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Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen
Staatsterror durch staatliche Eingriffe in das Familienleben
Verletzung von Menschenrechten, Kinderrechten, Bürgerrechten durch Entscheiden und Handeln staatlicher Behörden im familienrechtlichen Bereich, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Familienhilfe unter anderem mit den Spezialgebieten Jugendamtsversagen und Jugendamtsterror
Fokus auf die innerdeutsche Situation, sowie auf Erfahrungen und Beobachtungen in Fällen internationaler Kindesentführung und grenzüberschreitender Sorgerechts- und Umgangsrechtskonflikten
Fokus auf andere Länder, andere Sitten, andere Situtationen
Fokus auf internationale Vergleiche bei Kompetenzen und Funktionalitäten von juristischen, sozialen und administrativen Behörden
"Spurensuche
nach Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen"
ist ein in assoziiertes Projekt zur
angewandten Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung "Systemkritik: Deutsche
Justizverbrechen"
http://www.systemkritik.de/
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Beitrag |
Gast
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Erstellt: 18.01.09, 19:39 Betreff: Jugendamt Hamburg: Auslese, Ausmerzung und spezialisierte Förderung |
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BAUMANN, Ruth (1989): Auslese im Spannungsfeld zwischen Ausmerzung und spezialisierter Förderung, in: COGOY, Renate; KLUGE, Irene; MECKLER, Brigitte (Hrsg.)(1989): Erinnerung einer Profession. Erziehungsberatung, Jugendhilfe und Nationalsozialismus, Münster: Votum Verlag, S. 152-160.
152 Ruth Baumann Auslese im Spannungsfeld zwischen Ausmerzung und spezialisierter Förderung1
Traum vom Überleben
Sardinen las ich die zu groß sind oder zu kantig oder zu breit für die DIN-Norm der Dosen werden wieder zurückgeworfen ins Meer So überleben sie werden alt und zeugen Generationen von Nachkommen die nicht der Norm entsprechen. Das hat mir zu denken gegeben
Norbert Ney
1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines ABM-Projektes im Amt für Jugend Hamburg, Referat Jugendpsychiatrischer Dienst, in Zusammenarbeit mit Charlotte Köttgen und Dieter Kretzer.
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1. Ein Kind, das nicht der Norm entsprach - Fürsorgeerziehung 1943 aus der Sicht eines Betroffenen
Herrn H.s Eltern ließen sich scheiden, als er acht Jahre alt war, das fünfte Kind unterwegs, "und da konnte das Mutter nicht mehr wuppen ..." Es gab alle Augenblicke "Kalamitäten" wie Äpfelklauen und eingeschmissene Scheiben. H.H. galt als schwer erziehbar und kam von der Aufnahmestation im Verwaltungsgebäude des damals "Waisenhauses" in der Averhoffstraße in ein Jugendheim in Hamburg-Volksdorf. Herr H.: "Ich war' als Kind schon ziemlich primitiv gewesen, so in dieser Art war das Gutachten ... Das sollte nun natürlich in Volksdorf gebessert werden. Da wurde man dann also in verschiedene Gruppen eingeteilt und diese Gruppen an verschiedene Tische. Da konnte man sich ausrechnen ..., je schlimmer man war, um so weiter hinten hat man gesessen, und dann ging es weiter in der Zuteilung der Lebensmittel usw. ja auch. Zuerst kam immer Tisch l dran. Wenn man an Tisch 5 saß, mußte man natürlich streben, daß man immer weiter vor kam. Monatlich einmal wurde dann gesagt, wer wieder wohin kommt. In ganz schweren Fällen wurde das gleich an einem Tag geregelt. Ich meine, wir waren Jungs damals, also was soll's?" Die Alltagsstrukturen waren bis in den Speisesaal des Heimes hinein nach "Wertigkeit" geordnet. Die Gewöhnung an die Relation "besser/schlechter" verhinderte solidarische und freundschaftliche Beziehungen und entsprach der Aufrechterhaltung der Rangordnung und der Auslesemechanismen, die während des Nationalsozialismus auf allen Ebenen vorherrschend waren.
