BAS-LAG: Das China Miéville-Forum
Das Forum für Fans von China Miéville und seiner Romane
 
Sie sind nicht eingeloggt.
LoginLogin Kostenlos anmeldenKostenlos anmelden
BeiträgeBeiträge MembersMitglieder SucheSuche HilfeHilfe StatStatistik
ChatChat VotesUmfragen FilesDateien CalendarKalender BookmarksBookmarks
Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser

Anfang   zurück   weiter   Ende
Seite: 1, 2
Autor Beitrag
Seblon
Administrator

Beiträge: 354
Ort: Bochum/NRW


New PostErstellt: 15.08.05, 04:36  Betreff: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser  drucken  Thema drucken  weiterempfehlen

Vor einigen Wochen habe ich eine sehr interessante Diskussion innerhalb des Forums der www.welt-der-fantasy.de zum Thema anspruchsvolle phantastische Literatur angestoßen, wobei ich u.a. auch auf Miéville aufmerksam gemacht wurde.

Ich möchte hier gerne mal die Liste von Literaturtipps posten, die ich dort bekommen habe. Vielleicht kennt ja der eine oder andere etwas von der Liste und kann etwas dazu sagen.

China Miéville - Perdido Street Station und Die Narbe/Leviathan
Jeff Vandermeer - Die Stadt der Heiligen und Verrückten
Neil Gaiman (vor allem Kurzgeschichten)
Peter S. Beagle - Es kamen drei Damen im Abendrot
Guy Gavriel Kay
Mervyn Peake - Gormenghast-Trilogie
Charles Finney - Doktor Laos großer Zirkus
Barry Hughart - Die Meister-Li-Romane (drei Bände)
Jack Vance - Lyonesse-Trilogie (wird im Herbst bei Area neu aufgelegt)
Robert Holdstock - Mythenwald / Tallis im Mythenwald
John Myers Myers - Die Insel Literaria
James Branch Cabell - Die Chroniken von Poictesme
Geoff Ryman - Der Orden der Frauen
Gene Wolfe - Das Buch der Neuen Sonne (4 + 1 Bände)
John Crowley - Little, Big / Ægypten


noch ein paar deutsche:
Markolf Hoffmann - Zeitalter der Wandlung
Tobias Meißner - Das Paradies der Schwerter oder Im Zeichen des Mammuts
Christian von Aster - Der Wortenhort

Angeschafft habe ich mir bisher die Romane von (natürlich!) Miéville, Barry Hughart und Robert Holdstock.

Es grüßt



[editiert: 21.08.05, 19:07 von Seblon]
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden Website dieses Mitglieds aufrufen
Gast
New PostErstellt: 15.08.05, 09:22  Betreff: Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser  drucken  weiterempfehlen

Von Jeff VanderMeer habe ich bislang Veniss Underground gelesen und gerade City of Saints and Madmen angefangen - wärmstens zu empfehlen. VanderMeers Plots sind weitaus weniger verzwickt aus Mievilles und enden oft nicht ganz so trostlos - insgesamt würde ich sagen, VanderMeer ist etwas "romantscher". Dafür ist er stilistisch noch sehr viel abgefahrener, etwas selbstreflexiver, würde ich sagen. In Veniss Undergrund gibt es zum Beispiel eine Passage von etwa 50 Seiten, die aus Sicht einer Hauptfigur, aber in der 2. Person geschrieben ist. Das erzeugt einen seltsam traumartigen Erzähleffekt, und er hält es wirklich gut durch!

Dann kenn ich noch die ersten vier Bände von Gene Wolfes Book of the New Sun - eines meiner absoluten Lieblingsbücher, man muss sich allerdings Zeit dafür nehmen, es ist nicht ganz leicht. Der Zyklus ist bis obenhin vollgestopft mit literarischen Anspielungen, und auch hier ist die Erzählperspektive verzwickt - das ganze Buch wird im Rückblick von der Hauptfigur erzählt, die ein perfektes Gedächtnis hat. Aber nach und nach hat man den Eindruck, dass sie vielleicht sachen auslässt oder schönt ... Jedenfalls eine faszinierende, Pseudomittelalterliche Zukunftswelt, in der Technologie und Magie verschwimmen und für die Wolfe eine unglaublich komplexe, oft sehr ironische Mythologie verfasst.

