder kratzt sich in der Ellenbogenbeuge. Sie redet kaum noch, und wenn, dann entweder leise und nuschelnd oder total aufgekratzt und von tausend Dingen redend, die keiner versteht, weil sie viel zu schnell ist. Selma ist ein merkwürdiges Mädchen.
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Scriptor
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Beiträge: 3004 Ort: 2 Meter über meinen Füßen
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Erstellt: 23.06.08, 02:50 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Seine Fingerkuppen waren bereits taub.
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zero
Administrator
Beiträge: 1997
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Erstellt: 12.10.08, 19:28 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Für Silke: Beim Eislecken geschah es, dass die ältere Frau dachte, der Junge hätte ihr die Zunge herausgestreckt, was sie verärgerte.
____________________ Die Hölle ist überwindbar.
[editiert: 12.10.08, 19:28 von zero]
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zero
Administrator
Beiträge: 1997
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Erstellt: 12.10.08, 19:30 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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zum Satz: Vorsicht, gefährlich!
____________________ Die Hölle ist überwindbar.
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Silke
Administrator
Beiträge: 1032 Ort: Hannover
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Erstellt: 12.10.08, 20:32 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Beim Eislecken geschah es, dass die ältere Frau dachte, der Junge hätte ihr die Zunge herausgestreckt, was sie verärgerte. Ihre Stirn legte sich in Falten und sie zog ihren lippenstiftbemalten Mund mißbilligend in die Tiefe. Wir sehen den Jungen auf seinem Skateboard wegfahren und wir sehen die Frau vor vielen Jahren in einer Szene mit ihrem Bruder am Grab der Eltern. Der Mageritenstrauch vor dem Stein der Eltern ist verwelkt und der Bruder trägt Lederhandschuhe. "Wirst du die Blumen entfernen?", fragt die Frau ihren Bruder. Er sieht sie an, sucht in ihrem Gesicht etwas Vertrautes und findet es nicht. "Ich glaube, du hast mich nie verstanden. Du hast es nicht einmal versucht." Ihr Bruder dreht sich um. Er geht durch das schmiedeeiserne Tor hinaus aus dieser Geschichte. Die ältere Frau leckte ihr Eis. Zwei Kugeln Schokolade und eine Kugel Erdbeer in einer maschinell hergestellten Waffel. Mehr ist nicht passiert.
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Graefinjutsch
Administrator
Beiträge: 13580
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Erstellt: 13.10.08, 11:16 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Zitat: Silke
Er geht durch das schmiedeeiserne Tor hinaus aus dieser Geschichte. |
Das find ich schön! Überhaupt schien es klar, dass doch die Frau das Eis schleckte. Bäh!
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Silke
Administrator
Beiträge: 1032 Ort: Hannover
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Erstellt: 13.10.08, 11:41 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Schmiedeeisene Friedhofstore finde ich heute morgen maximal kitschig.
Neuer erster Satz:
Der Regisseur ist nicht zufrieden.
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Graefinjutsch
Administrator
Beiträge: 13580
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Erstellt: 13.10.08, 12:43 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Geiler Satz! Ich schieb aber trotzdem noch einen Text zum vorletzten Satz dazwischen. Der brannte eine Zeit lang im Ofen meines Ordners angefangener Texte:
Eds Liste
Seine Fingerkuppen waren bereits taub. Er unterbrach das Tippen und massierte sie. Christin flötete aus der Küche: „Kommst Du, Ed?“ „Gleich.“, murmelte er und fuhr fort.