2. Erbbiologische Selektion der Fürsorgezöglinge durch die Psychiater beim Jugendamt Hamburg während der NS-Zeit
Wirtschaftliche und sozialpolitische Hintergründe
Anfang 1932 waren reichsweit insgesamt 6,12 Mio. Menschen arbeitslos, bis Ende 1932 waren es in Hamburg 30 % der lohnabhängigen Bevölkerung. Aus den reichszentralen sozialen Sicherungen waren 150.000 Hamburger (Arbeiter und Familienangehörige herausgefallen. Zuletzt wurden 30% des Hamburger Staatshaushaltes an 85% knapp der 170.000 Arbeitssuchenden und ihre Familien als kommunale Unterstützt gezahlt (Roth 1984, S. 8). Auf der Ebene der Sozialpolitik setzte sich ein System "differenzierter", d.h. "wertender" Fürsorge durch. Zum Kriterium wurde die "Nützlichkeit für das Volksganze: die bestimmt war durch die Arbeitsfähigkeit, die Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Aus dem Versuch, die Armut zu beseitigen, wurde ein Kampf gegen die Armen. Die nationalsozialistische Ideologie, die sozialdarwinistische Weltanschauung, Rassenlehre, Führerprinzip und die Idee des "Opfers für Volksgemeinschaft" beinhaltet, bot die Legitimation. Diese Prinzipien erhielten ebenfalls Gültigkeit für den Bereich der Jugendhilfe, 1939 schrieb Paul Prellwitz, der damalige Direktor des Landesjugendamtes Hamburg, Hinblick auf das "Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit" für jedes Kind, wie es im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von l922 enthalten war:
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"Hier wird ein absolutes Recht jedes Kindes auf Erziehung betont. Ein solches ist aber mit der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht vereinbar; vielmehr kann jedem Volksgenossen nur so viel an Rechten zugestanden werden, wie er Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft zu erfüllen bereit oder fähig ist. Daher muß auch in der Jugendhilfe das Recht der Gemeinschaft überall im Vordergrund stehen. Es ist also selbstverständlich, daß das Jugendamt seine Sorge vorzüglich jenen Kindern und Jugendlichen zuzuwenden hat, an denen die Volksgemeinschaft besonders interessiert ist. Andrerseits ist es bemüht, Gefahren von der Gemeinschaft abzuhalten, welche durch die Verwahrlosung eines besonders gefährdeten Teils der Jugend drohen. Die Erziehungsarbeit muß da aufhören, wo das Recht der Gemeinschaft auf den Schutz vor einem Schädling durch seine Bewahrung beginnt" (Prellwitz 1939, S. 114). Der "sparsamen Verwahrung" von Kindern waren Tür und Tor geöffnet, auch der Weg zur sogenannten "Kinder-Euthanasie" war nicht mehr weit.
Die Rolle des Psychiaters beim Jugendamt
Eine Aufnahme- und Beobachtungsstation für neue oder zurückgekehrte Zöglinge gab es bereits zur Zeit der Errichtung eines Verwaltungsgebäudes für das Waisenhaus in der Averhoffstraße im Jahr 1908. Die Aufnahmestation diente in erster Linie zur Verhütung der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten, aber auch der Beobachtung in charakterlicher Hinsicht zur Klärung der Frage nach der weiteren Unterbringung (Pflegestelle, Heim, Art des Heimes etc.). Die Leitung der Beobachtungsstation und weitere Funktionen - Beratung der Mitarbeiter der Jugendbehörde und ihrer Erziehungseinrichtungen in Fragen "psychischer Hygiene" einschließlich heilpädagogischer Fragen - übernahm Dr. Villinger, als 1926 die erste Psychiater-Stelle beim Jugendamt eingerichtet wurde. Auch die "Aussonderung praktisch Unerziehbarer" betrachtete Dr. Villinger bereits in den 20er Jahren als seine Aufgabe als Psychiater (Villinger 1928, S. 318, 322). In Publikationen zum Thema "Grenzen der Erziehbarkeit" von 1927 und 1929 befaßte er sich mit den "biologischen Grundlagen der Persönlichkeit", erinnerte an die "Mächte der Vererbung" und befürwortete schon zu diesem Zeitpunkt auch eugenische Maßnahmen (Villinger 1929, S. 250). Mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" - am 14.7.1933 erlassen - erhielten er und seine Kollegen dann die vielfach erwünschte rechtliche Grundlage, für die Sterilisation von Kindern und Erwachsenen zu sorgen.