Und Gormenghast - darauf beziehen sich ja alle "New Weirds" irgendwie, aber ich habs immer noch nicht gelesen ...
nach oben
Jakob
Neuling

Beiträge: 9

New PostErstellt: 15.08.05, 09:24  Betreff: Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser  drucken  weiterempfehlen

Sorry, Gast war ich - hab vergessen mich einzuloggen.

nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
molosovsky
Experte

Beiträge: 230
Ort: Ffm


New PostErstellt: 15.08.05, 12:59  Betreff: Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser  drucken  weiterempfehlen

Hi Seblon & alle.

Tjaaaa, die ›anspruchsvolle‹ Fantasy, oder Phantastik.

Dazu vorweg eine kleine, herbe Anekdote. Ich fisch hier in Ffm gerne in den exquisiten Remitenden-Rampen nach Schnäppchen und Geschenken. So brachte ich einem Fantasy-Freund »PSS« und »The Scar« als Panmacmillan-Taschenbücher zum Geburtstag mit. Einige Monate später trafen wir uns, ich frug nach seiner Miéville-Lektüre und er meinte: »Ach, ich habe nach einem Drittel aufgegeben. Da weiß man ja gar nicht, was das für eine Welt sein soll, SF oder Fantasy.« — Was 'ne herbe Enttäuschung. Dieser Freund schwört übrigens Stein und Bein für Martin und seinen Feuer&Eis-Zyklus.

Aus polemischer Schlechthinigkeit heraus nenne ich die schlechte Fantasy mittlerweile ›Bullshit-Bingo-Fantasy‹, wobei eine gute Bullshit-Liste Diana Wynne Jones »The Tough Guide to Fantasyland« liefert. Treffen mehr als 5 Einträge dieses ›Reiseführers‹ auf ein (nicht parodistisch gemeintes) Fantasy-Buch zu, dann kann man es wohl getrost kicken.

»Nostalgische Träumerein einer verklärten Vergangenheit« ist wohl das allgemeinste Merkmal der seichten Fantasy — oder auch entsprechender historischer Romane. So finde ich »Die Säulen der Erde« von Ken Follett als Hörbuch ganz nett, würde aber so einen Ziegel niemals als Buch lesen. Der Übergang zwischen historischen Romanen und Fantasy ist für mich eh ziemlich fließend. Zum Beispiel »Der Glöckner von Notre-Dame« von Viktor Hugo ist ein Allzeit-Lieblingsbuch von mir und läßt sich ohne viel Hirnverrenkung als 1-A-Fantasy lesen. Und Neal Stephenson hat mit seinem beeindruckenden »Barock-Zyklus« gezeigt, wie aufregend ein historischer Roman sein kann, wenn er mit den Interessen eines SF-Nerds geschrieben wurde; auch der Fantasy-Faktor ist im »Barock-Zyklus« sehr hoch, immerhin gehts für einen Handlungsstrang einmal um die Welt (Exotik in Kairo, Indien, Japan, Mittelamerika) und Alchemisten, Naturforscher, Satanisten und Jesuiten geben ihr Ständchen als Magier-Charakterklassen.

Je stärker ich bei einem Fantasy-Buch erkennen kann, daß historische oder exotische Kulturen vereinfacht verwurstet, um so uninteressanter wird es für mich. Als Beispiel führ ich da gerne Tad Williams an. Eine Ausnahme ist aber das Ehepaar Eddings, deren »Belgariade« und »Malloreon« ich durchaus genossen habe (wegen der Soap-Qualität und flotten Dialoge).

•••
C. S. Lewis hat folgenden Vergleich gemacht. Die vielen Leser gebrauchen Bücher wie Fahrkarten oder Streichhölzer. Einmal benutzen und vergessen und nicht groß drüber babbeln. Die wenigen Leser öffnen sich Büchern, lesen sie auch mehrmals, babbeln gerne darüber.

