Nahezu wehmütig hing der Blick aus Logans braungrünen Augen für einige Minuten an den vier hohen Türmen des Schlosses, in dem die wohl bekannteste Zaubererschule der Welt beheimatet war. Er hatte seine Schulzeit vom ersten Tag an genossen, hatte begierig das Wissen, das die Lehrer geduldig vermittelten, aufgesaugt wie ein Schwamm und er hatte sich wohl und heimisch gefühlt. Natürlich war Hogwarts für ihn nicht in der Form ein Zuhause, wie es die Familienvilla in den schottischen Highlands war, doch seit nun fast sieben Jahren verbrachte er doch einen Großteil seiner Zeit hier, wenn man einmal absah von den Ferien, in denen er stets gerne dorthin zurückgekehrt war, wo seine Wiege gestanden hatte. Er hatte bislang ein perfektes Bilderbuchleben gehabt, das wusste er. Er war klug, war beliebt und wahrscheinlich sogar gut aussehend. Ausserdem verlieh sein familiärer Hintergrund ihm eine Ausgangssituation für die eigene berufliche Zukunft, die vielen seiner Mitschüler vergönnt blieb. Cormag hatte das Familienunternehmen stets mit wohlüberlegter und oft strenger als nötiger Hand geführt und infolgedessen florierte es prächtig. Worüber wollte er sich beschweren? Warum wurde sein Herz auf einmal schwer, wenn er hinauf zum Schloss blickte und aus dem Augenwinkel sah, wie sein blau-bronzener Schal im sanften Wind wehte und immer wieder gegen Nells schwarzen Umhang schlug?
Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Logan in diesen Tagen das ungute Gefühl hatte, dass sein ganzes Leben sich schlagartig veränderte. Nun, er war nicht jemand, der Veränderungen grundsätzlich ablehnte, aber jene Veränderungen, die er im Moment wahrnahm, schienen sich keineswegs positiv auf sein Leben auszuwirken. Und hatte nicht alles damit angefangen, dass er erfahren hatte, dass seine Familienverhältnisse eine einzige große Lüge waren? Die Person, von der er stets gedacht hatte, sie sei seine Schwester, diese junge, warmherzige Frau sollte nun seine Mutter sein. Noch immer hatte der brünette Ravenclaw diese Tatsache nicht als eine solche akzeptieren können, aber dennoch wusste er irgendwo in seinem Hinterkopf doch immer, dass es so war. Sein ganzes Leben war eine Lüge, wenn man so wollte. Jeder, der behauptete, dass sein Vater ein reicher Umhangfabrikant war, log. Es stimmte nicht, es war nicht wahr, dass er reiche Eltern hatte, denn Logan hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wer sein wirklicher Vater war. Irgendjemand, der mit seiner Mutter Meaghan zur Schule gegangen war, jemand, der ihm diese strubbeligen braunen Haare vererbt hatte, die der glatten Mähne seiner Mutter doch so gar nicht ähneln wollten. Logan hatte nicht den Hauch einer Ahnung, ob er überhaupt wissen wollte, wer sein leiblicher Vater war. Wahrscheinlich würde die Wahrheit ihn doch nur enttäuschen.
Natürlich hatte all dies auch rein gar nichts mit Nell zu tun, die in diesen Momenten an seiner Seite stand und anscheinend noch immer nichts besseres zu tun hatte, als ihn anzukeifen. Klar, für sie war er, teils basierend auf seiner Lebenslüge, das erklärte Feindbild, das war ihm nicht entgangen – wie auch? Aber dass sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie sein Leben wirklich aussah, das würde sie wohl nie begreifen. Vielleicht war es auch besser so, dachte Logan mit einem leisen Seufzen bei sich. Denn wer wusste schon, was das impulsive Mädchen aus diesen Informationen machen würde? Zweifellos würde sie sie, auf welchem Wege auch immer, gegen ihn verwenden, so viel stand mittlerweile zweifelsfrei fest.