….ja, und wenn einer dann auf die Idee käme, diese eben erwähnte Eins und eine weitere Eins zusammen zu zählen, um dann messerscharf und stolz auf eine eifrig parat stehende Drei zu kommen, wenn er dann auch noch jemand anderen darin bestärkte, dasselbe Ergebnis zu zählen, dann nähme vielleicht, aber nur vielleicht, und wer weiß das schon, das Unglück der Zwei hinter jenem Gleichzeichen seinen Lauf. Wenn niemals mehr der eine, ja auch der andere jemand und diesem Zuge auch immer mehr andere jemals wieder die Zwei -Ja doch, die Zwei!- als richtige Lösung in Erwägung zögen, könnte diese ganz unbemerkt von der „Liste allgemeingültiger Zahlen hinter dem Gleichzeichen“ gestrichen werden. Und trügen die Beiden denn auch noch jene Weisheit zum Nächsten und Übernächsten und diese wieder zu völlig Fremden, verschwände dann die Zwei wahrscheinlich für immer und…
„Essen wird kalt, Eddi!“ „Gleich doch…“
…wenn sich aber doch die Drei vielleicht schon nach relativ kurzer Zeit, aber wer weiß das schon, hinter dem Gleichzeichen zu langweilen begänne, sich der zuerst genannte eine und der andere und alle anderen, auch die völlig Fremden vom andauernden Gemecker der Drei die Ohren zuhalten müssten, dann witterte vielleicht die vollkommen unbeachtete, ja eigentlich nicht mehr existierende Zwei ihre zweite Chance und stände urplötzlich parat. Zack! Direkt neben der jammernden Drei. Hinter dem Gleichzeichen. Und wenn dann der eine nicht richtig hinschaute, weil er vielleicht blinzelnd müsste, weil just die Sonne so schräg stünde, während am Himmel die Wolkenfelder leider viel zu wenig wölkten, so könnte er die Zwei, die sich in ihrem Recht wähnte, für eine Drei halten. Ach nein, was schreibe ich denn da! Er hielte eventuell die richtige Zahl für die Zwei, ja, die Zwei! Die Drei, zur Seite geschubst, verlöre dann gar das Gleichgewicht, fiele vielleicht vornüber oder seitlich, das wüsste ja keiner so recht, denn es sähe ja keiner mehr zu ihr und dann…
„Ed!“
Ed erhob sich vom Schreibtisch, massierte sich die Finger und ging in die Küche. Während ihm eine düster dreinblickende Christin lauwarme Kartoffeln und Bohnen auftat, wagte sie zu fragen. „Zwei oder drei Bratwürste?“ „Gib mir vier und dann Ruhe!“ Christin gab Ruhe. Ed aß die Vier und alles andere auch. Hinterher war er sich dann plötzlich nicht mehr sicher, wie viele Würste es nun wirklich waren. Christin verdrehte die Augen.
„Nun gib Du Ruhe, mir ist es gleich, wie viele es waren!“
Doch da hatte sie was gesagt! Ed stutzte, massierte kurz seine Finger und ging zum Herd. In der Pfanne lagen noch zwei Würste. Er schnappte sie und stopfte sie sich in den Mund. Sie waren noch heiß. Er ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich zurück an den Schreibtisch und begann mit fettigen Fingern zu tippen.
…so könnten es nie und nimmer mehr Zwei oder Drei sein, hinter dem Gleichzeichen! Vielleicht minimal vier, doch -Wie schön!- maximal sechs. Sechs! Wie neu wäre doch diese feine Zahl, keine schnöde, olle, gebrauchte mehr. Und entfernte man vielleicht auch noch die Eins und die andere Eins vor dem Gleichzeichen, ersetzte sie durch…na ja, etwa durch…sagen wir mal eine…, na…
Bis seine Fingerkuppen taub wurden schrieb Ed und dann noch weiter und weiter. Christin hörte ihn vom Bett aus tippen.
[editiert: 13.10.08, 12:44 von Graefinjutsch]
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Johannes
Administrator
Beiträge: 5382 Ort: Hannover
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Erstellt: 14.10.08, 19:47 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Vielleicht sollte sich Ed ein bisschen mehr um Christin kümmern, die meint es doch nur gut. Brät ihm sechs Bratwürste und inspiriert ihn noch dazu, die Ärmste. Man sollte sich nie mit wahnsinnigen Mathematikern einlassen, selbst wenn es eigentlich Schriftsteller sind. Man sollte sich auch nie mit jemand einlassen, der Ed heißt, die sind immer wahnsinnig.
Das war gut!