Nicht nur Fantasy-Autoren beliefern die Leser erster Art. Wir klagen aber denke ich zurecht, daß die Mode der Fantasy besonders von dieser Art von Pauschal-Tourismus-Anderswelten geprägt (versaut) wurde. Mit Miéville, Burst und anderen der neuen Autoren wurde aber die Gegenbewegung des Pendels eingeleitet.

Ich denke, daß die Befremdung Tolkiens über seine Hippie-Leser dies gut illustriert. Für Tolkien war sein Mittelerde-Werk zu nicht geringem Teil ein ernst gemeinter Ausdruck seines (katholischen) Glaubens, für seine Hippie-Leser aber mehr eine toffte Exotik, die eine willkommene Ergänzung zur damaligen Folkmusik-Renaissance und Wellness-Esoterik/Religions-Bewegung bot. Nicht zu vergessen die demütige Natur- und Klang-Mysthik Mittelerdes, die ›sogar‹ mir Tolkien-Skeptiker was gibt.

•••
LINKS:
• Im SF-Netzwerk-Forum habe ich zu meiner bevorzugten Fantasy gepostet.
Mein Beitrag in Thread »Gute und schlechte Fantasy« im Forum von der »Die Zeit«.

Grüße
Alex / molosovsky


[editiert: 15.08.05, 13:01 von molosovsky]
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden Website dieses Mitglieds aufrufen
Seblon
Administrator

Beiträge: 354
Ort: Bochum/NRW


New PostErstellt: 15.08.05, 17:42  Betreff: Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser  drucken  weiterempfehlen

Ich habe so einige formale Kriterien, die für mich einen phantastischen Roman, zu einem guten bzw. anspruchsvollen phantastischen Roman werden lassen, sie lauten:

  • die Sprache wird gekonnt als Stilmittel genutzt
  • Vermeidung von alten schwarz-weißen Märchen-Klischees
  • formale und inhaltliche Originalität
  • Charaktere mit Tiefgang und Ecken und Kanten
  • Nachvollziehbare Motivation der Figuren
  • auch Nebenfiguren sind mehr als blosse Staffage und Bühnenbild, sondern haben ihre eigenen (auch unausgesprochenen!) Geschichten
  • liebevoller Detailreichtum (z.B. bei der Beschreibung von Orten)
  • es gibt einen Subtext, der uns vielleicht auch nur ein klein wenig über uns selbst oder unsere Welt sagt

Es muss sich dabei gar nicht immer unbedingt um ein Gegenentwurf zu Tolkien handeln, wobei dass aber auch ein guter Ausgangspunkt sein kann.




nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden Website dieses Mitglieds aufrufen
Gast
New PostErstellt: 18.08.05, 11:31  Betreff: Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser  drucken  weiterempfehlen

Ich will hier gar nicht über die Zweiteilung von "anspruchsloser" und "anspruchsvoller" Fantasy sinnieren, aber auffällig finde ich, dass ein großer Teil der "interessanten" Fantasy der letzten Jahre (Mieville, VanderMeer, Mary Gentle) vor allen Dingen von der Neuzeit udn der Moderne fasziniert ist, und nicht, wie die klassische Fantasy, von einem idealisierten Mittelalter. D.h. diese "neueren" Fantasy (die allerdings auch nicht wirklich neu ist, siehe Peake) erfreut sich - oft auf kritische Art, aber dennoch erfreut sie sich - an Industrialisierung, an Eisenbahnen, an kruder Wissenschaft, an aufbrechenden sozialen Konflikten. Im Herrn der Ringe ist die Industrialisierung eine reine Abgrenzungsfolie, eine zerstörerische Kratf, die von Sauron und Saruman freigesetzt wird. In PSS leben die Figuren in einer industrialisierten Welt mit all ihren Schrecken und Wundern ... Insofern sind Insbesondere Mieville und VanderMeer wohl wirklich "Postmodern" zu nennen, gerade weil sie von der frühen Moderne fasziniert sind und sie in eine Mythologie umwandeln. Die Mythisierung von Neuzeit und moderne erscheint mir jedenfalls im Moment als das interessantere Projekt als die Mythisierung des Mittelalters.