Die sechs Kategorien des Dr. Lottig
Nachdem Dr. Villinger 1934 die Leitung der Betheler Anstalten übernommen hatte, war sein Nachfolger in Hamburg, Dr. Lottig, als Gutachter in der Fragestellung gefordert, ob die "Waisenhauskinder" es wert seien, auf das parkähnliche Gelände der ehemaligen Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, einer großen psychiatrischen Anstalt, überzusiedeln. Nach dem sogenannten "Friedrichsberg-Langenhorner Plan" waren Hunderte von Psychiatriepatienten, für die das relativ zentral gelegene Gelände als "zu schade" befunden worden war, in billigere, zum Teil auswärtige Anstalten abgeschoben worden. In seiner Stellungnahme vom 29.6.1934 bejaht Dr. Lottig, daß ein Teil der Waisenhauszöglinge "soviel Wert für das Volksganze" enthalte oder erwarten lasse, "daß eine
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Unterbringung in einer guten Anstalt mit entsprechenden Gartenanlagen verantwortet werden kann" (Staatsarchiv Hamburg, Jugendbehörde I 323). Die "Minderwertigen" waren bereits und wurden weiterhin aussortiert. So heißt es in demselben Schreiben: "Die gesamte Erziehungsarbeit in den Anstalten des Jugendamtes ist eingestellt auf die Erreichung einer möglichst weitgehenden Berufsfähigkeit und Berufseingliederung der Zöglinge. Zöglinge, die sich in diesem Sinne als bildungsunfähig erweisen, werden sofort als Bewahrfälle in eine Bewahranstalt überwiesen, also aus dem Erziehungsprozeß ausgeschieden." Doch auch die 480 Kinder und Jugendlichen, die im Laufe des Jahres 1935 auf das Friedrichsberger Gelände übersiedelten, fanden dort keine dauerhafte Bleibe. Der Reichsstatthalter Karl Kaufmann zeigte sich mit der Belegung des Geländes unzufrieden und drängte zu anderweitiger Nutzung; ein "Krankenhaus für Leichtkranke" stand zur Diskussion. So begannen bereits 1936 wiederum Planungen für eine neuerliche Verlegung der Fürsorgezöglinge, es entstanden Bauzeichnungen für einen "Waisenhaus"-Neubau, da der alte Waisenhauskomplex um die Averhoffstraße als Altenpflegeheim gebraucht wurde. In Zusammenhang mit diesen neuen Verlegungsplänen stand ein Gutachten von Dr. Lottig vom Oktober 1936, das 366 Kinder betraf. Zur Beurteilung hatte er verschiedene Akten und weitere Unterlagen herangezogen, von der Sippentafel bis zu Erziehungs- und Schulberichten. Die Zöglinge wurden dann vom Gutachter nach ihrem "biologischen Wert" in folgende sechs Gruppen eingeteilt: "I. Wertvolle geistige und charakterliche Qualität II. Ausreichende geistige und charakterliche Qualität, aber ohne überdurchschnittliche Werte III. Leichte geistige oder charakterliche Unterwertigkeit IV. Mittlere geistige oder charakterliche Unterwertigkeit V. Starke geistige oder charakterliche Unterwertigkeit VI. Nicht erziehungsfähig" (StAHH Jugendbehörde I 323) Dr. Lottig kam zu dem Ergebnis, daß nur 163 Kinder (44,5%) der "Wertigkeit I oder II" zuzurechnen seien. Die Kriterien, die Lottig entwickelt hat, galten als vorbildlich. So interessierte sich der "Allgemeine Fürsorgeerziehungstag e. V." für die Aufteilung der Zöglinge nach "Wertigkeitsgruppen" auf Hamburgische Art, wie aus einem Schreiben aus dem Jahr 1938 hervorgeht (StAHH, ebd.). Das Gutachten von Dr. Lottig war von einem weiteren Gutachten der Gesundheitsbehörde noch übertroffen worden. Schließlich galt es, die Räumung des Friedrichsberger Geländes irgendwie zu rechtfertigen, die der Reichsstatthalter für den 1. Dezember 1938 anordnete, ein Zeitpunkt, zu dem selbst sog. "Ersatzbauten" noch nicht fertiggestellt waren, geschweige denn ein neues "Waisenhaus". Im Wege standen "die durch die Reichsverteidigungsmaßnahmen entstandenen Baustoff- und Arbeiterschwierigkeiten" (StAHH Sozialbehörde I GF 21.40 Bd. 4); die Aufrüstung hatte Vorrang. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen wurde in der Zeit vom Dezember 1938 bis April 1939 aufgeteilt auf die Jugendheime Volksdorf, Reinbek und Niendorf. Die Gebäude des ehemaligen "Waisenhauses" um die Averhoffstraße, auch das Verwaltungsgebäude, wurden im Juli 1943 bei Luftangriffen nahezu total zerstört.
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Unterbringung in auswärtigen Pflegestellen und Anstalten
"Der Führer sagt: Ihr müßt lernen, hart zu sein, Entbehrungen auf euch zu nehmen, ohne jemals zusammenzubrechen."
Dieses Zitat stammt aus Unterlagen über die Zeremonien anläßlich des traditionellen "Waisengrüns", das 1944 als Sportfest abgehalten wurde (Archiv des Amtes für Jugend Hamburg). Die Namen der Sieger bei den Wettkämpfen sind erhalten. Viel schwieriger ist es, den Weg der als "unterwertig" oder als "nicht erziehungsfähig" bezeichneten Kinder zu verfolgen. Viele Spuren führen über Hamburg hinaus: Die Reiseinspektoren kämpften um jede neuerworbene Pflegestelle auch außerhalb Hamburgs und waren dabei nicht wählerisch. So berichtete eine Frau, daß sie 1937 mit 11 Jahren nach einem wechselvollen Leben vom "Waisenhaus" aus zu einer Pflegemutter kam, die als "schizophren" diagnostiziert und zwangssterilisiert worden war und bei ihrem Vater lebte. In diesem Fall entwickelte sich eine solidarische Beziehung zwischen Pflegemutter und -tochter. Fast 800 Zöglinge waren 1938 in auswärtigen Anstalten bei einem Durchschnittspflegegeld von 1,98 RM pro Tag untergebracht, vor allem in Anstalten der Inneren Mission. (Die Heime des Landesjugendamtes wirtschafteten zu dieser Zeit mit einem Tagessatz von 3 RM.) Die Verlegung der Kinder in zum Teil weit entfernte Anstalten stieß nicht selten auf den Widerstand der Eltern. In solchen Fällen hatten andere Kinder - vor allem Hilfsschüler -, die keine Angehörigen hatten, die sich für ihren Verbleib einsetzten, ihren Platz in einem Hamburger Heim freizumachen. Einem Verzeichnis von Anstalten, die 1937/38 auch mit "Zöglingen" des Hamburger Jugendamtes belegt waren, ist zu entnehmen, daß sich 11 schulpflichtige Kinder z. B. in "Hephata" bei Treysa befanden (StAHH Jugendbehörde I 375). Aus der Anstalt Hephata waren bereits im Juli 1936 erstmals Fürsorgezöglinge abtransportiert worden. 1937 nahmen die Transporte größere Ausmaße an (Klee 1985, S. 66). Auch hier wurden die Leistungstüchtigen behalten, der "Bruch" abgeschoben (ebd., S. 74). Die kirchlichen Anstalten waren nicht gefeit, "ihre Patienten wie umsatzbringende Waren anzusehen" (ebd., S. 72). Es ist anzunehmen, daß auf diesen Wegen auch Kinder, die der Aufsicht des Hamburger Jugendamtes unterstanden, in die berüchtigten Tötungsanstalten, wie z. B. Hadamar, geraten sind. Welches Leben ein behindertes Mädchen aus den Alsterdorfer Anstalten nach ihrer Deportation in den "Steinhof" bei Wien erwartete, zeigt eindrücklich der Brief eines dieser Mädchen, der an ihre frühere Pflegerin gerichtet war. "Ich kann Dir nicht alles erzählen", schrieb sie, "sonst wirst Du auch schlecht" (Wunder 1987, S. 223 f.). Dieses Mädchen - genannt "Fritzi" - starb kurz nach Kriegsende an den Folgen von Unterernährung.