„Das tut mir wirklich Leid. Aber falls ich dich beruhigen kann, es wird sicherlich nie wieder vorkommen!“ erklärte die Gryffindor in diesem Moment beherzt und angesichts ihrer erstaunlich ehrlich gemeinten Worte schlich sich ein versöhnliches Lächeln auf Logans markantes Gesicht, während er die finsteren Gedanken beiseite schob. Es war seltsam, diese Aufrichtigkeit in der rauen Stimme des Mädchens zu vernehmen, doch in dieser Seltsamkeit empfand er dies auf eine ungekannte Art als durchaus angenehm. Die Tatsache, dass sie sich tatsächlich entschuldigt hatte, faszinierte den Munroe-Spross, obwohl er es eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hatte, dass irgendetwas, was diese Frau tat, ihn noch hätte sprachlos machen können. Er war an einem Punkt angekommen, an dem er ihr zweifellos alles zugetraut hätte, doch selbst wenn er vom Schlimmsten ausging, schaffte sie es augenscheinlich noch, ihn zu überraschen. Für einen Moment hielt er inne, bevor er zum Sprechen ansetzte, und dachte darüber nach, was er von dieser undurchsichtigen Cornelia Hathaway halten sollte.
Sie war ruppig, sie war laut, sie war schlecht erzogen.
All diese Gedanken hatten ihn die ganze letzte Nacht und auch über den soeben erst angebrochenen Morgen begleitet. Doch er wusste, dass sie mehr war als das. Er hatte es gespürt, in kleinen Momenten, die vielleicht kaum erwähnenswert waren. Er hatte es gemerkt an der Verzweiflung, die aus ihren blauen Augen gesprochen hatte, als sie das gestrige Chaos in der Bibliothek verschuldet hatte und er hatte es gemerkt an der Art, wie sie ehrlich über seine Witze hatte lachen können, obwohl sie es wahrscheinlich nicht gewollt hatte. Und nun, an ihrer seltsam wahren Entschuldigung, hatte er es wieder merken können. Diese Erkenntnis war so simpel und banal und doch so überraschend, dass er sie laut aussprechen musste, um sie tatsächlich zu glauben.
„Du bist gar nicht so hart wie du tust, was?“ Es klang in der Tat eher nach einer Feststellung als nach einer Frage, aber dennoch legte Logan den Kopf leicht schief und musterte Nell eindringlich, als würde er auf eine Antwort warten, vielleicht auch nur auf Zustimmung. Sekunden später schüttelte er den Kopf und lächelte milde „Wie knackt man dich bloß, Nell Hathaway?“ seufzte er und war sich der Tatsache kaum bewusst, dass er soeben implizit den Wunsch geäußert hatte, zu ihrem Inneren vorzudringen und ihre raue Schale hinter sich zu lassen.
„Und ich weiß nicht, ob du mir überhaupt zuhörst! Ich hab dir doch gerade schon gesagt, dass das sicherlich nicht noch mal vorkommen wird. Da kannst du aber Gift drauf nehmen. Ich weiß ja nicht, was du dir so vorstellst, aber ich fand es auch nicht gerade angenehm, einen Langweiler wie dich zu küssen!“ Die Ruhe vor dem Sturm, mehr war dieser trügerische Friede also wieder nicht gewesen. Logan hätte es wissen müssen und ja, wahrscheinlich hatte er es sogar tatsächlich gewusst. Aber warum war er in letzter Zeit so irrational, warum verhielt er sich so absolut dämlich und reagierte nicht auf die Zeichen, die er doch lesen konnte? Warum hatte er das leidige Kuss-Thema nicht längst beigelegt, obwohl er wusste, dass weitere Diskussionen zwischen ihnen beiden zu nichts führen würden? Er hatte doch der Klügere sein wollen, auch, wenn er sich diese Rolle momentan selbst kaum zutraute.
„Es ist okay, Nell.“ Die warme Stimme des Ravenclaws war klar, weich und beherrscht. Nur wer wirklich aufpasste konnte feststellen, dass die Bezeichnung Langweiler ihn durchaus gestört hatte. War er tatsächlich das? Ein öder Spießer? Schnaubend schüttelte er den Kopf und fuhr sich durch das braune Haar, er wusste doch, dass es anders war. Nur weil dieses Mädchen seine Gesellschaft als nicht besonders erquickend empfand, war das doch keinerlei Indiz dafür, dass es anderen auch so ging.
„Langweiler, hm? Als nächstes erklärst du mir wahrscheinlich, dass du einfach mal wissen wolltest, wie es sich anfühlt einen ‚Langweiler wie mich’ zu küssen, was?“ Logan klang nun zwar etwas wütender, doch er hatte sich besser im Griff als zuvor. Einen weiteren wütenden Ausbruch würde Nell nicht von ihm erleben, soviel stand fest. Er durfte diesem biestigen Mädchen einfach nicht so viel Macht über sich geben. Tief atmete er aus und ein, bis er seine Beherrschung vollends wiedererlangt hatte, während er es dabei tunlichst vermied, Nell direkt anzusehen. Allein der Blick aus ihren eisblauen Augen war unberechenbar und ebenso war es auch seine Wirkung auf ihn selbst.