VanderMeer City of Saints and Madmen erscheint übrigens Ende August auf deutsch bei Klett-Cotta in wunderschöner Aufmachung. Ich hab das erste Viertel auf Englisch gelesen und kann das Buch bislang eigentlich nur jedem Mieville-Leser ans Herz legen. Das Buch ist kein Roman, sondern eine Sammlung von Novellen, Stories, und vor allen Dingen historischen und wissenschaftlichen Abhandlungen (die alles andere als trocken sind) über die Stadt Ambergris (dt. Ambra). Sehr viel schwarzer Humor, stilistisch streckenweise ausgesprochen exmerimentell (und von daher sicher nicht an jedem Punkt gelungen), aber von seltener Faszinationskraft. Die deutsche Übersetzung ist von Erik Simon, was für Kongenialität garantieren sollte.
nach oben
Jakob
Neuling

Beiträge: 9

New PostErstellt: 18.08.05, 11:32  Betreff: Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser  drucken  weiterempfehlen

ächz, schon wieder ich da oben. ich muss jetzt mal auf "automatisch einloggen" umstellen ...

[editiert: 18.08.05, 11:32 von Jakob]
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
molosovsky
Experte

Beiträge: 230
Ort: Ffm


New PostErstellt: 18.08.05, 12:25  Betreff: Vor-Modern und Modern  drucken  weiterempfehlen

Hi Jakob.

Du schriebest:

> …, dass ein großer Teil der "interessanten" Fantasy der letzten Jahre
> (Mieville, VanderMeer, Mary Gentle) vor allen Dingen von der Neuzeit
> udn der Moderne fasziniert ist, und nicht, wie die klassische Fantasy,
> von einem idealisierten Mittelalter. D.h. diese "neueren" Fantasy (die
> allerdings auch nicht wirklich neu ist, siehe Peake) erfreut sich -
> oft auf kritische Art, aber dennoch erfreut sie sich - an
> Industrialisierung, an Eisenbahnen, an kruder Wissenschaft, an
> aufbrechenden sozialen Konflikten.

Ich benamse den Unterschied zwischen ›nostalgischer, konservativer‹ und
›progressiver, moderner‹ Phantastik so.

Die erste Gruppe klammert sich an die alten Vorstellungen eines
hierarchisch-konzentrischen Weltbildes: DIE WAHRHEIT oder Gott im
Zentrum um das sich in natürlicher Ordnung (womöglich entworfen von
einem intelligenten Desinger) die Einzelteile der Welt ordnen. Platon
schrieb vom Kosmos als einem Überwesen, dessen Organe die größeren
Kulturgruppen (Städte, Länder) und dessen einzelnen Zellen die
Individuuen sind. Im Fortgang des Mittelalters kristallisierte sich als
ein heikles Problem dieser Philosophie der Kontrast zwischen äußerer
und innerer Welt heraus. Bis heute schwelt der Konflikt darüber, wo man
DIE WAHRHEIT besser sucht: in der äußeren, materiellen Realität (die
Schöpfung als größtes und wundersamstes Buch Gottes), oder in der
Wirklichkeit unseres Innenlebens (der Stimme des Genius, Gewissenes,
der Schutzengel die einen direkten Draht zu Gott pflegen, siehe
Konflikt Katholizismus und Reformation).

Die zweite Gruppe bezweifelt solche einfachen Wahrheitsarchitekturen,
und versucht die Dinge im jeweiligen Kontext zu deuten. Wahrheiten
werden in Theorien umschrieben und gelten bis zur Widerlegung als
Arbeitsgrundlage und nicht als endgültig. Fundamentalisten der erstern
Fraktion nennen das schon mal ›Diktatur des Relativismus‹ (O-Ton Papst
Benedikt).