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3. Maßnahmen für die "erbwertige", aber gefährdete Jugend während der NS-Zeit
Der Nationalsozialismus war nicht allein die Zeit der Verfolgung von Juden und "Randständigen", die Zeit der Zwangsarbeit und der Vernichtungslager, es gab zu gleich eine "andere Welt", in der auch "moderne" soziale Einrichtungen für die "Wertvollen" existierten und gefordert wurden: so die Psychotherapie und von Psychologen unterstützte Erziehungsberatung. Der Begriff der "Heilerziehung" war ebenfalls während des Nationalsozialismus nicht verschwunden. Teilweise wurde er durch "Sondererziehung" ersetzt (z.B. Tornow 1943), in diesem Sinne - des Aussonderns -jedoch vielfach pervertiert. Als Beispiel psychotherapeutischer Maßnahmen für Kinder sollen hier die "Tiefenpsychologischen Heime" stehen.
Tiefenpsychologische Heime
Welche Kinder wurden nun in eines der drei Tiefenpsychologischen Heime aufgenommen, die um 1940 je 10-20 Plätze boten (in Beuren/Württemberg, Schwaler berg/Lippe und Berlin)? Adolf Weizsäcker, Referent für Heilerziehung am Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin, beschrieb die "optimale Indikation folgendermaßen: "Schwerere Neurosen - Jüngere Kinder - Sensiblere und Introvertierte Typen - Kultiviertes oder differenziertes Familienleben" (Weizsäcker 1941 S. 276). Tiefenpsychologie beschränke sich auf die Behandlung von Neurosen, "d.h. von seelischen Entwicklungsstörungen erbgesunder Menschen, die durch besonders ungünstige Erziehungs- und Umwelteinflüsse entstanden sind" (ebd., S. 257). Die Familie gilt als die "biologische Schicksalseinheit" (ebd., S. 261) der Neurose, die also wesentlich eine "Familienkrankheit" ist (ebd., S. 268). "Somatisch-erbpathologhische Fälle" sind wesentliches Arbeitsgebiet der "Heilerziehungsheime", "hier sind die Tiefenpsychologischen Heime von vornherein nicht zuständig" (ebd., S. 278). In den Tiefenpsychologischen Heimen gab es Raum für Spieltherapie, die seit 1920 entwickelte Grundform der Kinder-Psychotherapie. Auch bei der "Bildungstherapie (kreative Tätigkeiten wie Malen, Basteln etc.) liegt die Betonung "mehr auf dem Spiel und auf dem unbewußten Seelenausdruck als auf dem Werk als einer geforderten und geformten Leistung" (ebd., S. 264). Lohmann und Rosenkötter berichteten vom Beispiel der 17jährigen, seelisch gestörten Tochter eines gefallenen Offiziers, die auf Veranlassung Himmlers von M. H. Göring dem Leiter des o. g. Instituts, untersucht worden war und u. a. im psychotherapeutischen Kinderheim in Beuren auf Kosten der SS behandelt wurde (Lohmann/Rosenkötter 1982, S. 981). Anzumerken ist andererseits, daß Adolf Weizsäcker auch für anthroposophische Heime verantwortlich war, wo es Ärzte gab, die die Ermordung von Heimkindern nicht billigten. Weizsäcker soll auch Kontakt zum "Kreisauer Kreis" gehabt haben (Loch 1985, S. 339).