„Außerdem, hörst du dich eigentlich reden? Du klingst schon wie mein Va…“
Nell brach mitten im Satz ab, was so gar nicht zu ihr passen wollte, wie Logan fand. Sie führte ihre Schimpftiraden doch sonst stets zu Ende und zierte diese dann mit einem abschließenden triumphierenden oder sturen Blick, der deren Wirkung noch unterstreichen sollte. Komisch, so dachte er bei sich, dass ihm dies so genau aufgefallen war. Nun jedoch war sie mitten im Wort ‚Vater’ ins Stocken gekommen, eine kleine aber wesentliche Tatsache, die Logan hellhörig werden ließ. Er kannte ihre Familienverhältnisse nicht und er wollte sich anhand dieses kleinen Informationsfetzens nicht anmaßen, sie durchschauen zu können, doch es war nun davon auszugehen, dass irgendetwas zwischen Nell und ihrem Vater nicht stimmte. Vielleicht hatte er sie oft zu Recht gewiesen, weswegen sie jetzt so allergisch auf kleinste Belehrungen reagierte. Vielleicht war es aber auch ganz anders. Kurz tauchte wieder der Gedanke an seinen eigenen Vater auf, über dessen Identität er nichts wusste. Auch, wenn Nell einen strengen Vater hatte, wie Logan vermutete, so war dies doch wahrscheinlich noch besser, als nicht zu wissen, wer der eigene Vater war, oder?
„Dein Vater?“ Die Worte hatten Logans fein geschwungenen Mund verlassen, bevor er wirklich über sie nachgedacht hatte. Noch so eine Sache, die ihm nur in Nells Gegenwart passierte. Halbwegs zufrieden stellte er jedoch fest, dass seine Frage leise und freundlich klang, nicht etwa forschend und neugierig. Fast liebevoll hatte seine Stimme sich aus seinem Mund geschlichen, wie er mit einem leicht verunsicherten Griff an seinen Adamsapfel feststellte.
Natürlich musste sie nicht mit ihm reden, wahrscheinlich würde sie es auch nicht tun, doch er würde ihr die Möglichkeit dazu geben, wenn sie es wollte. Denn manchmal fiel es einem vielleicht leichter, derartige Problematiken mit Menschen zu besprechen, die einem nicht nahe standen und die einen nicht gut kannten. Aber besprach man derartiges mit Leuten, die man nicht leiden konnte?
„Dann hör verdammt noch mal auf, nett zu mir zu sein! ich hab dir schon mal gesagt, dass ich nicht behandelt werden möchte wie ein zerbrechliches Püppchen! Warum also bist du überhaupt noch nett zu mir, wo du doch schon selbst gemerkt hast, dass es dir nicht das Geringste bringt!? Lass es einfach sein, okay?!“
„Du hast es immer noch nicht ganz verstanden, oder?“ Logans Frage bildete einen deutlichen Kontrast zu den von Nell über die weiten Wiesen gebrüllten Worten, deren Lautstärke ihm in den Ohren wehgetan hatte. Nun, wenn sie der Ansicht war, dass ihre Aussicht darauf, Recht zu haben, größer war, wenn sie nur laut genug schrie, dann sollte sie dies glauben, doch Logan selbst konnte über ihre fast schon stoische Sturheit nur den Kopf schütteln.
„Wir zwei sind verschieden, Nell, ich denke, dass dir das nicht entgangen ist“ erklärte er ruhig aber schneidend und suchte nun wieder ihren Blick. „Auch, wenn es dich stört, so liegt es doch einfach in meiner Art, nett zu sein. Ich will mich nicht als großer Wohltäter aufspielen, das bin ich bestimmt nicht, aber ich habe eben gelernt, anderen gegenüber freundlich und hilfsbereit zu sein. Wenn du das nicht magst, dann ist das, so leid es mir auch tut, schlicht und einfach dein Problem.“ Fast bedauernd aber nichtsdestotrotz sehr bestimmt schaute er ihr direkt in die tiefliegenden blaugrauen Augen. „Du würdest dich doch für mich auch nicht ändern“ schloss er seine Ausführungen mit leiser Stimme und kam nicht umhin, diese Worte mit einem verhaltenen Augenzwinkern zu begleiten. Sie würde immer ein stures Miststück bleiben, das seine wahren Gefühle hinter einer Maske aus Zickigkeit verbarg und er würde immer der wohlerzogene Junge aus gutem Hause sein. So sehr er derartiges Rollendenken auch hasste, so wusste der Ravenclaw doch, dass es auf Jahre so bleiben würde.