LINKTIP: In der aktuellen August-Nummer von
Le Monde
Diplomatique
findet sich ein exzellenter Essay von Jan Philipp
Reemtsma: »Muss man Religiosität respektieren? – Über Glaubensfragen
und den Stolz einer säkularen Gesellschaft«.
Ab September wird dieser Essay freigeschaltet.

Heutezutage zeigt sich der Konflikt wohl am deutlichsten im Ringen der
verschiedenen Darwindeuter untereinander (was ist der gewichtigere
Faktor zum Überleben der Arten: Kampf oder Kooperation?), sowie
zwischen den Darwinisten und den Kreationisten.

Die Herausforderung für Nebenschöpfungs-Phantastiker liegt darin, daß
eine Darstellung der Segnungen, Plagen und Lebenswelten der Moderne
schwuppdiwupp um einiges komplexer gerät, als altvordere Ordnungen mit
fixen Grenzen zwischen Gut & Böse oder Schwarz & Weiß (Manichäismus).

Grüße
Alex / molosovsky

August-Bebel-Str. 10
D — 65933 Frankfurt/M.
http://molochronik.antville.org
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden Website dieses Mitglieds aufrufen
Lomax
Vielschreiber

Beiträge: 68


New PostErstellt: 18.08.05, 12:51  Betreff: Re: Vor-Modern und Modern  drucken  weiterempfehlen

Ich sehe die "Stärke" einer "modernen" Fantasy eher in der Schwäche der "Mittelalter-
Fantasy": Letztere ist halt zunehmend degeneriert und zu einem Zerrbild verkommen,
wo immer unverhohlener Kitsch zelebriert wird und man nichts weiter tut, als moderne
Figuren mit ihren Problemen in eine Reißbrett-Romantik zu verschieben. Das muss
nicht so sein. Das war es nicht und ist es auch jetzt nicht in allen Büchern - nur
übertüncht die Masse an schlechten Büchern das mitunter.
Im Guten kann die rückwärtsgewandte Phantastik durchaus etwas leisten, nämlich
indem sie durch das Betonen des Fremden selbst wieder den Relativismus unseres
Wertekanons deutlich macht; oder indem sie Grundfragen und Grundprobleme des
Menschen am Modell herausarbeitet.

Die "moderne" Fantasy hat heute einen leichteren Stand, zumindest was die Produktion
gehaltvollerer Bücher angeht, zum einen, weil sich eben noch nicht alle Geier darauf
gestürzt haben; zum anderen auch, weil sie halt mit den gewünschten modernen
Figuren immer noch stimmigere Gesamtbilder erlaubt.

Insofern halte ich den von Molosovsky skizzierten Unterschied für zu kurz greifend, weil
der die Probleme vereinfacht. Das zeigt sich beispielsweise auch an dem Beispiel
zwischen "Reformation" und "Katholizismus":

> darüber, wo man DIE WAHRHEIT besser sucht: in der äußeren, materiellen
> Realität (die Schöpfung als größtes und wundersamstes Buch Gottes),
> oder in der Wirklichkeit unseres Innenlebens (der Stimme des Genius,
> Gewissenes, der Schutzengel die einen direkten Draht zu Gott pflegen,
> siehe Konflikt Katholizismus und Reformation).

... denn auch dieser Konflikt lässt sich nicht so einfach auf einen Widerstreit zwischen
den beiden Polen reduzieren. Denn zum einen betont die Reformation ja stärker die
Eigenverantwortlichkeit des Gewissens, während der Katholizismus durchaus auf
"äußere" Realität setzt. Auf der anderen Seite liegt im Kern dieses Konfliktes genau die
entgegengesetzte Einstellung: Während die Reformation sich letztlich auf die Bibel als
einziges Zeugnis Gottes beruft, also auf ein äußerlich greifbares, unwandelbares
Faktum, stützt sich der Katholizismus auf die Offenbarung Gottes in der lebenden
Kirche als höchster Autorität, also gerade auf die Wahrnehmung und das Innenleben
einer "Gemeinschaft der Gläubigen".