Erziehungsberatungsstellen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV)
Die NSV verstand sich als "Trägerin wichtiger Aufgaben der Menschenführung, der
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Pflege der Steigerung der Leistungsfähigkeit des erbwertigen, besonders jugendlichen Menschen" (Bröder 1943, S. 325). Erziehungsberatungsstellen sollten ein Instrument darstellen "zur verfeinerten Erfassung der Schäden, besonders der Frühschäden aller förderungswürdigen, aber gefährdeten Jugend" (ebd., S. 326). Es sollte vorbeugende Arbeit geleistet werden in "wertvollen Familien", die aus eigenem Antrieb die Beratungsstellen aufsuchten. Geuter zufolge 1940 die erste Psychologin bei der NSV für Erziehungsberatung eingestellt (Geuter 1984, S. 406). Der Einsatz der Psychologie im Erziehungssektor zu dieser Zeit stand mit den massiven neuen Problemen in Zusammenhang, die der Krieg mit sich brachte. Auch die "Kriegsproduktion" führte zu Veränderungen für die arbeitende Bevölkerung; so wurden Frauen verstärkt zur Produktion herangezogen. Psychologie stand im Dienste der Mobilisierung von Leistungsreserven.
4. Weichenstellung für die heutigen psychosozialen Einrichtungen
Dr. Villinger, dessen Tätigkeiten während der NS-Zeit als Beisitzer beim Erbgesundheitsgericht Hamm, als T 4- (d. h. "Euthanasie"-)Gutachter usw., ein eigenes Kapitel darstellen könnten, setzte sich nach Kriegsende u. a. für die Errichtung von ambulanten Beratungsstellen nach Art der "child-guidance-clinics" ein, über die er sich in England informiert hatte (Villinger 1949). Sie arbeiteten mit einem Team aus Psychiater, Psychologen und Fürsorgerin und hatten "vorbeugende Fürsorge" zum Leitmotiv. Die USA unterstützten Erziehungsstellen im Rahmen ihres Umerziehungsprogramms auch finanziell (s. Euer 1984, S. 14). Nach Bewältigung der schlimmsten Nachkriegs-Notlagen nahm die Tendenz zu, Probleme aus ihrem gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhang zu lösen, sie als Probleme des Individuums zu "behandeln", sie zu "objektivieren" (Tests) und zu psychotherapieren. Dabei wurden immer mehr und immer speziellere Einrichtungen für verschiedene Gruppen geschaffen. Gleichzeitig nahm der Grad der Arbeitsteilung zu, neue Berufsgruppen wie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Diplompädagogen etc. entstanden. Seit etwa 1980 zeichnet sich eine Gegenbewegung ab, die mit dem Stichwort "Integration" umschrieben wird (s. Möckel 1988, S. 239).