Schneller, als es ihm möglich war, sein eigenes Handeln nachzuvollziehen, schlossen Logans große Hände sich um Nells Gesicht, um das brünette Mädchen so näher zu sich ziehen zu können. Warum wollte er sie denn überhaupt zu sich ziehen? Er mochte sie doch gar nicht. Ja, es war der kindische Wunsch gewesen, ihr ihr eigenes Verhalten vor Augen zu führen. Doch in dem Moment, in dem ihre Lippen sich trafen, wurde ihm plötzlich bewusst, dass diese Idee ihm gründlich misslungen war. Der Plan hatte nicht vorgesehen, dass sein Herz so schnell schlagen würde. Und der Plan hatte doch auch nicht vorgesehen, dass sie seinen Kuss mit derselben komischen Mischung aus Zärtlichkeit und Wut erwidern würde, oder? Warum musste dieses unmögliche Mädchen immer das tun, was man nicht von ihr erwartete? Logan hasste es, wenn ein Plan misslang und dennoch breitete sich in seinem Inneren ein komisch warmes Glücksgefühl aus, dem es gelang, die Kälte des jungen Morgens einfach auszusperren, während sie sich immer intensiver und leidenschaftlicher küssten. Fest und fast aggressiv zog Logan den schmalen Körper des Mädchens an seine breite Brust, es gab nur sie beide, ihn und Nell. Dieses ulkige Paar, das unterschiedlicher kaum hätte sein können. Und so seltsam dieser Gedanke auch anmuten mochte, so hätte Logan sich in diesem absurden Moment nichts Schöneres vorstellen können als genau hier auf der vom Tau nassen Wiese zu stehen und Nell zu küssen, jenes Mädchen, das ihn doch immer wieder in den Wahnsinn zu treiben drohte.
Urplötzlich jedoch machte sie sich von ihm los und stieß ihn von sich, wobei sie jedoch eher sich selbst nur von ihm abstieß, da es ihr kaum gelang, seine muskulöse Brust zu bewegen. Hätte er besser aufgepasst, wäre es ihr auch nicht gelungen, seine starken Arme von ihrem zierlichen Körper zu lösen, doch die Intensität des Kusses hatte ihn temporär schwach werden lassen.
“Was zur Hölle sollte das denn werden? Ich dachte, du wolltest nicht, dass so was noch mal passiert?! Bist du denn jetzt total bescheuert?“ schrie Nell entgeistert und bemühte sich, ihr dunkles Haar zu ordnen, um so vielleicht den Anschein zu erwecken, dass gar nichts passiert war. Es gelang ihr nicht, kein bisschen. Ihre geweiteten Augen und ihre geröteten Lippen verrieten sie nur zu deutlich und erzählten bereitwillig die Geschichte eines völlig überraschend ledienschaftlichen Kusses.
„Ach, jetzt bin ich es, ja?“ Schwankend zwischen Erheiterung und Zorn lachte Logan kurz auf. „Oh Nell, du bist so selbstgerecht. Vielleicht hatte ich ja einfach Lust, dich zu küssen, hm? Einfach so, ist ja nichts dabei.“ Der nachäffende Sarkasmus triefte überdeutlich aus seinen Worten und wollte so gar nicht zu ihm passen. „Hey, vielleicht mache ich das jetzt immer so, du musst ständig bereit sein“ blaffte er sie an und stieß hörbar die Luft aus seiner Nase aus. Sie musste nicht wissen, dass er es wirklich genossen hatte. Und dass er es gerne wiederholen würde. Er wollte es doch kaum selber wahrhaben, denn so sollte es einfach nicht sein. Und die Vernunft, die er doch eigentlich zu seinen größten Stärken zählen konnte, schien sich im Augenblick des Kusses in Luft aufgelöst zu haben. Natürlich wusste er, dass er jetzt genauso dumm war wie sie. Sicher wusste er auch, dass er ihr hätte vorschlagen sollen, diesen absurd glückseligen Moment einfach zu vergessen. Aber er konnte es nicht. Kein weiteres Wort verließ seinen noch immer bebenden Mund.
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wie die sonne den kometen
wegzieht von seiner bahn
wie der felsblock zu dem fluss sagt
fließ woanders hin
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wie ein schiff erfasst vom sturmwind,
das die richtung verliert
und ein nie gesehnes ufer gewinnt
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