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Gooetz
Administrator
Beiträge: 10738 Ort: Hannover-Nordstadt
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Erstellt: 14.10.08, 20:20 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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... und schon gar nicht auf Eds, die beim Bratwürsteessen nicht mitzählen können.
____________________ Hier stand früher: "Frauen neigen zum Gegenteil." Aber jetzt nicht mehr.
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Johannes
Administrator
Beiträge: 5382 Ort: Hannover
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Erstellt: 14.10.08, 20:59 Betreff: Re: Der erste Satz ...
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Der Regisseur ist nicht zufrieden. Marvin blickte stoisch aus dem Fenster der fast leeren U-Bahn auf vorbeirauschende Kabelschächte, Leitungen, Lichter. Er hatte sich weder verabschiedet noch hatte Marvin überhaupt seinen Abgang bemerkt. Verdammt, dabei hatte er alles gegeben, alles, hatte sich die Eingeweide herausgespielt, bis sein Körper nur noch als eine leere Hülle von der Bühne wehte. Er hatte sich verdammt nochmal den Arsch abgespielt! Er war so gut gewesen, er hatte sich vor sich selbst gefürchtet. Sicher würde er bis nächste Woche brauchen, um sich auch nur annähernd wieder aufzubauen. Nächste Woche war die Uraufführung. Und der Regisseur ist immer noch nicht zufrieden.
Wie ein kleines Kind ist er. Dies passt ihm nicht, das passt ihm nicht. Er mault solange, bis man ihn zufriedengestellt hat. Bis man den Wunsch in seinem Auge mit der Nadel getroffen hat. Ach was, er ist überhaupt nicht zufriedenzustellen. Er ist ein solcher Perfektionist, als König würde er wahrscheinlich jeden Hofnarr nach dem ersten Sketch köpfen lassen. Er ist irre! Ein Wahnsinniger, den man auf einen Regiestuhl gesetzt hat! Ein Demagoge, ein Paranoider, ein Freak! Verdammt, wenn er nur wüsste, was er falsch gemacht hatte! Aber aus diesem Irren war ja nichts herauszubekommen, er war ja wie das Orakel von Delphi bei Nebel.
Mit einem Knack öffnete Marvin den kleinen Flachmann, den er sich am Nachtkiosk an der Haltestelle gekauft hatte. Das Zeug schmeckte pelzig auf der Zunge und scharf im Hals, machte aber sofort ein warmes Gefühl im Bauch, half jedoch nicht gegen seine unglücklseligen Gedanken. Er sah sich um. Außer ihm saßen nur ein älterer Typ mit Krücken und recht armseligen, wenngleich gepflegten Klamotten sowie eine dunkelhäutige, dickliche Frau mittleren Alters in einem bunten Kleid und müden Augen in der Bahn. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er jetzt den "Izarro" gegeben. Vielleicht hätte er auch einfach nur geschrien. Oder "FUCK" in einen der Sitze geritzt. Marvin nahm noch einen Schluck. Scheiße nochmal, wohin fuhr er überhaupt? Nach Hause? Zu Hause gibt es nicht, dachte er sich. Wir sind alle nur auf Freigang aus der Hölle. Warum guckte der Typ mit den Krücken so gehässig zu ihm herüber? Fuck!
Die junge Frau konnte verdammt gut singen, und überschwängliche Lebensfreude sprang ihr aus jedem Millimeter ihres mädchenhaften Körpers. Zwei Jungs saßen zu ihren beiden Seiten, klatschten rhythmisch und feuerten sie an. Verdammt, und das in der U-Bahn-Station. Marvin lächelte. There is a house in New Orleans. Wie lange er das nicht gehört hatte! Sie war gut, verdammt gut! Und sie war einfach nur ein Mädchen, es war ihr scheißegal, ob sie überhaupt Zuhörer hatte. Die zwei Typen waren wahrscheinlich nur da, um sie davor zu schützen, von allen angequatscht zu werden. Vielleicht hätte er sie sonst sogar angequatscht. Aber er befürchtete, sie könnten ihn für einen Säufer halten. Dabei trank er immer erst nach der Arbeit, was manchmal spät werden konnte in seinem Job. Verdammt spät! Was für eine geile Stimme!