Also, auf verschiedenen Ebenen verlaufen die Standpunkte in dieser Frage durchaus
konträr auch zu eigenen Einstellung in anderer Hinsicht.

> Die zweite Gruppe bezweifelt solche einfachen Wahrheitsarchitekturen,
> und versucht die Dinge im jeweiligen Kontext zu deuten. Wahrheiten
> werden in Theorien umschrieben und gelten bis zur Widerlegung als
> Arbeitsgrundlage und nicht als endgültig. Fundamentalisten der erstern
> Fraktion nennen das schon mal Diktatur des Relativismus (O-Ton Papst
> Benedikt).

... denn da hat der "Relativismus" das Problem, dass er selbst nicht leugnen kann, aus
historischer Perspektive nur Ausdruck eines Zeitempfindens zu sein; letztlich also nicht
wirklich eine neue Sicht, die den alten, absoluten Wahrheitsmodellen diametral
gegenübersteht, sondern nur eine neue Mischung der allgemein menschlichen Fragen,
die neben den alten Modellen steht und durchaus durch einen Austausch und eine
Variation gewinnen kann. Sprich: moderne, kontextuelle Wertedeutungen können
durchaus deutlicher herausgearbeitet werden, wenn man sie beispielsweise in
"konservativer" Fantasy einbindet und auf die Probe stellt. Denn auch unsere Sicht, die
die alten Sichten jetzt prüft und abtut, wird irgendwann einmal geprüft und abgetan
werden; und noch ist nicht entschieden, aus welchem der zahllosen probierten Modelle
der Geschichte die "künftige" Sicht stärker schöpfen wird.
Die vornehmste Aufgabe einer literarischen Fantasy sollte es eigentlich sein, sich
einem solchen Wertekanon komplett zu entziehen und die Modelle frei darzustellen und
zu variieren, das Experiment zu wagen, zu dem keine andere Gattung in der Lage ist.
In welchem Umfeld das besser gelingt, hängt sicher sowohl von den Problemen ab,
die man darstellen will, wie auch vom literarischen Umfeld - das im Moment für
"Mittelalter-Fantasy" nicht eben viel versprechend ist.


____________________
Endlich bin ich auch dabei: Lomax' Weblog lockt ins Lohmannsland - www.lohmannsland.de
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
molosovsky
Experte

Beiträge: 230
Ort: Ffm


New PostErstellt: 18.08.05, 18:46  Betreff: Re: Vor-Modern und Modern  drucken  weiterempfehlen

Hi Lomax, hallo alle.

Danke für Deine Sicht des ›Problems‹. Du schaffst es immer wieder, mich
ganz schön demütig erstmal nachdenken zu lassen, bevor ich poste.

> … "Mittelalter- Fantasy": Letztere ist halt zunehmend degeneriert und
> zu einem Zerrbild verkommen,
> wo immer unverhohlener Kitsch zelebriert wird und man nichts weiter
> tut, als moderne
> Figuren mit ihren Problemen in eine Reißbrett-Romantik zu verschieben.

Die große Tragik dabei ist, daß zuviel Happy-Ends und Kitsch allüberall
(zumindest) mir die Laune für zartere, sentimantalere und
nostalgischere Geschichten austreiben.
Bas-Lag-bezogen: Ich bewundere Miéville für seinen Wagemut, wenn er den
Lesern nach 800 Seiten Monsterhatz am Ende von »PSS« eine denkbar
bittere Pille serviert.

> Im Guten kann die rückwärtsgewandte Phantastik durchaus etwas leisten,
> nämlich
> indem sie durch das Betonen des Fremden selbst wieder den Relativismus
> unseres
> Wertekanons deutlich macht; oder indem sie Grundfragen und
> Grundprobleme des
> Menschen am Modell herausarbeitet.