5. Deutsche Industrie-Norm (DIN) und soziales Netz - heute
Bemühungen um die Integration von Behinderten, psychisch Kranken und anderen Gruppen sind allerdings enge Grenzen gesetzt in einer Zeit, die wiederum gerade durch wachsende Polarisierung in der gesamten Gesellschaft gekennzeichnet ist. Die Pole sind Reichtum und Armut, aber auch extreme Leistungsanforderung, wachsende Belastung auf der einen, Erfahrung von Sinnlosigkeit, Sich-überflüssig-Fühlen, von Zukunftsängsten und Angewiesensein auf das "soziale Netz" auf der anderen Seite. Diese Situation fördert Zweifel an den Normen dieser Industriegesellschaft, die den möglichst "perfekten" Menschen anstrebt bzw. ihn zu ersetzen trachtet. Gleichzeitig bleibt in der Arbeitsgesellschaft unentwickelt, was jenseits von Leistung, Nützlichkeit und Konsum möglich ist. Was Herr H. mit den Tischen im Speisesaal des Heimes so konkret beschreibt, das Streben, "nach vorne zu kommen", "besser" zu werden, um es "besser" zu haben, ist
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auch heute ein verbreitetes und vielfach als selbstverständlich akzeptiertes Muster. Es erinnert an das Kindergeburtstagsspiel - auch die "Reise nach Jerusalem" genannt -, bei dem immer ein Stuhl zuwenig vorhanden ist und einer "ausscheiden" muß, weil er keinen Platz mehr findet, wenn die Musik aussetzt. Am Ende bleibt nur einer übrig, der sogenannte "Sieger". Dabei haben wir genug Stühle - in diesem Land jedenfalls -, und wir sollten uns an anderen Spielregeln orientieren: statt Fortschritts- und Aufstiegsideologie, die mit Konkurrenz und Aussonderung verbunden ist, die Gemeinsamkeit und Gleichwertigkeit der Verschiedenen zulassen und sichern.
Literatur
Bröder, P.: Arbeiten zur Entwicklungspsychologie und Jugendhilfe (1. Mitteilung). In: Zeitschrift für Kinderforschung, Bd. 49, 1943 Buer, F.: Die Geschichte der Erziehungsberatung als Geschichte ihrer Professionalisierung. In: Zygowski, H. (Hg.): Erziehungsberatung in der Krise, Tübingen 1984 Geuter, U.: Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt 1984 Klee, E.: "Euthanasie" im NS-Staat, Frankfurt 1985 Lockot, R.: Erinnern und Durcharbeiten, Frankfurt 1985 Lohmann, H.-M./Rosenkötter, L.: Psychoanalyse in Hitlerdeutschland. In: Psyche, 11/1982, 36. Jg. Möckel, A.: Geschichte der Heilpädagogik, Stuttgart 1988 Prellwitz, P.: Öffentliche Jugendhilfe in Hamburg. In: Hamburg im Dritten Reich - Die Sozialverwaltung (Heft 10), hg. vom Hauptverwaltungsamt, Hamburg 1939 Roth, K. H.: Ein Mustergau gegen die Armen, Leistungsschwachen und "Gemeinschaftsunfähigen". In: Ebbinghaus, A./Kaupen-Haas, H./Roth, K.H. (Hg.): Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, Hamburg 1984 Tornow, K.: Völkische Sonderpädagogik und Kinderpsychiatrie. In: Zeitschrift für Kinderforschung, 49. Bd., 1943 Villinger, W.: Die Grenzen der Erziehbarkeit. In: Frede, L./Grünhut, M.: Reform des Strafvollzugs, Berlin und Leipzig 1927 Ders.: Fürsorge für psychisch abnorme Kinder und Jugendliche. In: Gesundheitsbehördc Hamburg (Hg.): Hygiene und soziale Hygiene in Hamburg, 1928 Ders.: Die Grenzen der Erziehbarkeit und ihre Erweiterung. In: Lensch, E. (Hg.): Bericht über den Vierten Kongreß für Heilpädagogik in Leipzig, Berlin 1929 Ders.: "Child Guidance Clinics". In: Unsere Jugend, 5/1949 Weizsäcker, A.: Die tiefenpsychologische Behandlung von Kinderneurosen und ihr Verhältnis zur Heilerziehung, In: Zeitschrift für Kindcrforschung, 49. Bd., 1943
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Wunder, M./Genkel, L. /Jenner, H.: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987 Weitere Quellen Staatsarchiv Hamburg: Jugendbehörde I 323, 375, 552; Sozialbehörde I GF 21.40; Innere Verwaltung A IV 21 Archiv des Amtes für Jugend, Hamburg 'Traum vom Überleben". In: Ney, N.: Tumult & Träume, Fellbach 1986
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