Noch einmal so zwanglos sein, dachte er sich! Sich um keinen verdammten Regisseur kümmern zu müssen, um keinen verdammten, ewig unzufriedenen Regisseur. Etwas Wildes, Gefährliches lag in der dunstigen Luft der U-Bahn-Station. Sollte er ihr Geld geben? Sie hatte nicht einmal einen Hut oder sowas vor sich. Nicht einmal einen Hut!
Der Typ mit den Krücken und die Lady waren immer noch hier, sie warteten auf eine Anschlussbahn. Außerdem noch ein Dutzend weitere Gestalten, die meisten mit Bier in der Hand, ein paar mit Fahrrädern, ein paar Pärchen, einer schlief unter der Bank. Nachtsternverkehr. Der Typ mit den Krücken guckte immer noch abfällig, diesmal aber zu dem singenden Mädchen. Die dunkelhäutige Frau guckte auch, aber ihren Blick konnte Marvin nicht deuten. Er nahm an, ihr gefiel es, aber sie hatte solche Sorgen, dass sie sich der Musik nicht hingeben konnte. Größere Sorgen als er. Als Marvin, der kleine, beschissene Theaterdarsteller, den keiner der Anwesenden hier jemals auf einer Bühne sehen würde. Er selbst wollte nicht weiterfahren, blieb nur wegen des Gesangs stehen. Wenn gleich die Bahn einfuhr, würde er seinen Hut nehmen und nach oben gehen, noch ein wenig die Lichter der Großstadt schnuppern. Seiner Großstadt. Vielleicht ein Stündchen an einer Bar sitzen, runterkommen. Ja, runterkommen.
Einem spontanen Impuls folgend, schneller als ein Gedanke sein könnte, nahm er seinen Hut in die Hand und lief einmal den Bahnsteig entlang: "Einen Dollar für die singende Lady! Ein Dollar für die singende Lady!" Mit einer tiefen Traurigkeit, die sich kein bisschen mit ihrer Lebensfreude widersprach, intonierte sie "Innocent when you dream" von Tom Waits. Marvin brach das Herz entzwei. Was war er nur für ein armseliger Wicht gegenüber dieser Lady. Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche und leerte etliche bunte Scheine in den Hut. Der Regisseur hatte recht gehabt mit seiner Unzufriedenheit. Er war gut gewesen, ja, aber es war dennoch nur Schauspiel. Totes Schauspiel. Arbeit, gekonnte, gelernte Arbeit. Einstudierte Dramaturgie, aber nicht authentisch. Das hier war echt. Das hier war Leben. Das hier berührte ihn, mehr als das ganze Stück, das sie nächste Woche aufführen würden.
Die Bahn fuhr ein, und er hatte tatsächlich ein paar Münzen eingesammelt, zusätzlich zu den Scheinen, die er hinzugefügt hatte. Er drehte sich um und wollte der kleinen Lady das gesammelte Geld überreichen, aber sie war schon mit ihren beiden Kerlen in die Bahn gestiegen. Marvin lief an den Türen vorbei, bis er sie sah. "Hier! Hab ich für dich gesammelt, kleine Lady! Nimm es, du hast es verdient!" Er blieb in der Trittstufe stehen, um nicht mit abzufahren, und hielt ihr den Hut hin. Sie lächelte. Dann schüttelte sie den Kopf. Ihr langes, braunes Haar hing ihr ins Gesicht: "Behalt dein Geld, Mann! Gib mir nur den Hut!" Ihr Lächeln schmerzte.
Kühle Luft umwehte seine Ohren, als er von der U-Bahn-Station auf die Straße trat. Der Hut war aus L. A., ein Geschenk des Marketingchefs der Produktionsfirma von Clint Eastwood. Drauf geschissen! Das ist Leben, dachte er sich. Das ist Leben!
Am gleichen Abend traf er die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen sollte. Ausgerechnet in einer Bar am Steintor. Das ist vielleicht ein Klischee, aber so war es nunmal. Und bei der Uraufführung war der Regisseur endlich zufrieden!
Das war gut!
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