Du kannst aber auch ganz schon gestelzt zurückgeben :-)
Wenn ich mich richtig erinnere, dann schätzt Du »Gormenghast« von Peake
– wie ich auch. Ich illustriere mir Dein ›Betonen des Fremden‹ mit den
grotesk-satierischen Figuren von Peake, dem Gegensatz zwischen den
Schloßbewohnern und Holzschnitzer-Dörflern.
Aber was verstehst Du unter ›Grundprobleme des Menschen am Modell
herausarbeiten‹ in der Fantasy. In der SF fällt mir da sofort P. K.
Dick mit seiner großen Frage »Was ist menschlich?« ein, und wie auf
mancherlei Art diese Frage verhandelt wird (Erinnerungen, Replikanten,
Mutanten, Zwitterwesen).

> Insofern halte ich den von Molosovsky skizzierten Unterschied für zu
> kurz greifend, weil
> der die Probleme vereinfacht. Das zeigt sich beispielsweise auch an
> dem Beispiel
> zwischen "Reformation" und "Katholizismus":

Klar hab ich vereinfacht. Ich halte zwar nicht viel von Hegel, aber er
stellt ganz gut dar, wie mit einer dialektischen Dynamik ein
Schwarz-Weiß-System zu etwas komplexen wird. Die Welt ist immer nur so
verständlich, wie man sie sich durch einen Betrachtungsrahmen blickend
vereinfachen kann. Vielleicht bring ich meinen Punkt besser ins Ziel,
wenn ich aus dem Reich der graphischen Abbildungsverfahren die
Zentralpersperspektive (Sicht von einem fixen Blickpunkt mit einem
Auge) und etwas moderneres wie den Kubismus (multiperspektivische
Collage aus verschiedenen Ansichten) gegenüberstelle.
Lins Gedanken über Isaacs Meinung zur optischen Wahrnehmung der Khepri
fallen mir da ein (»PSS«, Kapitel 2).


> > siehe Konflikt Katholizismus und Reformation).
>
> ... denn auch dieser Konflikt lässt sich nicht so einfach auf einen
> Widerstreit zwischen
> den beiden Polen reduzieren. Denn zum einen betont die Reformation ja
> stärker die
> Eigenverantwortlichkeit des Gewissens, während der Katholizismus
> durchaus auf
> "äußere" Realität setzt.

Verantwortung nur gegenüber dem Gewissen (= Stimme Gottes in jedem
Menschen) im Gegensatz zur Ausrichtung nach den äußeren Gewalten (=
dies ist die beste aller Welten, find Dich damit ab oder fahr zur
Hölle).

> Auf der anderen Seite liegt im Kern dieses Konfliktes genau die
> entgegengesetzte Einstellung: Während die Reformation sich letztlich
> auf die Bibel als
> einziges Zeugnis Gottes beruft, also auf ein äußerlich greifbares,
> unwandelbares
> Faktum, stützt sich der Katholizismus auf die Offenbarung Gottes in
> der lebenden
> Kirche als höchster Autorität, also gerade auf die Wahrnehmung und das
> Innenleben
> einer "Gemeinschaft der Gläubigen".

Nun, der große Verlust für die lebende katholische Kirche war ja
(meiner Ansicht nach) der Verlust der Deutungshoheit des heiligen
Buches (Latein!). Auch damals also schon Inforwar satt :-)

> Die vornehmste Aufgabe einer literarischen Fantasy sollte es
> eigentlich sein, sich
> einem solchen Wertekanon komplett zu entziehen und die Modelle frei
> darzustellen und
> zu variieren, das Experiment zu wagen, zu dem keine andere Gattung in
> der Lage ist.

D'accord! ›Komplett entziehen‹ ist ein nobles Ziel, solange man sich
klar ist, daß man es nicht wirklich, 100 Pro, absolut erreichen kann.
Grüße
Alex / molosovsky
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden Website dieses Mitglieds aufrufen
Sortierung ndern:  
Anfang   zurück   weiter   Ende
Seite: 1, 2
Seite 1 von 2
Gehe zu:   
Search

powered by carookee.com - eigenes profi-forum kostenlos

Design © trevorj